IM INTERESSE DES REICHES
Estora wusste nicht, wie lange sie an Zacharias’ Bett gesessen hatte, aber das Tageslicht, das sein Gemach zuvor erfüllt hatte, war schwach geworden. Er wachte nicht auf und sprach auch nicht mehr.
Das Bedürfnis, an der Seite ihrer Mutter zu sein und ihr nach dem Tod ihres Vaters Trost zu geben, hatte in ihrem Inneren gegen ihre Sehnsucht nach Zacharias angekämpft, aber ihre Mutter hatte sie ermutigt, zu ihrem Verlobten zu gehen. Und darum war sie hier, an dem einzigen Ort, an dem ihr Herz sein wollte.
Hier, im relativen Frieden von Zacharias’ Schlafzimmer, konnte sie in Ruhe um ihren Vater trauern. Der Heiler hatte gesagt, seine Wunde sei so tief gewesen, dass sie ihn nicht einmal hätten retten können, wenn sie augenblicklich zur Stelle gewesen wären. Sie hatte den Verdacht, dass der Reiter-Heiler Ben ihn durch seine Magie hätte retten können, aber Zacharias hatte Vorrang. So war es nun einmal.
Sie war ein wenig verblüfft, als ihr bewusst wurde, dass sie nun, da ihr Vater nicht mehr lebte, die fürstliche Statthalterin der Provinz Coutre war. Wenn Zacharias wieder gesund wurde und sie heirateten, würde der Titel auf ihre Schwester übergehen, die im Rang nach ihr kam, und Estora würde wie geplant Königin werden. Wenn Zacharias nicht überlebte, würde sie Statthalterin bleiben und nach Coutre zurückkehren, um die Regentschaft der Provinz zu übernehmen.
Sie wollte nicht nach Coutre zurückkehren. Es erschien ihr nun wie eine Offenbarung, dass sie Zacharias sehr lieb gewonnen hatte – seine Sensibilität, seine Liebenswürdigkeit, seine Kraft. Es hatte ihr auch Spaß gemacht, sich mit den Herausforderungen der Reichsregierung vertraut zu machen, Landstreitigkeiten zwischen Bauern zu schlichten und dafür zu sorgen, dass die Truppen an den Nordgrenzen hinreichend verpflegt wurden. Jeden Tag hatte sie miterlebt, wie Zacharias mit verschlagenen Politikern umging. Er war mindestens ebenso gerissen wie sie, und sie bewunderte seinen scharfen Verstand. Außerdem stimulierten diese Probleme ihren eigenen Verstand, und sie hatte es besonders genossen, wenn sie gemeinsam nach Lösungen gesucht hatten. Oft hatten sie nach einem anstrengenden Tag voller Versammlungen und Audienzen beim Tee über alles diskutiert und alles gemeinsam analysiert.
Vermutlich würde sie in Coutre ähnlichen Herausforderungen begegnen, aber dann wäre er, Zacharias, nicht da. Es wäre nicht dasselbe.
Sie sah ihn an und fragte sich, wieso irgendjemand ihm ein Leid zufügen wollte. Er war ein gerechter König, ein guter Mensch. Heute hatte er sich selbst der Gefahr ausgesetzt, damit der Attentäter ihr nichts antun konnte. Er hatte sie mit seinem eigenen Körper abgeschirmt. Ob er jetzt heil und gesund wäre, wenn er das nicht getan hätte?
Die Waffen hatten angedeutet, dass sie aufgrund ihrer ersten Untersuchungsergebnisse annahmen, beide Pfeile seien für Zacharias bestimmt gewesen. Wahrscheinlich wäre er in jedem Fall getroffen worden, ob er sie nun beschützt hätte oder nicht. Der Tod ihres Vaters war reiner Zufall.
Im schwindenden Licht glitzerten Schweißtropfen auf Zacharias’ Stirn, wo normalerweise sein Silberreif ruhte. Er murmelte etwas Unverständliches. Estora neigte sich zu ihm und berührte seine Wange mit ihrem Handrücken. Er fühlte sich heiß an. Sie stand von ihrem Stuhl auf und eilte ins Vorzimmer. Dort fand sie Meister Destarion zusammen mit Colin, General Harborough und ihrem Vetter. Sie steckten die Köpfe zusammen und waren in ein intensives Gespräch vertieft. Sie wunderte sich kurz, wo Hauptmann Mebstone wohl war.
»Meister Destarion?«
Die Gruppe fuhr auseinander, und alle wandten sich ihr zu.
»Ja, Herrin?«
»Ich glaube, er hat Fieber.«
Destarion eilte ins Schlafgemach, dicht gefolgt von seinen Helfern. Estora wollte ihnen folgen, aber Colin sprach sie an.
»Herrin«, sagte er, »darf ich mit Euch reden?«
»Ja, natürlich.«
Colin reichte ihr die Hand und führte sie zum nächsten Stuhl. »Dies war ein äußerst schwieriger Tag, und als stellvertretender Kastellan möchte ich Euch im Namen des ganzen Reiches mein tiefstes Beileid zum Tod Eures Vaters aussprechen. Er war ein guter Lordstatthalter, das Volk von Coutre hat ihn geliebt, und ich weiß, dass alle Ostprovinzen gern seinem Rat folgten.«
Estora nickte und wusste, dass diese Worte ehrlich gemeint waren und der Wahrheit entsprachen.
»Ich habe die königlichen Todeschirurgen gebeten, nach Euren und den Wünschen Eurer Mutter mit den sterblichen Überresten Eures Vaters zu verfahren.«
»Danke.« Es war eine große Ehre, dass sich die königlichen Todeschirurgen ihres Vaters annehmen wollten. Normalerweise beschränkten sich ihre Dienste auf direkte Mitglieder der Königsfamilie; nur ab und zu kümmerten sie sich auch um andere, besonders hochgestellte Persönlichkeiten. Hätte Colin ihr ihre Dienste nicht angeboten, hätten sie und ihre Mutter einen angemessenen Leichenbestatter im Adelsviertel ausfindig machen müssen, und das wäre mitten in ihrem Kummer sehr beschwerlich gewesen.
»Wir sind Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Staatsrat Dovekey«, sagte Richmont zu Colin. »Lord Coutre war ein großer Mann. Für mich war er wie ein Vater.«
Colin verneigte sich. Dann sagte er zu Estora: »Für Euch war all dies doppelt schwer, denn nun liegt auch Euer Verlobter verwundet darnieder, und wir wissen nicht, wie es für ihn ausgehen wird.«
Estora begann sich zu fragen, worauf Colin wohl abzielte, denn sie hatte ihn noch nie so viele Worte auf einmal sprechen hören. Sie warf Richmont einen Blick zu. Er wirkte eifrig, und sie wurde sehr misstrauisch. General Harborough stand einige Schritte entfernt und beobachtete den ganzen Vorgang.
»Sie können mir ebenso gut direkt sagen, worauf Sie hinauswollen«, sagte Estora. »Es ist offensichtlich, dass Sie alle mir etwas zu sagen haben.«
Colin und Richmont tauschten einen Blick, und dann erläuterte Colin alles. Er erklärte, dass unklar war, ob Zacharias einen Erben bestimmt hatte oder nicht, und dass man dies erst erfahren würde, sobald sämtliche Lordstatthalter versammelt waren und das königliche Treuhanddokument geöffnet werden konnte, das gewisse Staatsgeheimnisse und Zacharias’ Testament enthielt. Colin beschrieb die Feindseligkeiten, die zwischen den Lordstatthaltern ausbrechen würden, insbesondere, falls kein Erbe bestimmt worden war.
»Es könnte sogar wieder zu einem Krieg zwischen den Klans kommen«, warf Richmont ein. »Genau wie damals, als König Agates Seeländer es versäumte, vor seinem Tod einen Erben zu bestimmen.«
»Deshalb war uns Euer Verlöbnis mit Zacharias so hochwillkommen«, sagte Colin. »Wenn ein König mit einer Königin verbunden ist, bedeutet das eine stabile Regierung, denn man weiß, dass Kinder geboren werden, die die Blutlinie ungebrochen fortsetzen werden. Leider ist diese Stabilität nun sehr gefährdet, insbesondere falls es unter den Statthaltern zu Zwistigkeiten wegen der Reichsführung käme. Es gibt Feinde, die es gern sähen, wenn Sacoridien dadurch geschwächt würde. Das Haus Hillander hat die Provinzen nach den Klankriegen vereinigt. Es wäre eine Katastrophe, wenn sich diese Union auflösen würde.«
Für Estora lag die Vermutung, worauf das alles abzielte, klar auf der Hand. »Sie möchten die Hochzeit abhalten, bevor … bevor Zacharias stirbt.«
»Ja, so ist es. Wir würden dafür sorgen, dass sie rechtlich bindend wäre, sodass Euer Rang als unsere Königin unanfechtbar wäre. Nach einer angemessenen Trauerzeit könntet Ihr dann einen Ehemann von edlem Blut auswählen, der an Eurer Seite regieren könnte.«
»Wenn Zacharias überlebt«, sagte Estora leise, »weiß ich nicht, ob er so etwas gutheißen würde.«
»Wir übernehmen die volle Verantwortung dafür, selbst wenn wir dadurch unsere Freiheit und unser Leben einbüßen«, antwortete Colin. »Euch wird er keine Vorwürfe machen. Ich denke, im Lauf der Zeit würde er einsehen, dass wir im besten Interesse des Reiches gehandelt haben.«
»Und wann sollte dies Ihrer Ansicht nach stattfinden?«
»Auf der Stelle«, sagte Richmont.
»Auf der Stelle?«
»Seine schwere Verwundung zwingt uns dazu«, sagte Colin. »Destarion rät uns zur Eile.«
Estora drehte sich alles im Kopf. »Wo ist Hauptmann Mebstone? Ich würde gern hören, was sie dazu meint.«
Colin trat von einem Fuß auf den anderen und sah unsicher aus. »Sie ist ganz plötzlich krank geworden, während Ihr bei Zacharias wart. Sie ist im Lazarettflügel. Ich glaube, das alles hat sie … überwältigt.«
Estora hob eine Augenbraue. Überwältigt? Nichts auf der Welt würde den Hauptmann der Reiter so leicht überwältigen, und nichts würde sie davon abhalten, an Zacharias’ Seite zu sein, wenn er sie brauchte. Krank? Vielleicht, aber Estora war nicht so naiv, um nicht zu wissen, dass in Zeiten, in denen ein Monarch geschwächt war, allen Menschen in seiner Umgebung Gefahr drohte. Sie würde sich später um das Wohlergehen des Hauptmanns kümmern.
»Dann möchte ich gern mit meiner Mutter sprechen.«
»Ich werde nach ihr schicken«, sagte Richmont. »Sie kennt unseren Vorschlag und scheint ihm zuzustimmen.«
Estora seufzte. Sie hatten jede Einzelheit bereits geplant.
Wie versprochen brachten sie Lady Coutre zu ihr, nun eine in Schwarz gekleidete Witwe, und ließen die beiden in Zacharias’ Boudoir allein, damit sie privat miteinander reden konnten. Estoras Mutter sah in ihrer Trauerkleidung bleich aus, aber ihre Haltung war aufrecht und sie wirkte sehr würdevoll. Estoras Eltern waren einander vor ihrem Hochzeitstag niemals begegnet. Ihre Verbindung war schon lange vorher arrangiert worden und diente dazu, Bündnisse innerhalb der Provinz zu stärken. Obwohl sie einander anfangs fremd waren, hatte sich zwischen ihnen eine tiefe Zuneigung entwickelt. Estora erinnerte sich, dass ihre Mutter vor ihrem eindrucksvollen Vater nie gekuscht hatte, wenn er einen seiner Tobsuchtsanfälle bekam, und wie sie seine Regierung als Herrin von Coutre mit ihrem Charme bereichert hatte.
»Seit du klein warst, habe ich dich genau auf diese Situation vorbereitet«, sagte Lady Coutre. »Du wurdest dazu ausgebildet, die Frau eines mächtigen Edelmannes zu sein.«
»Aber unter diesen Umständen!«
Lady Coutre nahm Estoras Hand und sah plötzlich zerbrechlich, verängstigt und einsam aus. »Mein liebes, liebes Kind, wenn wir eine Ehe eingehen, wissen wir niemals, was am nächsten Tag geschehen wird. Heute Morgen, als dein Vater aus dem Bett aufstand, war er stark und so gesund, wie ich ihn je gesehen habe; seine Augen strahlten, und er war bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen. Am Nachmittag war er tot. Kalt, so kalt.
Vielleicht ist Zacharias morgen schon von uns gegangen, vielleicht auch nicht. Sein Schicksal liegt in den Händen der Götter, aber mir ist sonnenklar, dass er deine Fürsorge jetzt mehr denn je braucht, deine Fürsorge für ihn und für sein Reich. Wer könnte seine Interessen besser vertreten als die Frau, mit der er vereinbart hat, den Rest seines Lebens zu verbringen?«
Sie umarmten einander und weinten gemeinsam, und Estora fasste einen Entschluss.
Die Zeremonie fand in Zacharias’ schwach beleuchtetem Schlafgemach statt. Der Bräutigam lag ruhelos in einem Fiebertraum unter seinen Laken, während ein Heiler-Assistent kalte, feuchte Umschläge auf seine Stirn legte. Die Braut trug noch immer ihre Reitkleidung und ihre Trauerstola. Jemand hatte ein paar getrocknete Blumen gefunden, die sie in der Hand halten konnte, denn die Erde war noch immer viel zu kalt, als dass Pflanzen hätten wachsen können.
Der Mondpriester der Burg vollzog mithilfe einiger Messdiener die Zeremonie, die von Lady Coutre, Estoras Schwestern, Richmont, Colin, General Harborough, Meister Destarion und dem Bürgermeister von Sacor-Stadt, begleitet von einem Gesetzesverkünder, bezeugt wurde. In den Ecken standen vier Waffen, gleichzeitig zur Bewachung und als weitere Zeugen. Zacharias’ Gemach war zwar geräumig, aber mit so vielen Leuten darin fühlte es sich nicht so an. Estora war sich der Abwesenheit ihres Vaters schmerzlich bewusst und kämpfte gegen die Tränen. Er hätte dabei sein sollen.
Der Priester referierte ausführlich über Treue und Kameradschaft, Liebe zu den Göttern, Liebe zur Familie und Fruchtbarkeit. Er klingelte mit einer Reihe silberner Glöckchen, von denen jedes eine der sieben Tugenden symbolisierte. Sie dienten dazu, vergangene Sünden auszutreiben, damit das Paar unbelastet und unbesudelt von der Vergangenheit in die Ehe eintreten konnte. Man wies Estora an, Zacharias’ Hand zu ergreifen. Sie war heiß und schweißnass. Schwer.
»Schwört Ihr den Göttern Eure Liebe und Treue zu unserem König Zacharias?«, fragte sie der Priester.
»Ja.«
Er stellte Zacharias die entsprechende Frage in Bezug auf sie, aber da dieser nicht antworten konnte, sprach Colin für ihn.
»Die Ringe«, sagte der Priester.
Colin zog die Ringe hervor, beide aus Gold und beide verziert mit einem verschlungenen Muster des Sichelmondes. Schon vor Monaten hatte man Estora und Zacharias die Maße für die Ringe abgenommen. Sie hatte gar nicht gewusst, dass ihre Herstellung bereits erfolgt war.
Der Priester sang über den Ringen und bat dann Colin, Estora den ihrigen über den Finger zu schieben. Das tat er, wobei er zitterte, als wäre er selbst der Bräutigam. Dann mühte sich Estora, Zacharias’ angeschwollenen Finger in den Ring zu zwängen.
»Zacharias und Estora, Ihr seid nun verheiratet. Möge der Segen von Aeryc und Aeryon jetzt und für immerdar mit Euch sein.«
Estora beugte sich hinab und küsste Zacharias’ leblose Lippen, um das Ehebündnis zu besiegeln. Niemand klatschte, niemand scherzte, niemand rief der Braut und dem Bräutigam Segenswünsche zu. Ein letzter Ritus würde heute Nacht unerfüllt bleiben, nämlich der Brauch, dass die Braut zum ersten Mal in das Bett ihres Mannes kam, der rituelle Vollzug der Ehe.
Die Anwesenden strömten hintereinander aus dem Gemach wie Leidtragende, um den gesetzlichen Ehevertrag zu unterschreiben, der im Vorzimmer für sie bereitlag und der sie zu offiziellen Zeugen der Eheschließung erklärte. Nur Estoras Mutter und ihre Schwestern blieben, um sie zu umarmen und zu küssen. Sie beugten sich auch zu Zacharias hinunter, der nun vor dem Gesetz ihr Schwiegersohn und Schwager war.
Als sie fort waren, ließ sich Estora in den Stuhl neben Zacharias fallen und flüsterte: »Ich möchte zu gern wissen, was Ihr dazu sagen würdet, dass die Hochzeit um drei Monate vorgezogen wurde. Ich bete darum, dass ich es bald hören werde.«
Er reagierte nicht. Sie nahm seine Hand erneut, die Hand, die den Ring trug, und drückte sie an ihr Gesicht. »Bitte stirb nicht«, flüsterte sie. »Ich bin noch nicht so weit, das alles allein zu machen. Bitte, stirb nicht.«
Schon ihre erste Liebe, F’ryan Coblebay, war an einer Pfeilwunde gestorben. Sie glaubte nicht, dass sie einen solchen Verlust noch einmal verkraften würde.