28

Es braucht seine Zeit, aber während Jo sich allmählich aus den Tiefen der Finsternis hochkämpft, rückt Neals Prozess immer näher. Laura sagt, die Polizei hätte ausreichend Beweise, um den Vorwurf der Körperverletzung aufrechtzuerhalten, wohingegen eine Anklage wegen Mordes immer noch fraglich sei. Es lägen mehrere Aussagen vor, was an jenem Abend vorgefallen sei, außerdem seien die Dateien auf dem Laptop mittlerweile ausgewertet, allerdings fehle die Mordwaffe nach wie vor.

»Wie es aussieht, ist er der Hauptverdächtige«, sagt sie. »Und du ahnst ja nicht, wie viele Leute es gibt, die ein Hühnchen mit ihm zu rupfen haben, von Arbeitskollegen bis hin zu ehemaligen Geliebten. Aber die Polizei braucht handfestere Beweise.«

Sie mustert mich. »Es sind so viele, Kate. Offenbar hat Neal jede Menge Leute vor den Kopf gestoßen. So was kommt vor, insbesondere bei diesen einflussreichen Machttypen. Sie halten sich für unbesiegbar, bis sie eines Tages einen Schritt zu weit gehen. Und dann holt sie die Vergangenheit gnadenlos ein.«

Ihre Argumentation ist nachvollziehbar, trotzdem bin ich irritiert. »Ich habe Mühe, diesen skrupellosen Machtmenschen mit dem Mann unter einen Hut zu bringen, der Waisenhäuser aufbaut.«

»Na ja, auch dort hatte man die Nase voll von ihm. Er hat hingeschmissen, schon vor ein paar Monaten, klammheimlich. Irgendetwas muss vorgefallen sein, aber bisher lässt niemand etwas heraus.«

»Aber die Auszeichnung«, sage ich verwirrt. »Er wurde doch erst kürzlich für einen Preis nominiert. Er und Jo wollten eigentlich gemeinsam zur Verleihung fahren, übers Wochenende. Aber am Ende ist er ohne sie hingegangen. Sie hatte sich volllaufen lassen.«

»Was? Das wusste ich ja gar nicht.«

»Offenbar hat sie den ganzen Nachmittag schon getrunken, allerdings weiß ich nicht genau, weshalb. Als ich sie aufgegabelt habe, war Neal schon weg.«

Laura schüttelt den Kopf. »Aber wenn er das Waisenhausprojekt offiziell hingeschmissen hat, wäre er doch nicht nominiert worden, oder? Vielleicht war es ein Preis für sein Lebenswerk. Hat er ihn denn bekommen?«

Ich rufe mir jenen Sonntagmorgen ins Gedächtnis, als er früher als erwartet nach Hause kam. »Er hat nichts erwähnt.«

Meine Gedanken überschlagen sich. »Was«, fahre ich langsam fort, »wenn all das bloß Fassade wäre? Wenn er sie abgefüllt hätte, um ihr die Wahrheit nicht sagen zu müssen – dass sie ihn gefeuert haben. Dann konnte er so tun, als würde er allein hingehen, während er in Wirklichkeit das Wochenende mit einer anderen Frau verbracht hat.«

Laura runzelt die Stirn. »Herauszufinden, ob er dort war oder nicht, wäre ein Kinderspiel. Aber für den Mord an Rosie spielt es keine Rolle.«

»Aber für Jo spielt es durchaus eine Rolle. Er hat sie fertiggemacht. Sie hatte schreckliche Gewissensbisse, weil sie ihm den Abend versaut hat. Es würde ihr vielleicht helfen, wenn sie wüsste, dass er all das inszeniert hat.«

»Wer hätte das gedacht?« Wieder schüttelt Laura den Kopf. »Da glaubt man immer, man könnte in die Leute hineinsehen, herausfinden, wie sie ticken. Aber manchmal hat man nicht die leiseste Ahnung, was in ihnen vorgeht.«

Nun, unmittelbar vor dem Prozess, werden wieder allerlei Spekulationen laut, und die Presse gräbt jedes Körnchen Schmutz aus, das sie nur finden kann – eine hässliche Spur aus Affären und systematischen Übergriffen auf Frauen, die erst jetzt beschlossen haben, mit ihren Vorwürfen an die Öffentlichkeit zu gehen. Selbst Jos Krankheitsgeschichte wird hervorgekramt. All das lässt seinen sorgsam aufgebauten Ruf wie ein Kartenhaus einstürzen.

»Gott, was für ein mieser Dreckskerl.« Rachael ist zutiefst erschüttert. »Und Joanna muss völlig den Verstand verloren haben, bei so einem Mann zu bleiben. Dazu hat sie doch keiner gezwungen, oder?«

»Sie hat ihn geliebt«, sage ich leise.

Die haltlosen Gerüchte, Rosie sei schwanger gewesen, geben mir den Rest. Auf einen Schlag habe ich genug von all dem Klatsch, den Spekulationen, den Lügen.

Jo ist zwar immer noch labil, hält sich aber tapfer. »Es sind alles nur Lügen. Glaubst du nicht auch, ich hätte es gewusst? Jeder kennt doch die Presse. Aber ich lasse all das nicht an mich herankommen.«

Wie immer macht sie alles mit sich allein aus.

Vielleicht hat das Universum entschieden, dass ich eine kleine Verschnaufpause gebrauchen kann. Denn auf einmal erwachen meine Lebensgeister, als ich gefragt werde, ob ich ein neues Pferd in Pflege nehmen kann, ein ehemaliges Rennpferd, das ohne eigenes Zutun plötzlich heimatlos geworden ist. Und so tritt Shilo in mein Leben, zaghaft und argwöhnisch, da er sich vermutlich fragt, wie lange er wohl bleiben darf, bis er ein weiteres Mal aus seiner gewohnten Umgebung gerissen und in einen anderen Stall gebracht wird. Mit seinem ehrlichen Blick und seiner ruhigen Art mag ich ihn auf Anhieb.

Überraschung Nummer zwei ist Grace’ unerwarteter Besuch.

»Ich dachte, du kommst erst nächste Woche«, rufe ich und bemerke den fremden Wagen im Hof, als ich sie in die Arme schließe. »Wer hat dich hergefahren?«

Sie löst sich von mir und wird rot. Ihre Augen funkeln.

»Du hast doch gesagt, du würdest Ned gern kennenlernen, Mum, erinnerst du dich? Tja, bitte schön.«

Er kommt herein – ein großer, schlaksiger Kerl mit zerwuscheltem Haar, tief auf den Hüften sitzenden Jeans und einem zeltartigen Kapuzenshirt – und streckt mir die Hand entgegen.

»Hi, Mrs. McKay. Ich hoffe, es ist okay … ich hab zu Grace gesagt, sie soll vorher anrufen, aber Sie wissen ja selbst, wie sie ist …«

Er wirkt ein bisschen tollpatschig, scheint aber sehr nett zu sein und grinst, als Grace so tut, als würde sie ihm einen Klaps verpassen. Ich schüttle ihm die Hand. Ebenso wie Shilo mag ich ihn auf Anhieb.

»Allerdings. Hi, Ned. Sag doch Kate zu mir. Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Was für eine tolle Überraschung!« Ich wende mich Grace zu. »Wie lange bleibst du?«

»Übers Wochenende? Wenn das in Ordnung für dich ist? Danach wollten wir für ein paar Tage zu Neds Eltern. Aber zu Ostern bin ich definitiv hier, Mum.«

Einen Augenblick fühle ich mich beklommen, als mir dämmert, dass sie beide hier übernachten werden. Aber wo? In getrennten Zimmern? In Grace’ Mädchenzimmer? Ich bin zum ersten Mal mit dieser Frage konfrontiert und weiß spontan nicht, was ich sagen soll. Aber eigentlich können die beiden das unter sich ausmachen.

Der Besuch von Grace und Ned und Shilo, der draußen mit meinen Pferden auf der Koppel grast, helfen mir, mein lang ersehntes inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Ich tauche wieder in meine gewohnte Welt mit ihren vertrauten Abläufen ein – bereite Mahlzeiten zu, räume auf und mache sauber. Endlich bin ich wieder von Menschen umgeben.

Nach einem improvisierten Mittagessen aus selbst gemachter Suppe mit aufgetautem Brot gehen Grace und ich zu den Pferden. Ned bleibt im Haus, um sich ein Footballspiel anzusehen. Ich unternehme einen halbherzigen Versuch, ihn zum Mitkommen zu überreden, und danke ihm im Stillen, als er ablehnt und uns damit ein wenig Zeit zu zweit verschafft.

Als wir näherkommen, heben die Pferde die Köpfe und mustern uns. Grace bleibt stehen.

»Es ist so seltsam, dass er nicht mehr da ist«, sagt sie leise.

Nachdenklich betrachten wir die Pferde. Zappa hatte eine einzigartige majestätische Ausstrahlung, und ich weiß, dass auch Grace es gespürt hat. Es kommt nicht oft vor, dass man einem Pferd begegnet, das einen so sehr berührt.

»Komm«, sage ich zu Grace. »Ich will dir Shilo vorstellen.«

Sie wischt sich eine Träne ab und lächelt tapfer. Oz wiehert und trabt auf uns zu.

»Sie haben mir wirklich gefehlt.« Grace ist spürbar emotionaler als sonst, und ich frage mich, ob hier noch eine Premiere am Start ist – ist meine Tochter zum ersten Mal verliebt?

»Seine Besitzerin ist krank, und keiner wollte ihn.« Shilo kommt herüber. Ich streichle seine Nüstern. »Sie hat Krebs. Keine Ahnung, wie schlimm es ist, aber er bleibt erst mal hier, bis wir Genaueres wissen.«

»Er ist süß.« Sie zögert. »Kann ich dich was fragen, Mum? Ist mit Dad alles in Ordnung? Ich dachte, er sei am Wochenende hier, aber als ich mit ihm telefoniert habe, hat er gemeint, er würde in York bleiben. Er klang irgendwie komisch.« Sie hält inne, und als sie, wie um sich rückzuversichern, nach meiner Hand greift, kommt sie mir wieder wie das zehnjährige Mädchen von damals vor, mit den wirren Locken und den roten Wangen.

Einen flüchtigen Moment lang überlege ich, wie es wäre, meiner Tochter sagen zu müssen, dass alles, was sie seit ihrer Kindheit kennt und immer für selbstverständlich gehalten hat, von den beiden Menschen zerstört wurde, von denen sie geglaubt hat, sie könne sich in jeder Lebenslage auf sie verlassen. Noch dazu nach der Sache mit Rosie.

»Das liegt nur an seiner Arbeit. Sie nimmt mehr Zeit in Anspruch, als er dachte.« Ich weiß nicht, ob sie die übertriebene Unbeschwertheit in meinem Tonfall registriert. »Wieso? Was hat er denn gesagt?«

»Nicht viel.« Grace schneidet eine Grimasse. »Genau das ist es ja. Sonst reißt er ständig seine miesen Witze und will tausend Dinge von mir wissen – du weißt ja, wie er ist –, aber diesmal hat er kaum ein Wort gesagt.«

Plötzlich ist es, als wäre die Sonne verschwunden, und ein Schauder überläuft mich. »Vermutlich war er nur müde. Er arbeitet sehr viel.«

Sie zuckt die Achseln. »Kann sein.«

»Mach dir keine Sorgen um uns Erwachsene, Grace. Wir kriegen das schon hin. Erzähl mir lieber von Ned!« Ich hake mich bei ihr unter, und das typische strahlende, warme GraceLächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.

»Was willst du denn wissen?«, fragt sie mit einem unvermittelten Anflug von Argwohn.

»Na ja, zum Beispiel, ob er nett zu dir ist. Bist du glücklich?«

Sie nickt. »Ich mag ihn wirklich gern. Und ich glaube, du wirst ihn auch mögen, wenn du ihn etwas besser kennst. Es macht dir doch nichts aus, oder, Mum? Dass er hier ist, meine ich.«

»Natürlich nicht. Ich finde es schön.«

Sie schweigt einen Moment, während sie im Geiste die Frage formuliert, die ich bereits erwartet habe. »Ist es okay für dich … wenn er in meinem Zimmer schläft?«

»Natürlich, Grace. Ich habe es mir ohnehin schon gedacht.«

»Was ist mit Dad?«

»Dad ist nicht hier, oder? Und selbst wenn … keine Angst, ich regle das schon.«

Obwohl ich genau weiß, wie Angus sich verhalten würde. Er würde diesen anderen Mann im Leben seiner Tochter genau unter die Lupe nehmen und unweigerlich zu dem Schluss gelangen, dass er nicht gut genug für sie ist, weil kein Mann jemals gut genug für sein kleines Mädchen sein wird. Ein netter Junge, aber denkst du nicht auch …?

»Cool.« Ihre Wangen röten sich, als sie sich umwendet. »Ich sollte wohl lieber wieder reingehen und sehen, ob alles in Ordnung ist.« Abermals wird sie zu dem kleinen Mädchen von früher, als sie Oz einen herzhaften Kuss gibt, auf dem Absatz herumwirbelt und davonstürmt.

Mein Tod ist dein
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