WASSERMUSIK

e9783641094324_i0049.jpgAlton wünschte sich, dass er irgendetwas Kluges oder Geistreiches hätte sagen können, während sie warteten, aber es war, als wüsste er gar nicht mehr, wie man das machte. Er war aus der Übung. Er hatte seine ganze Aufmerksamkeit dem Wall gewidmet, und dazu brauchte er mit niemandem zu plaudern. Er hatte sogar seit ziemlich langer Zeit gar keine Lust mehr gehabt, mit anderen zu reden, außer vielleicht mit Dale und Merdigen. Jetzt aber stellte er fest, dass er mit Estral sprechen wollte, nur um ihre Stimme und ihr helles Lachen zu hören. Er wollte, dass sie auf ihn reagierte.

Karigan. Er hätte gern mit Karigan gesprochen. Wenn sie doch nur am Wall stationiert worden wäre, worum er ersucht hatte, aber sie war nicht da. Wenn sie ihm wenigstens schreiben würde! Er war so unsicher, was sie betraf, und wusste nicht, was sie für ihn empfand und ob sie überhaupt an ihn dachte. Er wollte Estral nach Karigan fragen, aber er wusste nicht wie. Anscheinend kam nie der geeignete Moment dafür, und er stellte zu seiner nicht geringen Überraschung fest, dass er in letzter Zeit nicht oft an sie gedacht hatte. Er war … abgelenkt gewesen.

Wie zur Antwort auf seine Grübelei oder vielleicht, weil sie ebenfalls das Bedürfnis hatte, das Schweigen zu füllen, sagte Estral: »Nach dieser Aufregung am Turm kann ich mir jetzt vielleicht vorstellen, was für Abenteuer Karigan erlebt.«

Eine Gelegenheit. Alton stürzte sich darauf. »Hörst du oft von ihr?«

Estral kicherte. »Ach, du kennst doch Karigan – sie ist nicht gerade die beste Brieffreundin. Gelegentlich bekomme ich einen Brief, aber leider ist sie meist sehr zugeknöpft, was Einzelheiten angeht. Meist bekomme ich die wichtigeren Nachrichten, wie zum Beispiel Lady Estoras Befreiung, über Dritte.«

»Über Dritte?«

»Über andere Sänger. Manchmal erfährt Mel ein oder zwei Details von eurem Hauptmann.«

Alton hatte vergessen, dass Mel, die Tochter des Hauptmannes, in Selium studierte.

»Tja«, fuhr Estral fort, »Karigan hat mir kein einziges Wort über ihre Rolle bei Lady Estoras Rettung geschrieben. Aber als sie im Herbst auf der Suche nach Silberholz’ Buch vorbeikam, haben wir lange geredet.«

»Hat sie… hat sie irgendetwas über mich gesagt? Außer dass ich, äh, gemein zu ihr war?« Er schnitt eine Grimasse, als er sich so reden hörte, und fühlte, wie seine Wangen heiß und rot wurden.

Estral sah an ihm vorbei und überlegte vielleicht, wie sie ihm antworten sollte. Er ahnte, dass das nichts Gutes verhieß.

»Es kam zur Sprache«, sagte Estral. »Deine Wut auf sie hat sie wirklich verletzt.«

»Ich weiß.«

»Sie hat verstanden, dass du hier am Wall unter großem Druck standest, aber sie hat nicht verstanden, warum du deshalb so wütend auf sie warst. Trotzdem mag sie dich immer noch sehr gern.«

Alton spürte eine Welle von Schuldgefühlen. Ja, sie hatte ihm verziehen, aber er wusste nicht, ob er sich selbst verzeihen konnte. »Wie … wie gern denn? Ich meine, wie gern mag sie mich?«

Estral antwortete nicht und richtete ihren Blick auf den Wald, wo Dale gerade aus dem Unterholz wankte. Im nachlassenden Nachtmittagslicht sah ihr Gesicht bleich und abgezehrt aus. Als sie bei Kiebitz ankam, bekam sie anscheinend nicht einmal ihren Zeh in den Steigbügel, um aufzusteigen. Augenblicklich verbannte Alton all seine persönlichen Probleme aus seinen bewussten Gedanken.

»Dale?«, fragte er. »Wie geht es dir?«

Sie beachtete ihn nicht und versuchte erneut aufzusteigen, aber Kiebitz wich ihr aus und sie konnte sie nicht erreichen. Alton wusste, dass Botenpferde manchmal klüger waren als ihre Reiter, deshalb glitt er von Nachtfalkes Rücken und berührte Dales Arm. Sie zitterte und er sah den Schmerz in ihren Augen. Er betrachtete die Brandwunde. Sie sah böse aus, rot, geschwollen und voller Brandblasen.

»Wir rasten hier über Nacht«, verkündete er. »Wir haben noch einen langen Ritt vor uns, und ich glaube, es ist besser, wenn du dich ausruhst, bevor wir weiterreiten.«

Dass Dale nicht protestierte, bewies, wie viel Schmerzen sie hatte. Alton sorgte dafür, dass sie sich, eingehüllt in seinen Überzieher, auf einen Stein setzte, während er und Estral sich um die Pferde kümmerten und das Lager aufschlugen.

Er beobachtete Estral aus dem Augenwinkel, als sie Feuerholz suchte und auf einen Haufen warf, bevor sie wegging, um noch mehr zu holen. Sie arbeitete effizient, schweigend und ohne sich zu beklagen, ganz anders als die typische adlige Städterin, die er erwartet hatte, genauso kompetent wie ein Grüner Reiter. Seine Mundwinkel bogen sich lächelnd nach oben. Dann räusperte er sich und kontrollierte seine Züge, denn ihm fiel ein, dass Dale vorhin gesagt hatte, er würde in letzter Zeit so oft lächeln.

In kürzester Zeit hatten sie zwei kleine Zelte aufgebaut und entzündeten ein Lagerfeuer. Sie machten es Dale in einem der Zelte bequem, und nun brühte Estral Tee auf.

»Ich habe einen großartigen Weidenrindentee, der Dale bestimmt hilft«, sagte sie. »In Selium gibt es einen Apotheker, der nur die beste Qualität führt, und ich bekomme seit Jahren Weidenrindentee von ihm. Gegen Kopfschmerzen. Habe ich oft.«

»Ach.«

Als der Tee nach Estrals Meinung lange genug gezogen hatte, brachte sie die Tasse in das Zelt, in dem Dale sich ausruhte. Unterdessen bereitete Alton für alle eine einfache Mahlzeit aus Brot, kaltem Rindfleisch und Käse. Sie aßen schweigend, während der Himmel über ihnen sich mitternachtsblau färbte und die Sterne mit ihrem funkelnden Licht durchbrachen. In der Nähe kauten die Pferde ihre Getreiderationen, und aus dem Unterholz erklangen die huschenden Geräusche kleiner Tiere. In der Ferne schrie eine Eule.

»Ich will Musik hören!«, schrie Dale aus ihrem Zelt und unterbrach die Stille.

Alton spuckte fast seinen Tee aus.

»Tja«, sagte Estral, »anscheinend habe ich meine Befehle bekommen.« Sie schob die Überreste ihrer Mahlzeit beiseite, öffnete ihren Lautenkasten und stimmte erneut die Saiten.

»Irgendeinen besonderen Wunsch?«, rief sie Dale zu.

»Irgendetwas Gutes, Geiles.« Auf ihre Anordnung folgte etwas, das Alton nur als verdächtiges Feixen werten konnte.

»Was Gutes, Geiles, wie?«, murmelte Estral nachdenklich und sah im Gegensatz zu Alton absolut nicht schockiert drein, aber dann fiel ihm ein, dass man wahrscheinlich alle möglichen Wünsche an sie richtete, je nachdem, in welcher Umgebung sie spielte und vor welchen Zuhörern.

Sie begann ein Lied über einen Holzfäller, der darauf aus war, die Tochter des Gastwirtes mit der Größe seines Fichtenstammes zu beeindrucken. Die vielen vulgären Wortspiele des Textes befriedigten Dale mit Sicherheit, und als das Lied beendet war, glühten Altons Ohren. Nach dem letzten Akkord lächelte Estral ihn liebenswürdig an.

»Ist er rot geworden?«, fragte Dale.

»Das ist im Feuerschein schwer zu sagen«, antwortete Estral, »aber ich glaube schon.«

»Haha!«

Alton machte ein finsteres Gesicht. Dale hatte gewollt, dass er vor Estral rot wurde. »Wo hast du denn dieses Lied gelernt?« , fragte er streng. Bestimmt gehörte das nicht zur Ausbildung der Studenten in Selium. Bestimmt nicht …

»In einem Holzfällerlager natürlich«, antwortete Estral.

Alton konnte sie sich in einem Lager voll solch roher Männer nicht vorstellen. Die würden sie als köstlichen Leckerbissen betrachten. Was man über ihr barbarisches Benehmen und ihre rauen Sitten für Geschichten hörte! »Ein Holzfällerlager? Bist du verrückt? Bei diesen ungeschliffenen, unzivilisierten Grobianen?«

Estral hielt inne, als würde sie darüber nachdenken, und schüttelte dann den Kopf. »Nein, ich nicht. Meine Mutter vielleicht.«

»Deine Mutter

Estral lachte. »Ja, meine Mutter. Sie war die Leiterin eines Lagers nördlich von Norden. Ich wurde dort geboren, ja, in diesen Wäldern, zwischen all den ungeschli f fenen, unzivilisierten Grobianen. Sie sagt, als ich zur Welt kam, hätten sie sich alle wie stolze Väter benommen.«

Alton runzelte die Stirn, als er sich vorstellte, wie eine Gruppe ungeschlachter, verdreckter Holzfäller sich über ein Baby beugten und verzückte Laute ausstießen. »Ich … ich dachte, dein Vater war …«

»Aaron Fiori? Ja, der ist mein Vater.«

»Aber … wie?«

Gelächter drang aus Dales Zelt. »Ich glaube, du musst ihm das mit dem Holzfäller und dem Fichtenstamm mal erklären.«

Alton starrte finster zu dem Zelt hinüber, obwohl Dale ihn gar nicht sehen konnte. Auf keinen Fall würde er wieder mit diesen beiden Frauen reisen. »Du weißt, was ich meine.«

»Natürlich«, sagte Estral grinsend. Altons Ohren glühten nur noch mehr. »Mein Vater ist ein fahrender Sänger. Eine Zeit lang besuchte er das Holzfällerlager, und meine Mutter verknallte sich in ihn. So einfach war das, und als es Zeit war, dass er seine Wanderung fortsetzte, zog er weiter und hatte keine Ahnung, dass er ein Kind gezeugt hatte.«

Alton wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte sich Estrals Mutter als distinguierte Dame vorgestellt, die irgendwo hinter den Mauern Seliums auf ihrer Harfe klimperte, und nicht als Chefin eines Holzfällerlagers, die einen Haufen grober, axtschwingender Hinterwäldler herumkommandierte.

»Natürlich«, fuhr Estral fort, »kam er etwa ein Jahr später dahinter, als seine Reise ihn wieder ins Holzfällerlager meiner Mutter führte und ich da war. Seitdem hat er uns jedes Jahr zweimal besucht.«

»Sie haben nie geheiratet?«, platzte Alton heraus, bevor er sich zurückhalten konnte.

Estral zuckte die Achseln. »Warum sollten sie? Meine Mutter war in dem Lager zufrieden, und er war ständig auf Wanderschaft. Für die vielen Generationen der Fioris ist es nichts Ungewöhnliches, auf diese Weise Erben zu zeugen. Eine richtige Ehefrau könnte sich nur schwer mit einem Ehemann abfinden, der ständig unterwegs ist, und ein Fiori muss reisen. Jedenfalls die meisten Fioris. Wenn man darüber nachdenkt, ist das der Frau gegenüber ziemlich unfair.«

Alton, der in einer Adelsfamilie mit all ihren strengen Verhaltensregeln und Sitten aufgewachsen war, fiel es schwer, eine so laxe Einstellung gegenüber einem Bastard nachzuvollziehen. Es passte ihm gar nicht, Estral in Gedanken so zu bezeichnen, aber sie war doch ein Bastard, oder? Wenn er sie jedoch nun über das Feuer hinweg anblickte, sah er keineswegs einen Bastard, sondern eine schöne junge Frau mit einer Stimme, die ein Geschenk der Götter war. Was bedeutete im Vergleich dazu schon die Abstammung? Und wenn die Fioris sich immer so verhielten, und zwar schon seit Jahrhunderten, dann stand es ihm nicht zu, etwas dagegen einzuwenden. Es war nur sehr ungewöhnlich. Jedenfalls für seine Denkweise.

»Und deshalb«, fragte er vorsichtiger, »nennst du dich Andovian statt Fiori? Ist das der Name deiner Mutter?«

»Genau.« Sie spielte einen Akkord und brachte die Saiten dann mit der flachen Hand zum Schweigen. »Erst, wenn ich den Rang meines Vaters erbe, werde ich eine Fiori sein. Es ist nicht nur ein Name, sondern auch ein Titel.«

Der leichte Wind wechselte die Richtung, und Alton wedelte den Rauch des Lagerfeuers aus seinen Augen. Er hatte nie viel über die Fioris nachgedacht. Er hatte nie Grund dazu gehabt. Zwar waren einige Sänger aus Selium, darunter auch Estrals Vater, nach Waldheim gekommen, aber damals hatte er sie nur als unterhaltsam betrachtet. Nur als unterhaltsam!

Estral fing an, ein munteres Tanzlied zu spielen, diesmal ohne Dale nach ihren Wünschen zu fragen. Es war die Geschichte eines Ziegenhirten und einer Melkerin, und es war überhaupt nicht obszön. Alton merkte, dass er im Takt mit dem Kopf nickte und mit den Zehen wippte. Als sie fertig war, drang gedämpftes Klatschen aus Dales Zelt.

»Anscheinend hat unserer Patientin das gefallen«, sagte Estral.

»Ich glaube es ist Zeit, dass unsere Patientin schläft, damit sie morgen früh stark genug zum Reiten ist«, antwortete Alton.

Estral nickte mitfühlend. »Nur noch ein Lied«, sagte sie. »Ein bisschen Wassermusik, damit wir alle uns entspannen können.«

Ihre Finger zupften eine Reihe Noten, die wie die beruhigenden Klänge eines Bächleins aufstiegen, das zwischen moosbewachsenen Ufern floss. Kleine Strudel wanden sich um Felsen und verschwanden unter Farnen. Alton schloss die Augen und ließ sich von der Musik überfluten. Er stellte sich vor, dem Bächlein zu folgen, bis es in einen See mündete, und die Musik wurde zum Auffluten und Abebben sanfter Wellen. Ein See im Sommer, und die Sonne brannte auf seinen Schultern. Er wanderte am Seeufer entlang, und jemand war bei ihm und hielt seine Hand. Er dachte, es wäre Karigan, aber er sah Estral.

Pfad der Schatten reiter4
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