Rosie
Joanna starrt ihr Spiegelbild an. Alles, was er gesagt hat, ist wahr. Die Falten, die Ringe unter ihren Augen, die Haut, die sich zu sehr über ihre hervortretenden Wangenknochen spannt. Sie ist hässlich – ihr Gesicht, ihr Haar, alles ist hässlich. Sie ist zur reinsten Karikatur geworden und das genaue Gegenteil von all den Frauen mit ihrer natürlichen, mühelosen Schönheit.
Außerdem ist sie fett. Man muss sich bloß mal diese schlabbrige Haut unterm Kinn anschauen. Sie kneift sich in die nicht vorhandene Speckschwarte am Bauch und spürt den vertrauten Selbsthass in sich aufkeimen. Sie ist abstoßend. Kein Wunder, dass er sie nicht mehr will.
Sie reibt sich die Wangen, damit sie sich ein wenig röten, und zieht die Haut Richtung Haaransatz, um die imaginären Falten zu glätten, während sie sich ausmalt, wie ein Skalpell sie durchdringt, der Chirurg sie anhebt und strafft. Perfektion erschaffen. Dafür nimmt sie jeden Aufwand und die Schmerzen in Kauf, wenn sie nur bei ihm bleiben darf.
Aber jetzt ist es zu spät. Er will sie nicht mehr. Andererseits hat sie ihn schon vor langer Zeit verloren – an jüngere, langbeinigere Mädchen, wie man sie von den Vogue-Covern kennt.
Sie hat die Augen davor verschlossen, weil sie weiß, dass sie dadurch wieder verschwinden – irgendwann. Aber die eine ist anders. Mit ihr könnte es etwas Ernstes sein. Sie hat Fotos von ihr gesehen, im Internet, in den Zeitungen. Die Frau steht beinahe immer neben oder hinter ihm. Sie hat ihn ertappt, als er ins Telefon flüsterte, hat SMS gelesen, in denen nichts der Fantasie überlassen blieb. Höchst intime, explizite Nachrichten, die er eigens auf seinem Handy lässt, damit sie sie findet, wohl wissend, dass sie sich wie Dolche in ihr Herz bohren. Dann lacht er, dieses grausame Lachen, macht sich über sie lustig.
All die Jahre hat sie sich vor diesem Tag gefürchtet.
Ja, sie kennt diesen Typ Frau. Schließlich war sie vor nicht allzu langer Zeit eine von ihnen. Jung, groß, schlank, bildschön, perfekt geeignet, um ihn gut dastehen zu lassen, so als wolle er anderen Männern ins Gesicht schreien, dass er besser und attraktiver ist als sie.
Was ja auch stimmt. Das weiß sie schon lange. Neal ist etwas ganz Besonderes, ob man ihn nun mag oder nicht. Kein anderer Mann besitzt diese Souveränität, dieses Selbstbewusstsein. Unzählige Male hat sie beobachtet, wie locker er auf andere zugehen kann, wie er ein Gespräch beginnt, vielleicht leise lacht, den Arm seiner Gesprächspartner berührt, sie ganz genau beobachtet und zusieht, wie sie seinem Charme erliegen.
Wieder blickt sie in den Spiegel. Genau dasselbe hat er auch mit ihr gemacht. Vom ersten Moment an hat er ihr das Gefühl gegeben, die einzige Frau auf der Welt für ihn zu sein. Er war der erste Mann, den sie aufrichtig geliebt hat, mit jeder Faser ihres Herzens, so sehr, dass sie ihre Identität geopfert und all die OP-Schmerzen über sich hat ergehen lassen. Das ist doch wahre Liebe, oder nicht? Doch leider genügt es manchmal nicht, jemanden zu lieben, auch wenn man es noch so hingebungsvoll tut. Wenn er sie jetzt verlässt, ist sie ein Nichts. Das hat er ihr unzählige Male an den Kopf geworfen.
Ihr Blick fällt auf die Tabletten, die der Arzt ihr gegen ihre Schlafstörungen verschrieben hat. Das ist alles, was noch von ihr übrig ist – ein hässliches Gesicht und ein Fläschchen Tabletten. Bislang hat sie keine einzige genommen.
Aber im Grunde bleibt ihr kaum eine andere Wahl. Was soll sie denn sonst tun?
Langsam greift sie nach dem Fläschchen und schraubt den Deckel ab.