GOTT UND EIN WUNDER
Eine Welle der Verwirrung durchlief Großmutter, und sie wäre fast ohnmächtig geworden.
Was war das?, fragte sie sich und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Zum Glück hatte sie auf dem Boden gesessen. Sie hatte eine Bewegung gespürt, die Welt hatte sich verschoben und gleich darauf wieder geordnet.
Die anderen schienen nichts gespürt oder bemerkt zu haben. Deglin warf ein neues Stück Holz ins Feuer, und Min und Sarat diskutierten darüber, was sie nun zum Kochen verwenden sollten, da Großmutter einen ihrer Kessel »ruiniert« hatte. Cole reckte seinen Rücken und seine Schultern, und Lala spielte Fadenspiele.
Irgendwie hatte sie den vagen Verdacht, dass Deglin und Sarat nicht hätten hier sein sollen, und dass ihre kleine Gruppe diesen Platz verlassen hatte und zum Saum des Hains gegangen war, nachdem sie die Schläfer aufgeweckt hatte, weil alles um sie herum zerstört worden war. Es musste ein Traum gewesen sein, einer jener Träume, die man hat, wenn man zutiefst erschöpft ist, ein Traum, der eng an der Wirklichkeit blieb und doch anders und dunkler war.
Welch ein Glück, dass sie nicht zum Rand des Hains gegangen waren, denn dort schien die schlimmste Zerstörung gewütet zu haben. Die inneren Bäume waren unverändert. Es waren weniger Schläfer da gewesen, als sie erwartet hatte, und sie war unsicher, wie Gott wohl reagieren würde. Sie starrte ins Feuer, und ihr fiel ein, dass sie gesehen hatte, was Birch tat, und dass Gott zu ihr gekommen war. Oder doch nicht? Zuerst war er zufrieden gewesen, aber dann … zornig? Vielleicht stammte diese Erinnerung auch aus dem Traum, der rasch verblasste.
Aber nicht der Teil, der mit Birch zu tun hatte. Wie seltsam. Sie zuckte die Achseln. Es machte nichts, denn sie hatte die Aufgabe erfüllt, um derentwillen sie hierhergekommen war, und wenn sie sich eine Nacht lang ausgeruht hatte, würden sie die Heimreise antreten. Vielleicht würden sie sie sogar überleben.
»Trink noch einen Becher Tee«, sagte Sarat und drückte Großmutter einen Becher in die Hand. »Wir brauchen deine Kraft für den Rückweg.«
»Danke, meine Liebe.«
Ein heftiger Windstoß kräuselte die Oberfläche ihres Tees, drückte die Flammen ihres Lagerfeuers zur Seite und wehte wirbelnde Funken über den Boden. Die großen Äste der Bäume im Hain knarzten und führten ein wütendes Gespräch miteinander.
Großmutter stellte ihren Tee weg. »Hilf mir aufzustehen«, bat sie Cole, und als er das getan hatte, zog sie sich die Decke fest um die Schultern.
»Was ist los, Großmutter?«, fragte Sarat. Ihre Hände zitterten.
Kiefernnadeln und Zweige und feuchte, verrottende Kiefernzapfen regneten hart auf sie herab. Blätter wirbelten wie Derwische über den Waldboden. Der Boden erzitterte.
»Großmutter?«, drängte Sarat mit schrillerer Stimme.
»Ich weiß nicht genau«, antwortete sie, doch die Luft barst fast vor Erwartung – der Wald stemmte sich einer unmittelbar bevorstehenden Auseinandersetzung entgegen, einem gewaltigen Sturm vielleicht, irgendetwas von ungeheurer Tragweite, die Vernichtung aller Dinge, die sie kannten, und ein Schauer überlief sie.
Der Nebel verschob sich, und statt seiner stand eine gewaltige Leere in der Form eines Mannes in der Luft.
»ICH BIN GEKOMMEN.«
»Es ist Gott«, flüsterte Großmutter. Der Nebel ballte und kräuselte sich und füllte das Abbild der menschlichen Form, bis es nicht mehr existierte.
»ICH BIN HIER.« Diesmal drang die donnernde Stimme aus Deglins Mund.
Alle drehten sich zugleich zu ihm um. Er hielt seinen Körper so gerade, wie Großmutter es noch nie bei ihm gesehen hatte. Sie erkannte seine Augen nicht – sie brannten wie glühende Kohlen. Er streifte sie alle mit einem harten, gebieterischen Blick.
»Endlich verläuft unsere Zeit deckungsgleich.« Er lachte halb hysterisch, ganz anders als Deglin. Sein Gelächter brach abrupt ab, und er sah sich im Hain um, das Gesicht streng und unzufrieden. Dann durchbohrte er Großmutter mit seinem Blick. »Aber du hast versagt.« Seine Worte waren leise, aber Großmutters Knie wurden weich und gaben nach. Cole fing sie auf und half ihr beim Hinsetzen, damit sie nicht auf den Boden fiel und sich verletzte.
»Mein … mein Herr, ich habe die Schläfer erweckt.«
»Die meisten hast du durch die Zeit entkommen lassen.«
Großmutter verstand nicht, was er damit meinte, aber irgendetwas nagte im Hintergrund an ihren Gedanken. Vielleicht war es der Traum.
»Wer bist du?«, herrschte er sie an.
»Das wisst Ihr nicht?«, fragte sie. Wie konnte Gott das nicht wissen?
Sein Blick verlor seine Schärfe, und er schien nach innen zu schauen, dann nickte er. »Dieser hat mir alles gesagt, was ich wissen muss.« Anscheinend meinte er Deglin. Wieder sah er Großmutter an, aber diesmal schien sein Urteil milder auszufallen. »Du arbeitest in meinem Namen gegen die Klane von Sacor, um dem Reich seine Herrlichkeit wiederzugeben.«
»Ja, mein Herr. Ich lebe nur dafür.«
»Dann sollst du auf die andere Seite des Walls zurückkehren und deine Arbeit fortsetzen. Ich werde dafür sorgen, dass du sicher durch dieses Land reisen kannst.« Schweiß strömte über das Gesicht, das Deglin gehörte, und seine Wangen röteten sich.
»Und Ihr, mein Herr?«
»Die anderen sind noch hier. Eine ist unter ihnen, deren Geschmack ich kenne. Die werden nicht sicher zurückkehren.« Er schenkte ihr ein grimmiges Lächeln und Deglins Haut wurde immer röter, als würde er verbrennen.
Großmutter wusste, dass ihr Gott nicht sanft war, aber sie hatte ihn bisher noch nie gefürchtet. Jetzt schon. Sarat war schluchzend auf dem Boden zusammengebrochen, und Min und Cole standen mit gebeugten Köpfen und abgewandten Gesichtern da.
Lala betrachtete ihn neugierig und öffnete die Lippen, und wie durch ein Wunder erklang das Singen einer klaren, hellen Note aus ihrem Mund. Alle starrten sie entgeistert an, sogar Gott. Die Note stieg und stieg, hinauf in den Nebel und zwischen die Äste der großen Bäume, die Stimme eines Engels.
Gott lachte erneut und ging zu Lala hinüber; Deglins Körper dampfte. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Diese Kleine trägt Macht in sich. Unterrichte sie gut.«
»Das werde ich, mein Herr«, antwortete Großmutter, selbst verblüfft darüber, wie gut der Zauber des roten Vogels funktioniert hatte. Vielleicht hatte Gottes Gegenwart Lalas neue, wundervolle Stimme verstärkt. Sie konzentrierte sich einen Moment und schickte ihre Gedanken zum Wall, aber sie hörte keine Musik mehr von dort, sondern spürte nur Schrecken und Trauer.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Gott.
»Ich liebe dich«, sang Lala laut.
Gott tätschelte ihr den Kopf, und dann fiel Deglins Körper kraftlos zu Boden wie eine abgelegte Haut. Wieder fegte der Wind durch den Hain. Großmutter kroch zu Deglin hinüber, konnte aber kein Leben mehr in ihm feststellen, obwohl seine Haut so heiß glühte. Sie schlussfolgerte, dass Gottes Gegenwart ihn von innen heraus verbrannt hatte.
Lala sang ein Volkslied, und alle brachen in Tränen aus. Sie hielten einander fest und trösteten einander in einer seltsamen Mischung aus Trauer und Freude. Es war ein Tag des Verlustes und ein Tag der Wunder. Gott war unter ihnen gewandelt, und Lala sang mit der Stimme eines Engels!
Großmutter nahm an, dass jene anderen, die Gott erwähnt hatte, seinen Zorn kennenlernen würden. Sie lächelte durch ihre Tränen und drückte Lala an sich.