DIE MASKENWAHL

e9783641094324_i0100.jpgAls Karigan von der Brücke in die weiße Welt hinkte, war die ganze Insel unter einem undurchdringlichen Nebel verborgen.

»Oh weh«, murmelte sie. In ihren bisherigen Erfahrungen mit der weißen Welt hatten diese Nebel immer Visionen angekündigt, die sie lieber nicht sehen wollte.

Ihr blieb keine andere Wahl als zu warten, bis sich der Nebel lichtete, sonst wäre sie nicht in der Lage, die Insel zu überqueren und zur Mondbrücke zu gehen – sie konnte kaum die Hand vor Augen sehen und hatte keine Lust, aufgrund eines Fehltritts in den Abgrund zu stürzen.

Als der Nebel sich verzog, war sie bestürzt von dem Anblick, der sich ihr bot. Vor ihr lag das bunte Gewoge eines übermütigen Maskenballs, und das Echo von Musikfetzen hallte verzerrt und unheilschwanger aus dem Abgrund. Die bunten, prächtigen Gewänder und Masken der Tänzer bildeten einen brutalen Kontrast zu der weißen Welt.

Das ist ungerecht, dachte Karigan. Habe ich nicht schon genug durchgemacht? Sie wusste jedoch, dass Gerechtigkeit nichts damit zu tun hatte.

Noch schlimmer war, dass sich am gegenüberliegenden Rand der Insel nicht nur die eine Brücke befand, sondern ein ganzes Dutzend, die in ihren Augen alle vollkommen identisch aussahen.

»Ich habe keine Zeit für Rätselspiele«, brummte sie, denn sie spürte immer noch den mächtigen Sog ihrer Brosche. Sie beschloss, den Maskenball zu ignorieren, und begann quer über die Insel zu hinken.

»Reiterin Sir Karigan G’ladheon!«, verkündete ein maskierter Herold, dessen Stimme genau wie die von Neff klang; und der Herold sah auch genauso aus wie Neff in jener Nacht auf dem Maskenball des Königs. Er war jedoch keineswegs Neff, sondern nur eine Halluzination, erschaffen von dem seltsamen Umfeld der weißen Welt. Sein Ausruf wurde mit vereinzeltem Klatschen quittiert, und edle Damen und Herren knicksten und verbeugten sich vor Karigan.

Egal, wie sehr sie versuchte, den Maskenball zu ignorieren – die Gäste ignorierten sie jedenfalls nicht. Wachsam ging sie weiter und erkannte viele Masken wieder, die sie auf dem Maskenball des Königs gesehen hatte, darunter sogar den schillernden Drachenhelm des Königs. Er blitzte in dem schwachen Licht auf, während er tanzte … er tanzte mit der wahnsinnigen Königin Wüstina. Von ihrer Krone baumelten klingelnde Narrenglöckchen, und das rote Diamantmuster ihrer Röcke bildete einen grellen, verschwommenen Riss in dem weißen Hintergrund.

Nein. Ich darf mich nicht ablenken lassen.

Mühsam kämpfte sie sich weiter, aber nun erschienen drei kostümierte Pagen vor ihr, und jeder trug auf einem Seidenkissen eine Maske.

»Sie müssen eine auswählen«, sagte Neff, der neben sie trat, »sonst können Sie nicht mitmachen.«

Auf einem Kissen lag eine einfache Augenmaske im selben verblassten Grün wie ihre Uniform. Eine Mitternachts-Augenmaske lag auf dem mittleren Kissen. Sie sandte eine mächtige, pulsierende Kraft aus, aber auch eine schwarze, bösartige Aura, und Karigan fühlte sich sofort von ihr abgestoßen. Auf dem dritten Kissen lag die Maske, die Estora damals getragen hatte, bestickt mit Perlen in den Farben des Meeres, die im Licht schimmerten.

Sie griff nach der dritten Maske, der Maske der Königin, doch dann hielt sie inne, bevor sie sie berührte hatte. Einen Augenblick lang hing ihre Hand zögernd in der Luft, dann zog sie sie zurück.

»Ich brauche keine Maske«, sagte sie mit plötzlicher Wut. Sie würde dieses Spiel nicht mitspielen.

Sie wandte sich von den Pagen und ihrer Last ab und humpelte weiter über die Insel, aber es war, als würde ihr Zorn die Energien der weißen Welt anfachen, denn die Musik wurde lauter und schriller, und die Tänzer tanzten immer schneller, sodass Seide und Samt und Satin um sie herumwirbelten und sie herausforderten und anrempelten und gegen ihr verletztes Bein traten. Sie schrie auf. Auch wenn die Tänzer nicht wirklich waren, fühlten sie sich jedenfalls nur allzu wirklich an, und bei jedem Knuff durchschoss sie ein weiß glühender Schmerz, der ihr den Atem nahm. Allmählich wurde ihr schwindlig.

Der König ergriff ihr gebrochenes Handgelenk und wirbelte sie herum. Sie brüllte und sank auf die Knie. Die Musik verstummte und die Tänzer blieben stehen. Sie stöhnte, umringt von einem Wald aus Beinen und Röcken. Sie würde nicht zulassen, dass die weiße Welt ihr das antat, sie würde sich nicht von ihr besiegen lassen. Mithilfe ihres Stabes gelang es ihr, sich aufzurichten, und sie fand sich Auge in Auge mit der Maske des Königs.

»Du bist eine Fälschung«, sagte sie. Sie drehte sich um. »Ihr seid alle Fälschungen.«

Mit ihrer unverletzten Hand riss sie dem König seinen Drachenhelm vom Kopf und schleuderte ihn weg. Er schepperte auf dem Boden, und eine weiße Staubwolke stieg auf. Sie schnappte nach Luft. Unter der Maske befand sich keineswegs König Zacharias, sondern Lord Amberhills höhnisch grinsendes Gesicht. Erwartungsvoll hob er eine Augenbraue.

Was sollte das bedeuten? Was wollte die weiße Welt ihr mitteilen? Wenn der König auf diesem Maskenball nicht Zacharias war, wer befand sich dann wohl unter der Maske der Königin Wüstina? Sie selbst, oder jemand anders?

Schaudernd, aber unfähig, sich zurückzuhalten, hob sie die Maske, die Königin Wüstinas Gesicht verbarg, und entdeckte Estora, die sie anstarrte. Karigan wich zurück. In ihrem Kopf prallten so viele Gedanken aufeinander, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Sie wollte nur weg, hinaus aus dieser weißen Welt. Da war ihr der Schwarzschleierwald immer noch lieber; zumindest war er real.

Sie drängte sich durch die schweigenden, bewegungslosen Tänzer. Ein schwarz gekleideter Akrobat stellte sich ihr in den Weg. Er trug die Spiegelmaske, aber sie reflektierte lediglich die weiße Landschaft. Santanara hatte sie vor dem Spiegelmann gewarnt und gesagt, er sei ein Betrüger, und sie fand diese Beschreibung äußerst zutreffend. Mit einer Geste befahl er Neff und die drei Pagen zu sich.

»Sie müssen eine Maske wählen«, sagte Neff, »falls Sie hier wegwollen.«

Kalter Schweiß sammelte sich auf Karigans Stirn. Was würde passieren, wenn sie eine der Masken wählte? Und wenn König Zacharias nicht den Drachenhelm getragen hatte, wo war er dann?

»Ich möchte mein Gesicht nicht verbergen«, sagte Karigan. »Ich werde mich nicht verstecken, und ich werde niemanden betrügen.«

»Sie müssen eine Maske wählen«, erklärte Neff.

Sie überlegte, ob sie ihn mit ihrem Stab schlagen sollte, aber nachdem sich die Tänzer alle höchst wirklich und solide angefühlt hatten, war das wahrscheinlich keine gute Idee, denn so etwas würde bestimmt zu Vergeltungsmaßnahmen führen.

»Also gut«, sagte sie und dachte fieberhaft nach. »Wenn ich schon wählen muss, dann wähle ich diese hier.« Sie deutete nicht auf eine der drei Masken auf den angebotenen Kissen, sondern auf die Spiegelmaske, die der Akrobat trug. Ihr Spiegelbild darin deutete auf sie zurück.

Alle außer dem Akrobaten verschwanden. Er drohte ihr mit dem Zeigefinger und schlug sich auf die Schenkel, als würde er sie schweigend auslachen. Dann wich er zurück, wies mit einer weit ausladenden Geste auf die Brücken und verschwand ebenfalls.

Karigan seufzte. Anscheinend hatte sie diese Prüfung bestanden, doch nun kam die nächste. Sie ging von einer Brücke zur anderen und pochte gegen jede mit ihrem Stab. Alle fühlten sich gleich solide an. Sie hatte keine Ahnung, was geschehen würde, wenn sie die falsche Brücke überquerte. Vielleicht würde sie unter ihren Füßen verschwinden, und sie würde zu den korrumpierten Schläfern in den Abgrund stürzen; oder vielleicht führte die Brücke in irgendein feindliches Land oder in eine feindliche Schicht der Welt, aus der sie nie zurückkehren konnte.

»Fünf Höllen«, brummte sie, jenseits aller Erschöpfung, und hätte beinah irgendeine beliebige Brücke gewählt, nur um es hinter sich zu haben. Dann lächelte sie und zog den Mondstein aus ihrer Tasche. Sämtliche Brücken flammten in kristallklarer Helligkeit auf, aber eine war dauerhafter und warf die Schwingungen ihres Mondsteins immer noch zurück, als die anderen bereits wieder verblasst waren.

Sie holte tief Luft und betrat die Brücke. Und dann machte sie noch einen Schritt vorwärts. Die anderen verschwanden. So schnell sie konnte, hastete sie zur anderen Seite. Als sie einen Schritt von der Brücke in den Hain von Argenthyne tat, verschwand diese ebenfalls.

Sie fand Laurelyn auf der Terrasse, auf der sie sie verlassen hatte. Die Gestalt der eletischen Königin war kaum noch ein Glimmen, lediglich ein Abglanz ihrer früheren Leuchtkraft. Karigan blickte zum Himmel hinauf. Schwarze Wolken bedrängten den silbernen Mond.

Laurelyn lächelte. Karigan hatte das Gefühl, dass sie über alle Maßen erschöpft war. Du warst siegreich, sagte Laurelyn. Die Eleter stehen für immer in deiner Schuld.

»Ich glaube nicht, dass sie wussten, wer ich bin.«

Laurelyn lachte leise. Dann werden sie daran herumrätseln, und Eleter lieben nichts mehr als ein Rätsel, über das sie nachdenken und debattieren können, und das werden sie jahrhundertelang tun. Doch nun ist meine Zeit zu Ende. Meine Dankbarkeit ist dir gewiss, Tochter Karinys. Du bist tatsächlich so außergewöhnlich, wie ich es vor all den Jahren erhoffte, als ich deine Mutter und deinen Vater auf einer Waldlichtung zusammenführte. Nun musst du rasch zu deinen Gefährten gehen und die Ausübung deiner Fähigkeit fallenlassen, denn dieses Zeitmaß endet.

»Lebt … lebt wohl«, stammelte Karigan.

Leb wohl, Kind.

Karigan ging auf die offenen Türen des Schlosses zu, aber sie konnte nicht umhin, einen letzten Blick auf Argenthyne zu werfen, und auf Laurelyn, die ihre Hände nach dem Mond ausstreckte. Sie löste sich in eine glitzernde Staubwolke auf und war dann ganz verschwunden. Die Wolken bedeckten den Mond und hüllten den Hain in Dunkelheit.

Karigan hastete in das Schloss, während ihre Wahrnehmung sich wieder verdoppelte und aufgrund ihrer Tränen der Erschöpfung und Trauer noch mehr verschwamm. Sie hatte das Gefühl, dass ein wundervoller Zauber die Welt verließ. Er war anders als die Magie, die sie und ihre Reiterkameraden benutzten  – er enthielt etwas Ungreifbares, Geheimnisvolles. Etwas, das einst weise und mächtig und strahlend gewesen war, und das nun für immer dahin war. Von jetzt an würde Laurelyn nur noch als Legende weiterleben.

Karigan ließ ihr Verblassen fallen und taumelte, als die Vergangenheit und die Gegenwart einander überlappten, doch dann gewann die erste Turmkammer vor ihren Augen wieder an Schärfe. Sie kehrte in eine wesentlich trübere, abgestandene Welt zurück.

Ihr Kopf schmerzte, weil sie ihre Fähigkeit benutzt hatte, und nun lenkte sie das Pochen ihres Schädels von ihren Schmerzen in diversen anderen Körperteilen ab. Sie fror. Sie fror immer, wenn sie zwischen den Zeiten gereist war.

Sie musste ihre Gefährten finden, obwohl ihr vor dem graute, was da auf sie wartete. Sie zwang sich, die Kammer zu durchqueren, und stellte fest, dass Graelaleas Leichnam noch immer unberührt dalag; ihr Mondstein schimmerte nur noch sehr sanft.

Karigan humpelte den gewundenen Korridor entlang und bemühte sich, bei klarem, wachem Verstand zu bleiben. Sie dachte an die Masken. Hätte sie eine der Masken ausgewählt, die man ihr in der weißen Welt angeboten hatte – welche wäre es gewesen?

Auf keinen Fall die schwarze – die war widerlich gewesen. Das hatte sie gewusst, ohne sie zu berühren. Die Macht, die darin lag, interessierte sie nicht. Die Maske der Königin? Nein, nicht für sie. Sie konnte sich nichts anmaßen, vor allem da der König in der kleinen Szene des Spiegelmannes gar nicht vorgekommen war.

Der König, der König … Warum war er nicht dabei gewesen?

Nun blieb nur noch die einfache grüne Maske übrig, die anscheinend gut zu einem Grünen Reiter gepasst hätte. Warum hatte sie sie nicht gewählt?

»Weil ich keine Masken trage«, antwortete sie laut und erschrak vor ihrer eigenen Stimme.

Sie ging weiter und hörte Kampfgeräusche, die immer lauter wurden. Als sie den Raum mit der Monduhr betrat, fiel sie fast über Ards Leiche, die immer noch dort lag, wo sie mit Ealdaens Pfeil in der Kehle hingefallen war. Auch Grants Leiche, an der zwei Nythlinge fraßen, lag auf dem Boden. Die Kadaver vieler anderer Nythlinge lagen überall im Raum verstreut.

Und Solan. Der arme Solan. Sie konnte sich nicht einmal anschauen, was die finsteren Schläfer von ihm übrig gelassen hatten.

Die Leichen mehrerer dunkler Schläfer lagen ebenfalls auf dem Boden, rings um den Rest ihrer Gefährten, die Rücken an Rücken in einem engen Kreis in der Mitte der Monduhr standen und mit ihren Schwertern und Lynx’ Axt nach allen Seiten Hiebe austeilten. Etwa zehn Schläfer griffen sie an, viel weniger als vorher, aber immer noch eine gewaltige Überzahl.

Sie waren so in den Kampf vertieft, dass niemand sie zu bemerken schien. Sie erwog ihre Möglichkeiten, wobei sie ihre Waffen und ihren Zustand einbezog. Rasch entschied sie, diejenige Waffe einzusetzen, die ihr bisher am besten gedient hatte, und hinkte vorwärts, um sich dem Feind zu stellen.

Pfad der Schatten reiter4
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