DER ROTE VOGEL

e9783641094324_i0090.jpg»Sehr gut«, sagte Großmutter, als Lala ihr den Knoten aus rotem Garn zeigte. »Du hast eine Naturbegabung für unsere Kunst.«

»Lala guuut!«, rief Gubba. Die alte Erdriesin saß auf der anderen Seite des Feuers und strahlte sie mit ihrem zahnlosen Grinsen an.

Großmutter hatte sich angewöhnt, Lala abends, wenn sie sich von ihrer Reise durch den Wald ausruhten, weiter in die Kunst einzuweihen, die sie selbst einst von ihrer Mutter und Großmutter gelernt hatte. Der Schutz, den die Erdriesen ihnen gewährten, hatte Großmutter einen Teil ihrer Verantwortung abgenommen, und nun waren sie es, die sie und ihre Leute weiterführten. Die Erdriesen versorgten sie außerdem mit Frischfleisch und Trinkwasser, und sie waren dadurch alle schon wieder kräftiger geworden. Verglichen mit dem Beginn ihrer Reise fühlte sich Großmutter jetzt geradezu entspannt und konnte sich die Zeit nehmen, Lala zu unterweisen.

Wenn Lala doch nur hätte sprechen können. Ohne Sprache blieben ihr viele Zaubersprüche verwehrt.

Die Behinderung ihrer Enkelin hatte sie schon immer traurig gemacht, aber jetzt war sie darüber wütend. Sie wollte, dass Lala die Kunst ihrer Ahnen weiterführte, dass sie eine eigene Stimme besaß. Wenn Großmutter ihre Seele schließlich Gott zurückgeben würde, wie es alle Sterblichen tun mussten, wer würde dann die Kunst für das Zweite Reich weiterführen?

Und dann war da die Musik, das ständige Fließen einer fast unirdischen Stimme, die manchmal in ihren Geist eindrang und deren Ursprung sich irgendwo am Wall befand. Ihre Macht schien sie zu verhöhnen und machte es noch schwieriger, sich mit Lalas Stummheit abzufinden. Sie hatte entschieden, dass es höchste Zeit war, deshalb etwas zu unternehmen. Sozusagen zu einem Gegenschlag auszuholen. Und deshalb saßen sie nun hier, und Lala knüpfte einen ganz besonderen Knoten.

Großmutter prüfte ihn kritisch und suchte nach Fehlern, aber er war ausgezeichnet ausgeführt und enthielt sogar einige Extraknoten, die ein Ausdruck von Lalas Persönlichkeitwaren. Es handelte sich schließlich um eine Kunstform. Das Mädchen besaß die Veranlagung dazu, und Großmutter wünschte jetzt, sie hätte ihr schon längst viel mehr beigebracht.

»Du verstehst den nächsten Schritt?«, fragte sie.

Lala nickte und hob das Messer auf, das auf der Decke zwischen ihnen lag.

»Vergiss nicht, deine Absicht hineinfließen zu lassen.«

Lala schloss die Augen und sah nun wesentlich älter aus, als sie tatsächlich war, sogar trotz des Schmutzes, der ihr Gesicht bedeckte. Mit einer einzigen schwungvollen Bewegung zog sie die Klinge über ihre Handfläche. Großmutter packte ihr Handgelenk und drückte das verknotete Garn in die Wunde, damit es das Blut aufnehmen konnte. Lala umkrallte es mit ihren Fingern. Sie hätten auch abgeschnittene Fingernägel oder eine Haarlocke Lalas für den Zauber benutzen können, aber nichts war so mächtig wie frisches Blut.

Großmutter sprach die Worte der Macht, Worte, die so uralt waren wie die Wurzeln des Reiches, mit einer singenden Stimme, und durch Lalas Finger schimmerte ein rotes Glühen.

Gubba, die an die Unvorhersehbarkeit des Äthers im Schwarzschleierwald gewöhnt war, sang kontrapunktisch dazu, um sie vor einem möglicherweise vernichtenden Gegenschlag zu schützen.

Als Großmutter fertig war, flackerte die Glut, die in Lalas Hand gefangen war, wie feurige Flammen in ihrem Gesicht.

»Lass den Sucher frei«, sagte Großmutter.

Lala öffnete behutsam ihre zur Faust geballten Finger, und die Glut blühte auf. Dann verwandelte sie sich in einen roten Vogel, der auf ihrer blutigen Handfläche saß. Das restliche Funkeln kroch in sein Gefieder, als er sich putzte.

Welche Detailgenauigkeit! Großmutter betrachtete ihn ehrfurchtsvoll. Von der schwarzen Maske seines Gesichts bis zu seinem Kamm glich er in allen Einzelheiten seinem realen Original. Das gute Mädchen hatte mehr als einen Sucher erschaffen  – es hatte die Kunst als solches auf ein höheres Niveau erhoben. Allein die Ästhetik enthüllte eine größere Meisterschaft, als andere Begabte sie im ganzen Leben erreichten. Die Kunst sollte mehr als nur ein Werkzeug sein, dachte Großmutter. Allzu oft hatte sie sie nur als Mittel zum Zweck benutzt und vergessen, welche Schönheit darin lag.

»Gut gemacht, Kind, gut gemacht.«

Alle anderen Leute im Lager hielten inne, um Lalas Schöpfung zu bestaunen. Der rote Vogel schlug mit den Flügeln, als wollte er davonfliegen. Ohne weitere Anleitung warf Lala den Vogel in die Luft. Er breitete seine Flügel aus und kreiste einmal über ihren Köpfen, bevor er eine nördliche Richtung einschlug. Er würde den kürzesten Weg nehmen und den unbekannten Sänger finden.

Als der Vogel in der nebligen Nacht verschwand, klatschte Gubba in die Hände und gluckste. Großmutter wandte ihre Aufmerksamkeit der Pflege von Lalas blutender Wunde zu.

 

Trotz der vielen Dinge, die die Erdriesen Großmutter und ihren Leuten zu Verfügung stellten, war das endlose Gehen ermüdend. Großmutter wünschte sich, sie hätte Flügel und könnte fliegen wie Lalas roter Vogel. Leider war sie jedoch an die Erde gebunden, genau wie alle anderen Landbewohner, und musste sich abmühen, wollte sie ein Ziel erreichen, während die Vögel einfach alle Hindernisse überflogen. Zumindest boten die Ruinen, die nun immer öfter am Straßenrand auftauchten, etwas Abwechslung und wiesen außerdem darauf hin, dass sie sich ihrem Ziel näherten.

Die meisten Ruinen waren von Ranken und Wurzeln bedeckt. Durch die Dächer wuchsen Bäume. Farne und Gebüsch überwucherten Eingänge und Fassaden. Der Wald war wirklich unverwüstlich und verbarg sogar den architektonischen Stil – war er eletisch oder entstammte er dem Reich? Sie hielten nicht an, um die Ruinen näher zu untersuchen, aber Gubba, die neben Großmutter herging, plapperte unentwegt und wies auf dieses und jenes hin, als wäre das Ganze lediglich ein vergnüglicher Ausflug, um die Sehenswürdigkeiten zu bestaunen. Großmutter verstand kein Wort davon.

Also ignorierte sie Gubba und dachte an die Aufgabe, die sie erfüllen musste, sobald sie ihr Ziel erreichten. Wie sollte sie die Schläfer wecken? Sie erhielt keine Antwort, sooft sie auch darum betete. Sie vermutete, dass es eine Prüfung war, die Gott ihr auferlegt hatte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich bisher vor allem Sorgen darüber gemacht, ob die überhaupt lange genug leben würden, um den Hain der Schläfer zu erreichen. Durch die Hilfe der Erdriesen wurde ihr ein Großteil dieser Sorgen abgenommen, sodass sie nun Zeit hatte, sich zu überlegen, auf welche Weise sie eigentlich versuchen sollte, die vor ihr liegende Aufgabe zu lösen.

Sie verstand weder die Eleter, noch die Art und Weise ihres Schlafs. Sie wusste lediglich, dass man sie nur mithilfe einer äußerst mächtigen Kunst wecken konnte. Ob sie wohl dazu in der Lage sein würde?

Sie war tief in Gedanken versunken gewesen, hatte Gubba völlig ignoriert und nur auf die Straße dicht vor ihren Füßen gestarrt, sodass sie erschrak, als sie mit Sarat zusammenstieß, die mitten auf der Straße stehen geblieben war. Tatsächlich waren auch alle anderen stehen geblieben, um etwas anzustarren, das vor ihnen lag, und als sie den Grund dafür erkannte, schnappte sie nach Luft.

Der Wald wich zurück und enthüllte einen schwarzen See, über dessen flachem, öligem Wasserspiegel sich Nebelfäden kräuselten. Freudige Erregung durchfuhr sie, als sie die Statue Mornhavons des Großen entdeckte, der herausfordernd und mutig in der Mitte des Sees stand. Eine Hand lag auf seinem Schwertknauf, die andere war zur Faust geballt, als wollte er allen zeigen, wem das Reich in Wahrheit gehörte und auf welche Weise es erobert worden war. Die Einzelheiten seiner Züge waren verwittert und mit Moos bedeckt. Irgendwann hatte sich der Wasserspiegel des Sees gehoben, sodass er nun seine Knie berührte. Großmutter hatte den Eindruck, dass er nicht versank, sondern sich aus dem Wasser erhob. In den Ufergewässern des Sees bezeugten die Dächer versunkener Gebäude ebenfalls den Anstieg des Wasserspiegels.

Eines der großen schwarzen Flugwesen des Waldes, die Großmutter schon von Ferne gesehen und gehört hatte, flog dicht über das Wasser hinweg und zog eine Spur kleiner Wellen hinter sich her. Das Wesen umkreiste die Statue und landete schließlich auf Mornhavons Kopf. Es stieß ein Kreischen aus, das tief in Großmutters Innerem widerhallte, und wandte den Kopf auf seinem schlangenartigen Hals in alle Richtungen, um seine Umgebung zu betrachten.

So großartig das Denkmal auch war – das wirklich Erstaunliche war der Hintergrund. Türme ragten aus dem Wald in den Himmel, bleiche Gespenster dessen, was sie einst gewesen sein mussten, aber dennoch ein mächtiger Anblick: Ihre schlanken Formen wuchsen aus der Erde wie anmutige Baumstämme, und ihre Zinnen wurden von den Wolken verhüllt, die dort oben hingen. Das graue Tageslicht war gerade noch hell genug, dass sich die Türme im See spiegelten.

»Was ist das für ein Ort?«, flüsterte Min ehrfurchtsvoll.

»Unser Ziel«, antwortete Großmutter. »Schloss Argenthyne.«

Pfad der Schatten reiter4
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