DIE SAGEN DER SEEKÖNIGE
Estora sank auf den Stuhl neben Zacharias’ Bett.
»Ich hoffe, Ihr versteht mich«, sagte sie.
Er lag friedlich da und reagierte wie üblich nicht auf ihre Worte und ihre Gegenwart.
Die Entscheidung, die sie heute wegen Hauptmann Mebstone getroffen hatte, war nur eine von mehreren, die sie bereits seit ihrer Krönung hatte fällen müssen. Die Zeremonie war hastig und in bedrückter Stimmung über die Bühne gegangen, und jeder Würdenträger, den man in der Burg hatte finden können, war zugegen gewesen. Ihre Mutter und ihre Schwestern waren gerade noch lang genug geblieben, um Zeugen der Feier zu sein, bevor sie mit dem Leichnam ihres Vaters aufbrachen.
In gewisser Hinsicht war ihre Krönung ähnlich verlaufen wie ihre Hochzeit, nur mit dem Unterschied, dass sie diesmal keinen Mann heiratete, sondern eine Krone. Ihre Finger tasteten nach dem Diadem auf ihrem Kopf. Es passte nicht besonders gut, aber Colin hatte ihr versichert, dass der königliche Juwelier es ihr problemlos würde anpassen können.
Sie wusste, dass weitere Entscheidungen auf sie warteten. Bei einigen davon ging es um Leben und Tod, andere waren weniger wichtig. Sie war davon überzeugt, dass Cummings sehr wohl in der Lage war, in ihrem Namen das Krönungsbankett zu organisieren. Alles Übrige lag in Colins Händen. Er wollte ihr Zeit geben, sich an ihre neue Rolle zu gewöhnen und den Schock über den plötzlichen Tod ihres Vaters zu verarbeiten.
»Wenn Ihr wüsstet«, flüsterte sie Zacharias zu.
Sie nahm ein Tuch, das in einer Schüssel mit kühlem Wasser eingeweicht lag, wrang es aus und tupfte ihm sanft den Schweiß vom Gesicht. Plötzlich flatterten seine Augenlider und öffneten sich, und er griff nach ihrem Handgelenk. Trotz seiner Krankheit besaß sein Griff eine enorme Kraft.
»Ich wollte sie anflehen, nicht zu gehen«, sagte er und seine Augen glänzten vor Fieber. Dann ließ er ihr Handgelenk los, murmelte noch etwas und fiel wieder in seinen unruhigen Schlummer zurück.
»Zacharias?«, rief sie. »Zacharias?« Aber er reagierte nicht.
Sie lehnte sich zurück und fragte sich, ob er aus einer Erinnerung oder einem Traum heraus gesprochen hatte, oder ob er einen Teil ihres Gesprächs mit Hauptmann Mebstone in sein Unterbewusstsein aufgenommen hatte.
Ihr Handgelenk trug noch immer die Abdrücke seines festen Griffs. Sie lockerte ihre Hand und griff nach dem Buch auf seinem Nachttisch. Manchmal sprach sie mit ihm, wie Meister Destarion empfohlen hatte, und erzählte ihm alles, was geschehen war. Sie sprach von ihrer Trauer und ihrer Hoffnung, dass ihnen eine leuchtende Zukunft bevorstand, sobald er wieder gesund war, und dass sie das Reich in Einigkeit und Frieden regieren würden und Kinder großziehen würden, die gesund und glücklich waren. Jede junge Braut wünschte sich diese Dinge, aber nur wenige Bräute waren gezwungen, die Herrschaft über etwas zu ergreifen, das über ihren eigenen Haushalt hinausging.
Es war Estora unangenehm gewesen, mit ihm zu sprechen, während sich Heiler um ihn kümmerten, deshalb hatte sie sich angewöhnt, Zacharias stattdessen etwas vorzulesen, und selbst wenn sie wie jetzt allein waren, merkte sie, dass ihr das Vorlesen Spaß machte, denn es bot ihr eine Flucht aus all dem Durcheinander, das sie umgab. Sie hoffte, dass ihre Stimme Zacharias irgendwo tief im Inneren berühren und trösten würde. Auf ihren Wunsch hatte Meister Fogg, der Bibliothekar der Burg, ein Buch mit dem Titel Sagen der Seekönige aufgespürt.
Sie hatte ihm bereits die Geschichten von Marin der Gärtnerin vorgelesen, von der es hieß, sie sei eine Zauberin gewesen, die auf der Inselgruppe im Nordmeer lebte und sich am Wachstum der Natur erfreute. Ihr Garten bedeckte eine ganze Insel: Da gab es Wälder, Wiesen und Strände, und viele Wesen, die dort mit ihr lebten.
Die meisten Sagen über die Seekönige spielten im Nordmeer und auf seinen Inseln, und die nächste Geschichte, die sie aufschlug, war bei den Seeleuten besonders beliebt. Es ging um die Verführerin Yolandhe, die König Akarion an ihre Ufer lockte und nicht mehr fortließ. Als der Zauber verblasste, blieb Akarion aus Liebe trotzdem bei ihr, aber Yolandhe war unsterblich und Akarion sterblich. Des Ende der Geschichte war stets bittersüß.
Trotz ihrer Hinterhältigkeit war Yolandhe Estora aufgrund ihrer Einsamkeit immer sympathisch gewesen. Wenn sie die Sagen allerdings logisch betrachtete, gab es anscheinend auf fast allen Inseln Zauberinnen, und Seeleute landeten ständig aufgrund des einen oder anderen Zauberspruchs an ihren Gestaden.
»Die ist die Geschichte von Yolandhe und König Akarion«, las Estora Zacharias vor. »Sie berichtet, wie der König sich Yolandhes Liebe errang.« Viele Versionen dieser Sage waren sehr moralisch, und der Nachdruck lag darauf, dass Akarion Yolandhe gezähmt und ihr ihre Bosheit abgewöhnt hatte. Es würde interessant sein, ob diese Version demselben Schema folgte oder nicht.
Sie tat es nicht, sondern konzentrierte sich darauf, wie Yolandhe den König verführt hatte und erzählte, dass sie einander anschließend viele Jahre lang fast ununterbrochen körperlich geliebt hatten.
»Hören sie denn nie zwischendurch auf, um zu schlafen oder zu essen?«, fragte Estora, der es bei jedem Wort wärmer wurde, sodass sie sich mit dem Buch Luft zufächeln musste. »Wer hat das geschrieben?« Als sie nachsah, war der Autor mit »Anonym« angegeben.
Sie dankte den Göttern, dass niemand ihr beim Lesen zusah oder zuhörte, und dass selbst die Waffen ihr eine gewisse Privatsphäre einräumten und draußen vor der Tür Posten bezogen, wenn sie bei Zacharias war. Er blieb still und war noch immer bewusstlos. Die Geschichte von Yolandhe und Akarion hatte sie so erregt, dass sie sich wünschte, er würde aufwachen, sie in die Arme nehmen und sie lieben.
Wäre Zacharias in ihrer Hochzeitsnacht nicht so schwer verletzt gewesen, hätten sie den Ritus des Ehevollzuges bereits hinter sich, eine uralte Zeremonie, bei der Zeugen zugegen waren, um zu gewährleisten, dass das neue Königspaar sich an seine Aufgabe machte, Erben zu zeugen. Ihre Heirat war bereits gesetzlich bindend, aber einige Leute hielten sich noch an die alten Sitten und würden sie nicht anerkennen, bevor dieser Ritus stattgefunden hatte, und wenn sich ein Paar weigerte, verloren beide ihren Titel und wurden geächtet. Manchmal hatten Traditionen mehr Einfluss als das Gesetz.
Unter den gegebenen Umständen hoffte sie, dass man über die Notwendigkeit dieses Ritus hinwegsehen würde und sie sich ohne eine begierige Zuschauermenge mit Zacharias würde vereinigen können. Aber da ihr Vetter Richmont ständig von dem Ritus sprach, schien dies unwahrscheinlich. Sie wusste, dass er damit lediglich gegenüber allen einflussreichen Gruppen, einschließlich der konservativsten, ihren Status als Königin dauerhaft zementieren wollte, wodurch seine eigene Autorität natürlich ebenfalls gefestigt wurde.
Sie schauderte bei dem Gedanken, den Geschlechtsakt vor allen möglichen bekannten und unbekannten Leuten vollziehen zu müssen. Sie nahm ihre Lektüre wieder auf, verbannte den Ritus des Ehevollzuges in den Hintergrund ihrer Gedanken und genoss die Ruhepause, wobei sie hoffte, dass ihre Stimme bis zu Zacharias durchdringen und ihm versichern würde, dass er nicht allein war.
Zacharias’ Boudoir entwickelte sich rasch zu Estoras Arbeitsraum. Cummings half ihr dabei, sich durch den steten Strom von Genesungswünschen und Beileidsbriefen zu arbeiten. Er sagte ihr, dass man kein Krönungsbankett abhalten würde, bevor nicht zumindest einige Lordstatthalter zugegen waren. Natürlich würde es nicht einfach werden. Es stand den Lordstatthaltern frei, die hastige Hochzeit und Krönung anzufechten, aber sie hoffte, dass Colin die Situation meistern und derartigen Konflikten vorbeugen würde. Hauptmann Mebstones Stubenarrest war nicht zuletzt deshalb notwendig gewesen.
Die Botschaft, mit der Colin die Grünen Reiter ausgesandt hatte, unterstrich Zacharias’ Wunsch, aus Zuneigung zu seiner Verlobten die Hochzeit vorzuziehen und erwähnte einen »Reitunfall«, der ihn dazu angeregt hatte, die Wichtigkeit einer unkomplizierten Machtübergabe neu zu überdenken, falls ihm etwas Schlimmes zustoßen sollte. Die Gerüchte, die in der Stadt und auch im Umland kursierten, hatten die Umstände des Unfalls bereits so verzerrt, dass es den Lordstatthaltern kaum gelingen würde, die Wahrheit herauszufinden. Inzwischen hatten Colin und seine Assistenten weitere Gerüchte darüber, was an jenem Nachmittag in den Straßen von Sacor-Stadt geschehen war, in Umlauf gesetzt. Der temperamentvolle Hengst des Königs war scheu geworden. Der König war gestürzt und hatte sich verletzt. Er befand sich unter der Obhut der besten Heiler der Burg, und sein Zustand erlaubte es ihm zu heiraten.
Angeblich würden die offiziellen Feierlichkeiten stattfinden, sobald der König wieder gesund und die Lordstatthalter zugegen waren, aber man hörte jetzt schon Berichte, dass die Bürger der Stadt in den Straßen feierten, und diese Begeisterung würde sich zugleich mit den Neuigkeiten im ganzen Land ausbreiten.
Die Lordstatthalter konnten die Hochzeit und die Krönung zwar immer noch anfechten, aber die Stimmung im Reich würde sich gegen sie richten wie die Wellen einer hereinbrechenden Sturmflut.
Es klopfte an der Tür, und Estora nickte Cummings zu, damit er öffnete. Es gab ein Getuschel unter den Leuten, die da Einlass begehrten, wer sie auch sein mochten, aber sie hob ihren Blick nicht von den Papieren, bis Cummings zur Seite trat und drei Menschen sich ihr näherten: Colin, General Harborough und Leutnant Connly von den Grünen Reitern. Sie verneigten sich vor ihr.
»Was steht an?«, fragte sie und betete, es möge so kurz nach ihrem Amtsantritt als Königin keine Krise geben, als wäre der Angriff auf ihren Verlobten und der Tod ihres Vaters noch nicht genug.
»Ich fürchte, es gibt eine Krise«, antwortete Colin und sagte damit genau das, was sie am wenigsten hören wollte. »Eigentlich sogar zwei.«
Estora schloss die Augen, und die Papiere in ihrer Hand zitterten. Nein. Sie durfte nicht schwach erscheinen. Sie holte tief Luft und stählte sich.
»Erzählen Sie«, sagte sie.
»Beide Nachrichten erhielten wir durch die Grünen Reiter«, sagte Colin. »Leutnant?«
Der Reiter nickte, und Estora fragte sich, ob er sich wohl ohne seinen Hauptmann ebenso verloren fühlte wie sie sich ohne den König.
»Eure Hoheit«, sagte er. »Wir haben Nachrichten aus dem Süden und aus dem Norden erhalten.« Zunächst erzählte er ihr, was er vom Wall erfahren hatte, eine unglaubliche Geschichte über einen eletischen Schläfer, der in einem der Türme gefangen war, wobei er ihr zugleich erklärte, was ein Schläfer überhaupt war. Und dass womöglich noch weitere Schläfer, pervertiert von der Finsternis des Schwarzschleiers, durch die Türme nach Sacoridien vordringen könnten.
»Reiter D’Yer und Hauptmann Wallace haben darum ersucht, weitere Truppen zur Bewachung der Türme am Wall zu stationieren«, schloss Connly.
General Harborough öffnete den Mund, um zu sprechen, aber Colin bedeutete ihm mit einer Geste zu warten. »Lassen Sie Leutnant Connly erst den Bericht über den Norden abgeben«, sagte er.
Der General verschränkte seine fleischigen Arme und wartete mit kaum verhohlener Ungeduld.
»Ich habe Berichte von Reitern erhalten«, sagte Connly, »die versucht haben, Birch und seine Rebellen vom Zweiten Reich an der Nordgrenze aufzuspüren. Es hat dort Zwischenfälle gegeben.« Er richtete die Augen zu Boden. »Die Reiter sind auf kleine Siedlungen gestoßen, die zerstört worden sind und deren Bewohner vom Baby bis zum Greis ermordet wurden. Sie haben Hinweise darauf gefunden, dass diese Menschen vor ihrer Hinrichtung schrecklich und gnadenlos gefoltert wurden.«
Estora lehnte sich entsetzt zurück. »Birch … greift unsere Grenzen an?«
»Verfluchter Bastard«, brummte Harborough. Als er merkte, was er gesagt hatte und zu wem, räusperte er sich. »Ich bitte um Vergebung für meine groben Worte, Hoheit. Ich bin es gewohnt, mit dem König zu sprechen.«
Mit einem Mann, dachte sie. »Es ist schon gut. Was wollten Sie sagen?«
»Eure Hoheit … dieses Grenzvolk, das die Wildnis da oben besiedelt hat … Sie leben zwar unabhängig, aber sie sind keinesfalls auf militärische Überfälle vorbereitet, wie Birch sie durchgeführt hat. Den Berichten zufolge waren die Angriffe und die folgenden Folterungen, Vergewaltigungen und Hinrichtungen methodisch geplant. Ist es nicht so, Reiter?«
»Jawohl, Sir«, antwortete Connly.
»Anscheinend trainiert Birch seine Abtrünnigen für militärische Gefechte, indem er sie abhärtet und zunächst schwache Gegner angreift. Er weiß natürlich, dass diese Überfälle den Zorn des Königs erregen, auch wenn diese Siedler technisch gesehen nicht in Sacoridien wohnen. Die Tatmerkmale, von denen Leutnant Connly sprach, hat Birch zweifellos als Provokation zurückgelassen. Birch macht sich über uns lustig.«
Estora leckte sich die Lippen und kämpfte gegen ihre Angst an, als ihr klar wurde, dass sie entscheiden musste, wie das Reich den Angriffen begegnen würde, und auch für das Leben der Grenzsiedler und der Soldaten verantwortlich war, die Birch schließlich angreifen würden.
Sie wusste, dass der General wahrscheinlich darauf brannte, augenblicklich eine Diskussion darüber zu beginnen, welche Maßnahmen zu ergreifen waren, aber zunächst fragte sie Connly: »Was ist mit den anderen Leuten, mit den Siedlern, die bisher noch nicht angegriffen wurden?«
»Sie haben gehört, was passiert ist«, antwortete er, »und die meisten suchen auf unserer Seite der Grenze Zuflucht, wie damals während der Überfälle der Erdriesen.«
Estora erinnerte sich daran. Manche Provinzen, wie zum Beispiel Adolind, hatten die Flüchtlinge willkommen geheißen, während andere, darunter D’Ivary, dies nicht getan hatten. D’Ivary hatte die Flüchtlinge sogar misshandelt. Deshalb hatte D’Ivary nun aufgrund eines königlichen Dekrets, dem alle anderen Lordstatthalter zugestimmt hatten, einen neuen Lordstatthalter.
Sie wandte sich an Colin. »Sorgen Sie dafür, dass die Lordstatthalter die Flüchtlinge bereitwillig in ihren Provinzen aufnehmen. Der König wird, genau wie ich, ihre Sicherheit gewährleisten wollen. Falls es Schwierigkeiten gibt, erinnern Sie sie an D’Ivary.«
Colin verneigte sich. »Jawohl, Eure Hoheit.«
»Haben Sie sonst noch etwas zu berichten, Reiter?«
»Nein, Eure Hoheit.«
»Dann danke ich Ihnen. Sie können sich zurückziehen.«
Er verbeugte sich und entfernte sich rasch, mit einem schnellen Blick auf die Tür, die in Zacharias’ Schlafgemach führte. Bestimmt wünschte er sich nichts sehnlicher, als über den Zustand seines Königs Bescheid zu wissen und zu erfahren, was mit seinem Hauptmann geschehen würde. Hätten die Dinge anders gelegen, wäre Hauptmann Mebstone jetzt hier gewesen und hätte Estora beraten. Und wenn Mebstone verhindert gewesen wäre, hätte Estora den Leutnant gebeten zu bleiben. Aber die Dinge lagen nun einmal nicht so. Man hatte Connly über die Dienstenthebung des Hauptmanns und seine neuen Pflichten informiert. Ihm musste die ganze Situation äußerst bedrohlich erscheinen und sie hatte keinen Zweifel darüber, wem seine Treue galt: dem König und seinem Hauptmann. Was sie betraf, war er unsicher und wagte es noch nicht, ihr zu vertrauen, trotz ihrer früheren engen Beziehung zu den Reitern. Mit der Zeit würde sie ihn ins Vertrauen ziehen und versuchen, sein Misstrauen zu überwinden, aber im Augenblick musste sie sich um dringendere Angelegenheiten kümmern.
Und sie musste mit Entschiedenheit handeln.
»Wir müssen Birch einen Schlag versetzen«, sagte General Harborough, »und zwar mit aller Schärfe. Ich kann eine Streitmacht einberufen und nach Norden marschieren, um …«
»Was ist mit den Türmen?«, fragte sie.
»Die stellen keine unmittelbare Bedrohung dar.«
»Woher wissen Sie das?«
Harborough wurde unsicher, und sah Colin hilfesuchend an. Colin blieb jedoch neutral und sagte nichts. Zweifellos erwartete der General von ihr, all seinen Vorschlägen zuzustimmen. Schließlich war sie eine Frau ohne jegliche Erfahrung in diesen Dingen, die nichts von Kriegführung verstand.
»Wir wissen es nicht«, gab der General schließlich zu. »Aber Ihr habt gehört, was der Reiter gesagt hat. Vielleicht war dieser Schläfer schon seit Jahren in dem Turm, und vielleicht gibt es außer ihm gar keine. Zumindest keine, die aufwachen, oder was auch immer sie machen. Lord D’Yer kann sich darum kümmern. Birch dagegen greift uns aktiv an. Er stellt die größere Bedrohung dar.«
»Wenn ich mich einmischen darf«, sagte Colin, »Lord D’Yer setzt seine Truppen inzwischen schon seit drei Jahren am Wall ein, und die königliche Armee hat ihn dabei nur minimal unterstützt. Seine Möglichkeiten sind erschöpft. Ich meine, wir könnten durchaus mehr Soldaten am Wall stationieren. Diese Grenze wurde allzu lang vernachlässigt, und die Geschehnisse an der Bresche sind die Folgen dieser Vernachlässigung.«
Harborough runzelte in kaum noch beherrschter Wut die Stirn. »Die D’Yers haben angeblich die Verantwortung für den Wall übernommen. Ich rate davon ab, unsere Streitkräfte auf diese Weise zwischen zwei Fronten aufzusplittern. Wenn wir Birch und seine Abtrünnigen besiegt haben, können wir uns anschließend um den Wall kümmern.«
Sowohl Colin als auch Harborough gingen auf und ab, während sie hitzig ihren Standpunkt vertraten. Estora sehnte sich mehr denn je danach, dass Zacharias gesund wieder aufwachen möge. Woher sollte sie wissen, was zu tun war? Zacharias würde es wissen. Sie war davon überzeugt, dass Karigan es ebenfalls wissen würde. Karigan hatte Estora aus den Fängen ihrer Entführern befreit und sich anschließend auch noch eine Strategie ausgedacht, die die Banditen an einer weiteren Verfolgung gehindert hatte, sodass sie ihnen hatte entfliehen können. Es war ein riskanter, aber brillanter Plan gewesen. Karigan hatte sich selbst zum Lockvogel gemacht, indem sie Estoras Kleider anzog und die Banditen dazu brachte, sie statt Estora zu verfolgen.
Als sie sich daran erinnerte, kam Estora eine Idee.
»Meine Herren«, sagte sie und unterbrach eine Diskussion, die sich schon fast zu einem Streit entwickelt hatte. Die beiden starrten sie an, als hätten sie vergessen, dass sie überhaupt zugegen war. »Birchs Angriffe sind heimtückisch, nicht wahr?«
»Ja«, fing Harborough an, »aber …«
»Und unseren Spurenlesern und Spitzeln fällt es schwer, ihn aufzuspüren und seine Bewegungen zu verfolgen.«
»Das ist richtig.«
»Dann verstehe ich nicht, wie Sie ihm in einer offenen Schlacht begegnen wollen.«
Harboroughs Gesicht fiel in sich zusammen, und seine Wangen wurden noch röter als vorher. »Wir werden unsere Kundschaftertätigkeit ausweiten und ein geeignetes Schlachtfeld wählen.«
»Aber er folgt nicht den üblichen Taktiken der Kriegsführung«, warf Colin ein. »Er greift hilflose Zivilisten an.«
Harboroughs Brust blähte sich auf und er sah aus, als wollte er Colin anbrüllen. Zweifellos gehörte der General nicht zu den Männern, die gern hörten, dass sie sich irrten.
»Meine Herren«, sagte Estora streng, »ich muss Colin zustimmen. Ich glaube, dass unsere Situation eine neue Strategie erfordert. Die Gebirgseinheit unterhält einen Stützpunkt im Norden, nicht wahr?«
Harborough nickte. »Aber das ist eigentlich nur ein Außenposten, er ist zu klein, um …«
Estora brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Dann erklärte sie den beiden, was sie geplant hatte, und beide starrten sie sprachlos an.
Als sie fertig war, strich sich Harborough nachdenklich übers Kinn. »Ich muss mit meinen Offizieren und strategischen Beratern konferieren«, sagte er, »aber ich muss zugeben, die Idee ist erstaunlich. Zu ihrer Ausführung werden wir dennoch weitere Soldaten benötigen.«
»Selbstverständlich«, sagte sie, »aber bestimmt könnte man eine Einheit entbehren und am Wall stationieren, zumindest vorübergehend, während wir uns um die Situation im Norden kümmern. Ich denke, die nächste Vollversammlung der Lordstatthalter wäre ein guter Zeitpunkt, um zu erwähnen, dass es an der Zeit für sie ist, eine aktivere Rolle bei der Verteidigung des Walles zu übernehmen. D’Yer hat bisher die Bürde fast allein getragen, aber die Bedrohung reicht weit über D’Yer hinaus. Sie betrifft ganz Sacoridien. Vielleicht kann ich sie dazu bringen, mehr Truppen aus dem Provinzen zum Schutz des Walles abzukommandieren.«
Beide Männer sahen aus, als seien sie mit ihrer Lösung des Problems zufrieden, und als General Harborough weggegangen war, sagte Colin: »Wenn ich so dreist sein darf, Eure Majestät: Ihr seid mit diesem schwierigen Problem ausgezeichnet umgegangen. Ich glaube kaum, dass Zacharias es hätte besser machen können.«
Als auch Colin gegangen war, stand Estora schwankend auf, betrat Zacharias’ Schlafgemach und setzte sich an sein Bett. Sie hätte beflügelt oder zumindest erleichtert sein sollen, aber stattdessen vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und weinte, und ihr bewusstloser Ehemann war der einzige Zeuge ihrer Tränen.
»Ihr müsst aufwachen«, flüsterte sie ihm zu. »Ich habe nicht genug Kraft. Ich kann das alles nicht allein ertragen.«