6

Der Tod legt seinen Schatten über uns, hüllt uns in Trauer und erfüllt unsere Welt mit Angst. Habe ich nun jenen Punkt im Leben erreicht, wo er mein ständiger Begleiter sein wird, halb im Verborgenen auf sein nächstes Opfer lauernd?

Während all unsere Fragen unbeantwortet bleiben, geht das Leben weiter. Die Sonne geht über den taufeuchten Weiden auf, begleitet vom gewohnt fröhlichen, lauten Morgenchor der Vögel. Meine Nachbarin Ella führt ihren schwarzen Labrador Gassi, die Post kommt, Angus fährt zur Arbeit – er hat einen wichtigen Termin mit dem Geschäftsführer einer US-Firma, der eigens wegen ihm aus Boston hergeflogen ist.

Den frühen Morgen, wenn die Sonne zwischen den Bäumen aufgeht, mag ich am liebsten. Nicht nur wegen der Stille, sondern auch wegen des sanften, klaren Lichts, das all den Farben eine besondere Tiefe verleiht, jeder Blüte, jedem Blatt, die erfrischt von der nächtlichen Kühle zu neuem Leben erwachen. Aber heute Morgen bemerke ich weder die frisch erblühte Rose, noch erfreue ich mich an dem warmen, sonnigen Geruch des Lavendels. Ich zupfe die letzten Erdbeeren ab, ohne davon zu kosten.

Eigentlich wollte ich gestern Jo anrufen, um zu hören, ob sie etwas braucht, aber es erschien mir zu aufdringlich. Alles ist plötzlich anders. Ich muss an Grace und ihre Freunde denken. Die Erkenntnis, dass ihnen allen jederzeit etwas zustoßen könnte, sogar praktisch vor der eigenen Haustür, setzt mir gewaltig zu.

»Ich hätte etwas tun müssen, Mummy. Ich hätte netter zu ihr sein, mich mit ihr anfreunden müssen.«

Dass Grace mich wie früher Mummy nennt und ihre Hysterie – ausgelöst durch Übermüdung, aber auch Zeichen aufrichtiger Bestürzung – sind nachvollziehbar. Aber nicht ihre Gewissensbisse.

»Du kannst nichts dafür, Grace. Selbst wenn ihr Freundinnen gewesen wärt, heißt das nicht, dass du es hättest verhindern können.«

»Aber das verdient sie nicht, Mum. Sie hat doch nichts getan.« Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich, als sie sich auf fremdes Terrain begibt, über Dinge spricht, mit denen sie keinerlei Erfahrung hat.

»Ich weiß.«

Ich kann nichts tun, als meine schluchzende Tochter in den Armen zu halten und unendlich dankbar zu sein, dass ich sie immer noch habe, sie berühren, ihre Stimme hören kann. Dass sie nicht verschwunden ist und ich nicht Jo bin, die einen so verheerenden Verlust verkraften muss.

»Ich gehe zu ihrer Beerdigung, selbst wenn ich deswegen die Uni versäume, Mum. Ich kann jetzt nicht einfach weggehen.«

»Das verstehe ich, Grace. Wir finden schon eine Lösung, mach dir keine Sorgen.«

»Alle wollen hin.« Ihre Augen sind gerötet, ihre Wangen tränenüberströmt. »Ich weiß, dass wir nicht die dicksten Freundinnen waren, aber das heißt doch nicht, dass wir nicht hinkönnen, oder?«

Menschen erleben Trauer völlig unterschiedlich. Sie zeigt sich auf verschiedene Art und Weise. Manche schweigen schockiert und verriegeln ihre Türen, weil sie sich die Trauer vom Leibe halten wollen. Andere begegnen einem mit ausdruckslosem Gesicht oder einem aufgesetzten Lächeln, hinter dem sich die schlimmsten Qualen verbergen.

Ich warte ein paar Tage länger als geplant, ehe ich bei Jo vorbeifahre, in der Annahme, vor verschlossener Tür zu stehen. Das wäre leichter gewesen, weil ich ihr die Blumen aus meinem Garten und Grace’ Karte einfach auf die Veranda hätte legen können. Dann hätte ich ihr nicht ins Gesicht schauen und ihrem schmerzerfüllten Blick begegnen müssen.

Mehrere Autos stehen auf der Straße, wo sonst nie viel Betrieb herrscht. Sind das Reporter? Obwohl ich ihre Blicke spüre, bleiben sie auf Abstand, als ich an die Tür klopfe.

»Jo …« Stumm breite ich die Arme aus. Obwohl ich mir zurechtgelegt habe, was ich sagen will, bringe ich kein Wort heraus.

Sie steht da, lässt sich einen Moment lang von mir in den Arm nehmen. Sie ist immer noch Rosies Mutter, denke ich. Und das wird sie immer bleiben. Nichts und niemand kann daran etwas ändern.

»Es tut mir so leid, Jo. Ich wollte nicht stören, dir nur die hier bringen.«

»Oh. Sie sind schön …« Sie nimmt die Blumen kaum wahr, als ich sie ihr gebe. Ihre Augen sind glasig, ihre Stimme tonlos von all den Beruhigungsmitteln. »Möchtest du reinkommen?«

»Nein, nein, ich will nicht stören, Jo.« Ich trete einen Schritt zurück.

»Bitte …« Ihre Stimme nimmt einen flehenden Unterton an, als sie den Blick die Straße entlangschweifen lässt. »Komm doch rein und trink eine Tasse Tee.«

Ich bin etwas verlegen, weil ich sie eigentlich nicht gut genug kenne, um ihr Haus zu betreten. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass zwischen Tee und Trauer eine ähnlich enge Beziehung herrscht wie zwischen Fisch und Chips. Auf dem Weg ins Wohnzimmer bleibe ich stehen und blicke verblüfft auf das Meer aus Blumen und die zahllosen Karten, es sind so viele und sieht so wunderschön aus, dass man einen falschen Eindruck bekommen könnte.

Sie geht die Stufen hinab in die weitläufige Wohnküche. Würden wir uns besser kennen, würde ich sie jetzt mit sanfter Gewalt auf einen Stuhl drücken und den Tee selbst zubereiten, vielleicht sogar ein Schlückchen Brandy hineingeben. Jo ist sehr zurückhaltend, und auch wenn sie offen erzählt, wo sie ihre Designerklamotten kauft und zu welchen Galas und Wohltätigkeiten sie und Neal eingeladen waren, erfährt man über die eigentlich wichtigen Dinge nur sehr wenig. Über die Alltäglichkeiten, die Hoffnungen und Träume, mit denen man durchs Leben geht; darüber, dass die Familie ihr Ein und Alles ist, so wie bei uns anderen auch.

Heute scheint selbst der Wasserkessel zu schwer für sie zu sein. Sie ist so mager, ausgezehrt, fast ätherisch, und ihre Augen wirken riesig. Mir fällt auf, dass ihr Haar fast dieselbe Farbe hat wie das von Rosie und nur ein wenig kürzer ist, so dass man sie von hinten beinahe verwechseln könnte.

»Ist Neal da?«

»Er ist bei der Polizei.« Der Kaffeebecher in ihrer Hand zittert. »Ich hätte auch mitgehen sollen. Aber ich konnte nicht … Sie gehen die Anrufe auf ihrem Handy durch …« Ihre Stimme bebt.

»Kann ich dir irgendwie helfen? Irgendetwas tun?«, frage ich leise.

Sie schüttelt den Kopf, dann sammelt sie sich und gießt heißes Wasser in die Teebecher, während ich den Blick über die makellos weiße Küche mit den Edelstahlgeräten und dem überbreiten Gasherd schweifen lasse. Alles perfekt sauber und aufgeräumt. Und teuer, denke ich unwillkürlich, hasse mich aber dafür, dass es mir überhaupt auffällt.

Sie stellt mir einen Becher hin und setzt sich auf den Stuhl gegenüber von mir.

»Es ist so lieb von dir, dass du herkommst, Kate. Die Leute schicken alles Mögliche … aber herkommen tut niemand. Als wäre es ansteckend oder so.«

Ihre Stimme ist ausdruckslos, Tränen stehen in ihren Augen, trotzdem wahrt sie erstaunlicherweise die Contenance. Allein der Gedanke, dass man sich den Tod wie ein Virus zuziehen kann, lässt mich erschaudern.

»Wahrscheinlich wollen sie bloß nicht stören«, sage ich sanft. »Mehr nicht.«

»So viele Karten«, fährt sie leise fort. »Kaum zu glauben. Auch von Leuten, die wir eigentlich gar nicht kennen.«

Hilft so etwas? Ist die Gewissheit, dass so viele Menschen an einen denken, ein winziger Trost? Ich lege Grace’ Karte vor ihr auf den Tisch.

»Grace hat mich gebeten, sie dir zu geben.«

Langsam streckt sie die Hand aus und nimmt sie, und ich frage mich, ob ihr das Undenkbare durch den Kopf geht: Wäre Grace das Opfer, wäre ich diejenige, dem der wertvollste Mensch entrissen werden würde.

Wieso meine Tochter? Wieso nicht das Kind von jemand anderem?

»Kannst du ihr sagen … Danke.«

Ich nippe an meinem Tee, wohingegen Jo ihre Tasse nicht anrührt. In diesem Moment höre ich ein leises Geräusch hinter mir.

Ich vergesse immer, dass Delphine ebenfalls Jos Tochter ist, vermutlich weil sie sie so selten erwähnt. Aber ich weiß, dass Rosie und sie sich sehr nahegestanden haben. Wann immer sie von ihr gesprochen hat, haben sich ihre Züge erhellt. Die beiden haben dasselbe helle Haar und diesen leicht verunsicherten Ausdruck in den Augen. Die Ähnlichkeit mit Rosie ist frappierend. Doch als ich Delphine in die Augen schaue, erkenne ich, dass Wachsamkeit anstelle von Rosies stiller Freundlichkeit darin liegt. Eine Wachsamkeit, die mich aus irgendeinem Grund verunsichert.

»Hallo, ich bin Kate … Grace’ Mum«, sage ich, allerdings fällt mir zu spät ein, dass sie wegen des Altersunterschieds womöglich noch nicht einmal weiß, wer Grace ist.

»Hallo.« Ihre Stimme ist leise, aber klar, wie die ihrer Schwester. »Könnte ich jetzt Mittag essen, Mummy?«

»Gleich, Delphine, sobald Kate gegangen ist. Wieso siehst du nicht so lange fern?«

Ohne Widerrede verschwindet Delphine, während ich auf das Stichwort reagiere, meinen Tee austrinke und aufstehe. »Ich sollte sowieso wieder nach Hause.«

Jo erhebt keine Einwände. Sie schiebt ihre unberührte Tasse beiseite und bringt mich zur Tür. »Sie haben sie im Wald gefunden«, sagt sie leise. Ihre Augen sind schmerzerfüllt.

Mit einem Mal kann ich mich nicht bewegen, suche nach tröstlichen Worten, auch wenn es keine gibt, doch Jo fährt fort: »Sie war begraben … unter Blättern und Moos. Jemand hat ihr Haar gesehen …«

Mit einem Mal wird ihre Stimme schrill, ehe sie vollends bricht und sie schluchzend in meine Arme sinkt.

In den nächsten zwei Stunden gebe ich mir alle Mühe, Jo Trost zu spenden, obwohl mir klar ist, dass nichts ihren Verlust wiedergutzumachen vermag. Ich bereite eine Kleinigkeit für sie und Delphine zum Mittagessen zu. Allerdings rührt Jo es nicht an, und auch Delphine stochert lediglich darin herum.

»Du warst ja ewig weg«, sagt Grace, als ich endlich nach Hause komme. »Hast du sie gesehen?«

»Ja. Es war grauenhaft, Gracie. So unendlich traurig. Für alle. Delphine war auch da. Und draußen vor der Tür lungern Reporter herum.« Ich bin wie erschlagen. Das Gewicht der Trauer – selbst wenn es die eines anderen Menschen ist – hat mir jedes Quäntchen Energie geraubt.

Grace’ Miene verrät mir, dass es ihr genauso geht; nur dass sie nicht wie ich versucht, sich in Jos, sondern in Delphines Lage zu versetzen.

»Ein paar von uns wollen später in den Wald gehen. Und Blumen ablegen …« Sie sieht mich an, als wollte sie mich um Erlaubnis bitten, obwohl sie sich sowieso nicht davon abbringen ließe, selbst wenn ich Nein sagen würde.

»Womöglich dürft ihr gar nicht zu der Stelle, Schatz. Bestimmt ist überall Polizei und sucht den Tatort nach Spuren ab.«

Sie schaut mich entgeistert an. »Aber das ist öffentliches Gelände. Das können die uns doch nicht verbieten.«

»Vermutlich schon. Zumindest, bis sie wissen, wie Rosie umgekommen ist.« Ich halte inne. »Gracie, wieso lässt du es nicht einfach gut sein und wartest, bis die Polizei ihre Arbeit erledigt hat? Warum fragst du nicht Sophie, ob sie stattdessen rüberkommen will?«

»Nein! Es ist alles organisiert. Außerdem – was soll jetzt noch passieren?«

Die Frage steht im Raum, fordert mich auf, ihr zu widersprechen, doch ich ersticke meine innere Stimme, die leise Das wissen wir nicht. Wir wissen überhaupt nichts mehr ruft.

»Oder, Mum? Es sind doch überall Polizisten.« Tränen stehen in ihren Augen, als sie die Frage wiederholt, mich anfleht, ihr zu versichern, dass ihr nichts zustoßen kann. Mich bittet, alles wiedergutzumachen, aber das kann ich nicht, denn jetzt, wo Rosie tot ist, weiß ich nicht, wie das gehen soll.

»Natürlich nicht.« Es ist die einzige Antwort, die ich ihr geben kann. »Trotzdem wäre es mir lieber, du würdest nicht hingehen. Nur so lange, bis die Polizei die Ermittlungen abgeschlossen hat.«

»Ich war im Wald«, sage ich an diesem Abend zu Angus. Seine Gegenwart ist beruhigend normal. Er ist erst sehr spät nach Hause gekommen. Das Geschäftsessen hat sich ewig hingezogen, aber dafür hat er für morgen freigenommen. Da er Rosie nicht gekannt hat, steht er dem Ganzen distanzierter gegenüber als ich.

»Bei meinem Sturz damals ist mir etwas sehr Seltsames passiert. Ich wollte es dir damals bloß nicht sagen.«

Bei genauerem Überlegen und in Anbetracht der jüngsten Ereignisse ist es nicht nur seltsam, es ist geradezu unheimlich.

»Ich bin nicht verrückt, Angus, aber ich habe gespürt, dass dort etwas Schreckliches geschehen ist. So was ist mir noch nie passiert. Zappa hat es auch gespürt. Deshalb ist er auch durchgegangen.«

Er blickt mich über den Rand seiner Brille hinweg an.

»Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

Ich beschließe, das Thema fallen zu lassen, weil ich weiß, wie wichtig es Angus ist, dass seine Welt immer hübsch wissenschaftlich nachweisbar bleibt. So sehr ich meinen Mann liebe, bieten sein eklatanter Mangel an Flexibilität und seine Sturköpfigkeit, die an anderer Stelle durchaus eine Stärke sein können, häufig Zündstoff für erbitterte Auseinandersetzungen. Manchmal arten sie sogar so aus, dass ich mich frage, wieso ich überhaupt damit angefangen habe.

Aber ausnahmsweise lässt er es dabei bewenden.

»Wie ging es Jo?«, fragt er stattdessen.

Ich zucke die Achseln. »Sie ist am Boden zerstört und sehr labil. Neal habe ich gar nicht getroffen, weil er bei der Polizei war.«

Angus schüttelt den Kopf. »Du meine Güte. Von so etwas liest man immer nur und denkt, dass es anderen passiert. Aber nicht jemandem, der praktisch nebenan wohnt.«

»Ja, ich weiß.«

»Vermutlich werden sie eine Obduktion anordnen«, fährt er fort.

»Ja, davon ist auszugehen.« Ich setze mich auf. »Es könnte auch sein, dass sie ermordet wurde, Angus.«

»Das halte ich für unwahrscheinlich«, meint er. »Wahrscheinlich war es ein Unfall. Bestimmt findet die Polizei recht schnell heraus, was geschehen ist.«

»Aber sie ist doch nicht vom Pferd gestürzt. Wie kann ein junges, kerngesundes Mädchen so einen schweren Unfall haben, dass sie dabei ums Leben kommt?«, beharre ich. »Noch dazu im Wald? Jo meinte, sie hätte unter Blättern gelegen.«

Dutzende Menschen gehen, reiten oder joggen jeden Tag durch diesen Wald, und nie gab es schlimmere Verletzungen als ein aufgeschlagenes Knie oder einen verknacksten Knöchel.

Angus lässt sein Buch sinken. »Es kann Gott weiß was geschehen sein, Kate. Sie könnte hingefallen sein. Oder sie hat vielleicht sogar einen tödlichen Herzanfall erlitten. Solche Dinge passieren manchmal auch blutjungen Menschen.«

Vielleicht hat er ja recht, und ich liege komplett daneben. Er liest weiter, während unwillkommene Bilder vor meinem inneren Auge auftauchen. Von Rosie, die mutterseelenallein im Dunkel liegt. Rosie in der Gewalt eines Unbekannten, der ihr wehtut. Rosie im Leichenschauhaus, nur dass es nicht mehr Rosie ist, sondern ein gräulicher, leerer Körper mit hellblondem Haar, das jemandem beim Spazierengehen ins Auge gestochen ist. Ihr Geist ist immer noch dort draußen, irrt im Wald umher. Und was ist, wenn die Polizei doch nicht die Wahrheit herausfindet? Wenn ein Mörder frei im Dorf herumläuft? Was, wenn es noch weitere Opfer gibt?

An diesem Abend liege ich stundenlang wach im Bett, ehe ich endlich in Angus’ Armen eindöse, aber erst nachdem ich Gott (oder wem auch immer) hoch und heilig versprochen habe, dass ich absolut alles tun werde, um meine Familie zu schützen. Was aus mir wird, ist nicht so wichtig.

Als mir endlich die Augen zufallen, bin ich wieder im Wald, auf der Lichtung, wo ich vom Pferd gefallen bin. Ich höre den Wind und das Rascheln der Blätter, aber diesmal regnet es nicht, sondern die Vögel zwitschern, die Sonne scheint unnatürlich hell, und als ich nach unten schaue, liegt Rosie neben mir, als wäre es das Normalste auf der Welt.

Ihr Haar, länger, als ich es in Erinnerung habe, ist wie ein weicher, heller Seidenteppich um ihren Kopf ausgebreitet. Sie erinnert mich an ein Gemälde – der Körper halb von einer kunstvoll gewobenen Decke aus grünem Moos und goldenen Blättern verdeckt.

Ich versuche, sie wachzurütteln. Rosie. Rosie, wach auf. Du musst aufwachen.

Aber sie rührt sich nicht. Plötzlich wird es still, und der Wald verdunkelt sich. Die Angst ist wieder da. Schnell weg.

Ich zerre Rosie am Arm. Ich kann sie hier nicht liegen lassen, aber sie bewegt sich nicht. Ich ziehe fester, höre mich schreien.

Wach auf, Rosie. Lauf. Du musst weglaufen.

Ihre Augen öffnen sich, und einen Moment sieht sie mich an. Dann verliere ich sie. Ihre Lippen teilen sich, doch kein Laut dringt aus ihrer Kehle.

Der Schrei stammt von mir.

Ich schlage die Augen auf, spüre, dass mein Gesicht tränennass ist. Ich zittere am ganzen Leib. Das Bild von Rosie ist noch glasklar, so dass ich sogar ihre gebogenen Wimpern auf ihren Wangen vor mir sehe, ihre hellen Augen, die mich anstarren und mir etwas sagen wollen.

Angus murmelt etwas Unverständliches, als ich aus dem Bett schlüpfe. Ich blicke auf die Leuchtzeiger meines Weckers. Ich bin viel zu erregt, um weiterzuschlafen, und nehme meinen Morgenrock vom Haken an der Tür und tappe leise nach unten.

Wenn ich ein großes Gartenprojekt habe, arbeite ich am liebsten nachts, in der herrlichen Stille, lediglich durchbrochen von gelegentlichem tröstlichem Knarzen und dem Ticken der Uhr. Aber heute ist es anders. Ich bin angespannt und nervös, überall sind Schatten, die sich bewegen, bedrohliche Gesichter, die sich gegen die Fensterscheiben pressen und mich stumm beobachten. Irgendwo dort draußen läuft ein Mörder herum. Und er könnte überall sein.

Ich fülle den Wasserkessel, ziehe die Vorhänge zu, um meine Dämonen auszuschließen. Dann setze ich mich an den Tisch und lege beide Hände um die warme Tasse.

Ich glaube, Rosie hat bei ihrem letzten Besuch schon eine ganze Weile auf mich gewartet und dann so getan, als wäre sie zufällig vorbeigekommen. Ich hatte nicht mitbekommen, dass sie das Tor aufgemacht hatte, und als ich aus der Sattelkammer kam, stand sie auf einmal da.

»Rosie, hast du mich erschreckt!«

Ein Anflug von Verunsicherung huschte über ihr Gesicht. Sie wusste eben nie so recht, wie sie mich einschätzen sollte, ebenso wie niemand wusste, was in Rosie vorging.

»Entschuldigung.« Zögernd wickelte sie sich eine Haarsträhne um den Finger. »Ich war nur … ich habe mich gefragt, ob du Hilfe brauchst. Ist das okay?«

»Natürlich! Hol Reba, wenn du willst. Sie muss mal wieder richtig gestriegelt werden.« Reba ist quasi im Ruhestand und langweilt sich manchmal, deshalb genießt sie es, wenn man sie betüddelt. Ich warf Rosie ein Halfter zu. Ich beobachtete, wie entspannt sie mit den Pferden umging, die sie sanft anstupsten.

Sie fragte mich vorher immer, bevor sie den Stall betrat, als müsste sie sich dafür entschuldigen. Ich glaube, ihr ging es ähnlich wie mir; auch sie brauchte dieses gewisse Etwas, das ihr nur Pferde geben konnten.

Eines jedoch wunderte mich: Während Grace’ Freundinnen stets versuchen, sich vor der Stallarbeit zu drücken, nur um möglichst schnell in den Sattel zu kommen, fragte Rosie nie, ob sie mal reiten dürfte. Und als ich sie einmal auf Reba setzte, strahlte sie mich an, als hätte sie soeben den Everest bestiegen. Sie war ein Naturtalent mit einem angeborenen Gefühl für die Gedanken und Befindlichkeiten der Pferde.

Eigentlich hätte ich sie gern unterrichtet, aber dazu kam es nie. Als ich ihr anbot, Jo zu fragen, ob sie Reitstunden nehmen dürfe, schien sie die Vorstellung mit großer Sorge zu erfüllen.

»Es wäre besser, wenn du es ihr nicht sagst, Kate. Ich komme einfach bloß gern her, um ein bisschen zu helfen«, antwortete Rosie angespannt. »Wenn das okay ist.«

Und so blieben ihre Besuche ein unausgesprochenes, etwas peinliches Geheimnis zwischen uns, das ich Jo gegenüber niemals erwähnte, obwohl ich ein- oder zweimal kurz davor war. Allerdings gab es keine Veranlassung dazu.

Rosie blieb gern für sich und erwähnte niemals Freundinnen, dabei war sie ein bildhübsches, reizendes Mädchen, weshalb ich mich häufig fragte, ob sie wohl einen Freund hatte. Bei ihrem letzten Besuch sprach ich sie auf ihre bunte Glasperlenkette an.

»Die ist wirklich hübsch, Rosie.«

Eine zarte Röte breitete sich auf ihren Wangen aus, als sie sie betastete.

»Danke«, sagte sie schüchtern. »Es war ein Geschenk.«

Natürlich machte ich mir so meine Gedanken, aber sie ging nicht näher darauf ein, und ich fragte nicht nach. Ehrlich gesagt konnte ich ihre Geheimniskrämerei nicht ganz nachvollziehen. Verbarg sie etwas?

Dann schweifen meine Gedanken zu jenem Nachmittag im Wald. Lag es am Gewitter, oder hatte mir etwas anderes Angst gemacht? Ist so etwas möglich? Glaube ich an solche Dinge? Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Mir bleibt fast das Herz stehen.

Ich springe auf und wirble herum, wobei sich der Inhalt meiner Teetasse auf den Esstisch ergießt. »O Gott, Angus! Du kannst mich doch nicht so erschrecken!«

Mein Mann mustert mich schlaftrunken. »Wer sollte es denn sonst sein außer mir?«

Ich kann nur den Kopf schütteln. »Ich habe dich nicht kommen gehört. Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt.«

»Ich habe dich bloß gesucht. Komm zurück ins Bett.« Das Haar steht ihm wild vom Kopf ab, und seine Pyjamahose hängt ihm auf der Hüfte. Er gähnt.

»Ich bin gleich da.«

Ich wische den Tisch sauber, aber auf einmal will ich nicht länger allein sein. Ich knipse das Licht aus und folge ihm nach oben.

Mein Tod ist dein
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