DER WEG DES LICHTS
Als Karigans Stiefel den Boden des Schwarzschleierwaldes auf der anderen Seite des Walles berührten, hatte sie das Gefühl, schon wieder vor einer Mauer zu stehen, aber diesmal bestand sie aus wabernden Nebeln, die zwischen ihren Kameraden wehten und einige in Grau hüllten, während andere deutlich sichtbar waren. Aus dem Dunst ragten die Äste von Bäumen, verkrümmt, unförmig, verschwommen.
Außerdem stand sie vor einer Mauer des Schweigens. Ihre Gefährten sprachen nicht. Die Eleter standen so still, dass man sie für uralte Statuen aus dem verlorenen Argenthyne hätte halten können. Lynx senkte den Kopf und hielt sich die Ohren zu, als würde die Stille ihm wehtun. Die anderen stierten in den Wald und versuchten, den Nebel zu durchdringen, die Hände am Heft ihrer Schwerter.
»Der Geruch der Angst.« Graelalea hatte sich lautlos neben Karigan geschoben.
»Was ist mit mir?«, fragte Karigan. »Stinke ich auch nach Angst?«
Graelalea entgegnete nichts, aber Karigan konnte die Antwort erraten. Was die Eleter anging, blieben ihre Gesichter unbewegt. Empfanden sie Furcht? Verzweiflung? Empörung darüber, was aus ihrem uralten Land geworden war?
Als Karigan Graelalea erneut ansah, sah sie zu ihrer Überraschung ein paar Tränen über die Wangen der Eleterin rinnen. Karigan beobachtete, wie sie auf den Waldboden prallten und zwischen dem vermoderten Unkraut und dem Schlamm zerplatzten.
Trauer, dachte Karigan. Sie empfinden Trauer.
Graelalea ging zu Lynx hinüber. Sie zog seine Hände von seinen Ohren und sprach leise mit ihm.
»Ich höre alles und nichts«, antwortete er. »Als würde die ganze Welt heulen.«
Graelalea sagte noch etwas, und Lynx nickte.
»Ich werde es versuchen.« Er schloss einige Augenblicke die Augen, und sowohl seine Züge, als auch seine Körperhaltung entspannten sich. Als seine Augen wieder aufblitzten, sagte er: »Ja, es hat funktioniert. Jetzt ist es nur noch ein leises Murmeln.«
»Wir müssen aufbrechen«, verkündete Graelalea, und mehr brauchte die Gruppe nicht zu hören, um sich hintereinander aufzureihen. Auffallend war, dass Grant seine Führungsrolle ohne ein einziges Wort aufgab, und Graelalea nahm die vorderste Position ein, als hätte darüber nie ein Zweifel bestanden.
Sie liefen los und wandten sich am Wall entlang nach Osten. Es gab eine Straße, die sie erreichen mussten, erinnerte sich Karigan, wenn auch mehr aus Altons Berichten als aus eigener Erfahrung: eine alte eletische Straße, die den Wall kreuzte. Sie gingen schweigend, Karigan in der Mitte der Reihe, hinter Yates und vor Ard. Yates drehte sich zu ihr um und grinste, sah aber nicht mehr besonders munter aus.
Karigan verschob das ungewohnte Gewicht ihres Rucksacks auf den Schultern und schnitt eine Grimasse, weil ihre Infanteriestiefel so hart waren. Sie hätte wirklich versuchen sollen, sie vorher ein bisschen einzulaufen. Nun hoffte sie, dass sie sich nicht die Füße wund lief. Sonst würde sie den Wanderstab, den ihr die Waffen gegeben hatten, nicht nur brauchen, um sich gelegentlich abzustützen. Im Moment war er noch an ihrem Rucksack festgebunden.
Die Gedanken an ihre körperlichen Mühen halfen ihr, sich von der viel größeren Sorge wegen der Bedrohung des Waldes abzulenken, konnten sie aber nicht ganz unterdrücken. Manchmal meinte sie, von einem Ast angerempelt zu werden, obwohl nicht einmal eine sanfte Brise wehte. Hin und wieder hörte sie Geraschel im Unterholz. In jedem anderen Wald hätte sie dies Eichhörnchen zugeschrieben. Aber hier? Sie wollte nicht einmal darüber nachdenken.
Sie spürte die Wachsamkeit des Waldes, als hätte er alle anderen Tätigkeiten eingestellt, um sie zu beobachten. Es war nicht die Beobachtung einer einzigen, alles vereinenden Gegenwart wie bei Mornhavon, aber dennoch war der Wald auf einer bestimmten Ebene bewusst. Er griff sie nicht an, aber er türmte sich über ihnen auf wie eine gewaltige Welle, drohend, abwartend, unausweichlich. Sie fragte sich, ob die Eleter ihn zurückhielten, ob sie ihn durch ihre Anwesenheit aufhielten. Falls er es sich anders überlegte – was würde geschehen, wenn er sie nicht länger nur beobachtete, sondern über ihnen zusammenschlug, wie alle Wellen es letztlich tun?
Sie gingen weiter, und wegen des Nebels war es unmöglich, die Tageszeit zu schätzen, aber Karigans Haar wurde strähnig, und die Strähnen klebten ihr im Gesicht. Sie fühlte sich klamm und unterkühlt. Sie konzentrierte sich auf das Heben und Senken von Yates’ Füßen vor ihr. Ards raue Atemzüge folgten ihr.
Karigan hatte kein Gefühl dafür, wie viel Zeit vergangen war, als sie anhielten. Sie wusste nur, dass ihre Schultern schmerzten und eine ihrer Fersen vom Stiefel wundgescheuert war. Die feuchte Luft schmeckte bitter auf ihrer Zunge.
Sie drängten sich um Graelalea. »Wir betreten nun die Straße, die in der gemeinsamen Sprache ›Prachtstraße des Lichts‹ heißt.«
Karigan sah sich um, konnte aber auf den ersten Blick nichts erkennen, das einer Straße ähnelte, denn das ganze umliegende Gebiet war mit Unterholz überwachsen. Doch als sie genauer hinsah, bemerkte sie, wo der Bewuchs ein wenig lichter war, und entdeckte Linien, die zu gleichmäßig waren, um natürlich zu sein. Ihr Fuß schwankte auf einem losen Stein, der sich bei näherem Hinsehen als ein vom Meer abgeschliffener Pflasterstein entpuppte, einer von vielen, die Pflastersteine einer Straße.
»Viel Licht gibt es hier nicht, egal wie sie heißt«, brummte Ard.
Niemand widersprach.
»Wenn wir am Wall entlang weitergingen«, sagte Graelalea, »dann kämen wir zum Himmelsturm. Aber wir werden diese Straße nehmen.«
Wie schade, dachte Karigan, dass sie nicht alle den Wald einfach durch den Turm hatten betreten können, aber die Soldaten und Ard, die weder Grüne Reiter noch Eleter waren, hätten die Mauern nicht durchdringen können.
Sie machten eine Pause, wo sie gerade stehen geblieben waren, während Yates einiges in eine Chronik eintrug und Grant und Porter Messinstrumente hervorzogen, um die Straße und ihren Winkel zum Wall zu vermessen. Als sie fertig waren, verließ die Gruppe den Wall und folgte Graelalea die Straße entlang tiefer in den Wald hinein. Karigan spürte, dass ihre letzte Chance, sich rasch in Sicherheit zu bringen, schnell verschwand.
Es dauerte nicht lang, bis Karigan beschloss, ihren Stab aus Knochenholz einzusetzen. Sie hatte keine Lust, sich auf einem der schlüpfrigen Pflastersteine unter ihren Füßen den Fußknöchel zu verstauchen. Die Steine waren durch schleimiges Moos schlüpfrig geworden, und als die Gruppe sich ihren Weg bahnte, brach immer wieder jemand in einen Fluch aus, wenn er stolperte oder ausrutschte. Verrottete Baumstämme, die quer über die Straße gefallen waren, komplizierten die Sache, und wo die Straße fortgeschwemmt worden war, mussten sie über Abgründe springen. Keiner der Eleter verursachte das geringste Geräusch.
Auf einmal spürte Karigan beunruhigt Telagioths schweigende Anwesenheit an ihrer Seite. Er sagte nichts, sondern starrte intensiv auf das Knochenholz. Sie starrte zurück in seine tiefblauen Augen und beobachtete seine mühelosen, gleichmäßigen Schritte, aber er sagte kein Wort. Sie konnte es nicht mehr ertragen.
»Was ist?«, fragte sie.
»Ihr Wanderstab«, antwortete er. »Er ist von ungewöhnlicher Qualität.«
»Möchtet Ihr ihn näher betrachten?« Karigan hielt ihm mit einer Bewegung, die sie nicht für drohend hielt, den Stab hin, aber er wich zurück.
»Nein, nein«, sagte er und hob seine Hände. »Ich bin sicher, er wird Ihnen gute Dienste leisten.«
Karigan fand diese Reaktion sonderbar. Vielleicht war doch etwas an den Behauptungen der Waffen über die Eigenschaften des Knochenholzes, aber sie hoffte, dass sie sich zusätzlich zu den unbekannten Gefahren des Waldes nicht auch noch die Eleter gewaltsam würde vom Leib halten müssen.
Telagioth ging immer noch neben ihr her, und deshalb fragte sie ihn: »Wie nennen die Eleter diese Straße? Wenn ihr Name in der gemeinsamen Sprache ›Prachtstraße des Lichts‹ ist, wie lautet dann der eletische Name?«
»Celes As’riel. ›Prachtstraße des Lichts‹ ist keine ideale Übersetzung. Eine bessere Übersetzung wäre ›von den Sternen erleuchteter Pfad‹. Oder einfach ›Erleuchteter Pfad‹.«
»Celes As’riel«, wiederholte Karigan. Ihr gefiel, wie leicht die Silben ihr von der Zunge rollten, aber als Telagioth es aussprach, hatte es noch musikalischer geklungen.
»Diese Straße war breiter angelegt als alle anderen in Argenthyne, um den Reisenden aus dem Norden zu dienen, und vielleicht nennt man sie in der allgemeinen Sprache deshalb ›Prachtstraße‹.«
»Mir gefällt der eletische Name besser.«
Telagioth lächelte. Nun sagte er etwas in fließendem Eletisch und endete mit dem Ausruf: »Vien a lumeni Celes As’riel!«
Bei seinen Worten flammten am Straßenrand hinter dem verfilzten Bewuchs Lichter auf. Das Geräusch von Schwertern, die aus den Scheiden gezogen wurden, erklang, und Grant und Porter stürmten schreiend darauf zu.
Durch die Aufregung beunruhigt, verlängerte Karigan ihren Stab und nahm eine verteidigungsbereite Position ein. Yates und Ard entblößten ihre Schwerter. Die Eleter sahen nur amüsiert zu, besonders als Grants Schwert gegen etwas stieß, das wie Stein klang.
»Verdammt! Ich habe meine Klinge schartig gemacht!« Er kam zurück, wobei er auf die Pflanzen einhackte.
Die anderen standen zusammengedrängt am Straßenrand und spähten durch das Gestrüpp, wo sie sich einer Statue gegenübersahen. Sie war aus Stein gemeißelt, einer ihrer Arme war abgebrochen, und ihre Züge waren sehr verwittert, aber trotz der verschlungenen Schlingpflanzen und des zähen schwarzen Mooses war ihre Gestalt noch immer anmutig. In ihrer verbliebenen Hand hielt sie eine geborstene Kugel, verblichen von Alter und Schmutz, durch die Licht schimmerte.
»Was ist das für ein Ding?«, fragte Grant wütend.
»Sie würden das in Ihren Städten als Laterne bezeichnen«, antwortete Graelalea. »Wir nennen es Lumeni.«
»Aber … aber wie ist es angezündet worden?«
»Telagioth hat die Worte des Entzündens ausgesprochen. Ich fürchte, ein solcher Befehl könnte die Lumeni in einem recht weiten Umkreis entzünden und dadurch jedwedes Wesen auf unsere Gegenwart aufmerksam gemacht haben.«
Telagioth senkte den Kopf. »Vergebt mir. Ich wusste nicht, dass sich die Lumeni nach so langer Zeit entzünden würden.«
»Es gibt keinen Grund zur Vergebung«, antwortete Graelalea. »Es mag unklug gewesen sein, aber es ist eine Freude zu wissen, dass die Eleter in diesem Land noch nicht vergessen sind. Und warum sollten Eleter nicht stolz statt verstohlen durch ihr eigenes Reich wandern?«
»Weil die augenblicklichen Einwohner hungrig sind«, sagte Lynx, der seine Hand auf seine Stirn gelegt hatte. »Und nun wissen sie ganz genau, wo wir sind.«