DIE WESEN VON KANMORHAN VANE
Das Wesen, in dessen Netz Karigan gefangen war, brach durch den Wald, schleuderte mit seinen riesigen Krallen Bäume beiseite, als wären sie nichts, und das metallische Funkeln seines Rückenpanzers erinnerte sie an ihre albtraumhafte erste Gefangenschaft in einem solchen Netz, und an ihren damaligen Kampf gegen ein solches Wesen. Sie hatte gekämpft und überlebt, aber sie hatte Hilfe gehabt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der große graue Adler Weichfeder auch diesmal im Anflug war, um ihr beizustehen.
Sie schrie verzweifelt auf, als ihr klar wurde, dass sich nicht nur eines, sondern zwei dieser Wesen näherten. Sie sahen wie riesige Krebse aus, wie sie auf ihren gegliederten Beinen vorwärtshasteten, und am Ende ihrer beweglichen Augenstiele saßen schwarze Kugeln, die das Terrain erkundeten. Über ihre Rücken wölbten sich Schwänze mit Stacheln von der Größe eines Dolches.
Das ist es jetzt also, dachte Karigan. Das ist das Ende.
»Was ist los?«, schrie Yates. »Sag es mir!«
»Es war …«, begann Karigan und wollte fortfahren: mir eine Ehre, mit dir befreundet zu sein. Und dann wollte sie ihm befehlen wegzugehen, seinen Weg, so gut er konnte, zu ertasten und sich einen Platz zu suchen, um auf die anderen zu warten, die nach ihm suchten. Aber irgendetwas – irgendjemand – zog ihren Blick auf sich, während die krebsartigen Wesen immer näher kamen: das Aufblitzen einer Bewegung, ein Mensch.
Diesmal war es Ard, der ihr erschien. Sie war ganz sicher. Sie konnte ihn nicht mit Lynx oder Grant verwechseln, und schon gar nicht mit den Eletern. Er stand hinter einem Baum und beobachtete sie.
Er war nichts als eine Illusion, schlussfolgerte sie, genau wie der maskierte Akrobat, genau wie Lynx. Sie hatte den Zugang zur Realität verloren.
Ards Gestalt beobachtete das Geschehen äußerst wachsam, und nachdem er den Wesen einen letzten Blick zugeworfen hatte, zog er sich zurück und rannte davon in den Wald.
Vielleicht waren die Wesen ebenfalls eine Illusion, aber so viel Glück hatten sie offenbar nicht, denn Yates drängte sie immer noch, ihm zu sagen, was sie sah. Offensichtlich konnte er die Ungeheuer deutlich hören. Sie blieben ein paar Meter vor dem Netz stehen und wandten sich um, sodass sie einander gegenüberstanden. Eins war eindeutig größer als das andere, und nun hob es seine Klauen und seinen Schwanz, als wollte es das andere mit seiner Größe einschüchtern. Das andere wich seitlich aus, als wollte es fliehen, aber das größere Wesen versperrte ihm den Weg. Nun schlug das kleinere Wesen das größere mit seinen Klauen, und das größere packte diese mit seinen Krallen und hielt sie fest.
Ihre Bewegungen wurden zu einer Art Tanz, sie drehten sich im Kreis und hielten einander an den Klauen fest.
Karigan dachte, dass sie womöglich doch noch eine Chance hatte, falls diese Wesen noch eine Weile beschäftigt waren. Die Dringlichkeit der Situation befreite ihren Verstand von allen Illusionen und aller Furcht. Entschlossenheit erfüllte sie.
»Yates«, rief sie, »hast du dein Schwert noch?«
»Ja.«
»Halte es so, dass seine Spitze nach vorn zeigt, und trage es in die Richtung, aus der meine Stimme kommt.«
»Wieso? Was …«
»Ich bin in einem Netz gefangen. Hörst du diese Geräusche? Die kommen von den Wesen, denen das Netz gehört, und als ich das letzte Mal in so einem Netz gefangen war, wollte mich das Wesen an seine Jungen verfüttern.« Bisher hatte Karigan innerhalb ihres eingeschränkten Blickfelds keine Eier entdeckt.
»Oh«, sagte Yates, und sein erregter Tonfall verriet ihr, dass er sich an ihre Geschichte über das Wesen von Kanmorhan Vane erinnerte. Danach verstummte er, und Karigan fürchtete, er wäre erstarrt.
»Yates! Bist du in Ordnung? Wir haben keine Zeit …!«
»Oh ja. Ich glaube, manchmal bin ich ganz froh, dass ich nichts sehen kann.«
Karigan sprach weiter und leitete ihn langsam näher. Sie bemühte sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen, obwohl sie wieder von Panik erfüllt war, und auf der anderen Seite des Netzes setzten die beiden Wesen ihren Tanz fort. Sie schienen völlig aufeinander fixiert, ihre Schwänze waren drohend erhoben, und aus ihren Stacheln sickerte Gift. Sie waren kampfbereit. Wie lange würden sie wohl damit beschäftigt sein? Als sie einen weiteren Baum umstießen, hoffte sie, dass kein Baum auf sie oder Yates fallen würde.
Endlich fühlte sie den Druck von Yates’ Schwert am Rücken.
»Halt!«, rief sie.
»Oh je. Ich wollte dich nicht durchbohren.«
»Du musst das Netz um mich herum durchschneiden«, sagte sie und gab ihm präzise Anweisungen. Sie führte sein Schwert mit ihren Worten.
Fast hätte er ihre Hand abgehackt, aber dann glitt seine Klinge im letzten Moment in eine andere Richtung und zerschlug die klebrigen, zähen Fäden des Netzes. Sobald ihr Arm frei war, zog sie ihr langes Messer und hackte sich damit vollends frei. Hastig entfernte sie sich von dem Netz, während sie klebrige Fasern aus ihrem Haar zerrte und von ihrem Körper löste. Die abgehackten Fäden des Netzes wehten hinter ihr her, um sie erneut zu packen.
»Können wir jetzt gehen?«, fragte Yates.
»Unbedingt.« Karigan hob ihren Stab auf und warf einen Blick zurück auf die Wesen. Und dann sah sie überrascht erneut hin. Der Tanz war beendet und nun kletterte das größere Wesen auf den Rücken des kleineren, das seinen Schwanz unterwürfig gesenkt und seinen Stachel auf den Erdboden gerichtet hatte.
Ein ersticktes, halb hysterisches Lachen kam aus Karigans Kehle.
»Was ist?«, fragte Yates.
»Sie haben gar nicht gekämpft«, war alles, was sie herausbringen konnte.
»Ach.«
Sie hatte keine Ahnung, wie lange die Paarung der Wesen dauern würde, deshalb legte sie Yates’ Hand hastig auf ihre Schulter und führte ihn so schnell fort, wie ihr schmerzendes Bein es erlaubte. Sie hatte keinen Plan und wusste nicht, in welche Richtung sie gehen sollten, sie wollte sich nur so weit wie irgend möglich von den Wesen und ihrem Netz entfernen.
»Übrigens«, sagte sie, während sie vorwärtshumpelte, »wenn ich sage, dass ich etwas sehe, dann prüf gefälligst, ob es auch wirklich da ist.«
»So wie vorhin bei Lynx?«
»Genau.«
»Und wie soll ich das machen?«
»Keine Ahnung. Kneif mich, gib mir einen Tritt. Frag mich aus. Was auch immer dazu nötig ist.«
Yates seufzte. »Mit dir ist das Leben nie langweilig.«
Karigan wusste nicht mehr, in welche Richtung sie liefen. Möglicherweise gingen sie im Kreis, aber sie stolperte trotzdem immer weiter vorwärts, bis die Nacht auf sie herabfiel wie die dunklen Schwingen der riesigen Flugtiere, die im Schwarzschleierwald wohnten. Als Karigan unter einer schräg stehenden Fichte einen halbwegs sicheren Rastplatz entdeckte – jeder Ort, der von den Wesen und ihrem Netz weit entfernt war, erschien ihr sicher genug –, fiel sie augenblicklich zu Boden. Ihre Beinwunde schmerzte und nässte, und sie wünschte sich nur noch, das Bein nicht mehr belasten zu müssen. Sofort war sie wieder von Apathie erfüllt. Yates glitt neben sie.
»Wir haben unsere Ausrüstung verloren«, stellte er fest.
»Ich weiß.«
»Wie wäre es mit einem Unterschlupf?«
»Ich baue uns einen.« Aber sie konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder aufzustehen. Alle Kraft, die ihr noch geblieben war, verließ sie, und ihr Verstand wurde grau, so grau wie die Nebel des Schwarzschleierwaldes. Sie wollte sich nur noch von dem Schmerz und der Erschöpfung ausruhen.
»Wie haben nichts zu essen«, sagte Yates.
Warum musste er das Offensichtliche aussprechen? »Iss ein bisschen Erde.«
»Ich soll Erde essen?«
»Ich dachte, ich hätte Ard gesehen.«
»Jetzt?«
»Nein, vorhin, als ich in dem Netz gefangen war.«
»War das eine deiner Halluzinationen?«
»Ja. Falls er uns gesehen hätte, hätte er die anderen zu uns geführt, um uns zu helfen.«
»Ich hoffe nur«, meinte Yates, »dass das bei dir nur ein vorübergehendes Problem ist.«
»Ich auch«, antwortete sie und lehnte sich an seine Schulter. Ihre Überlebenschancen waren bestenfalls gering. Sie hatten keine Nahrungsmittel und keine Trinkwasserquelle, der sie vertrauen konnten. Alton hatte unter ähnlichen Umständen tagelang im Schwarzschleierwald überlebt, aber dann hatte er den Wall und den Himmelsturm gefunden. Karigan und Yates waren weit vom Wall entfernt. Es kam Karigan so vor, als seien sie in die eine oder andere Hölle geraten und die Chance, wieder herauszufinden, wurde immer kleiner, insbesondere, da Yates nun blind war und sie sich nicht mehr auf das verlassen konnte, was sie selbst sah.
Im Augenblick war ihr alles egal. Sie brauchte einfach ein bisschen Ruhe. Sie würde sich ausruhen und dann irgendwie einen Unterschlupf bauen. Bevor sie einschlief, hatte sie noch die Geistesgegenwart, ihren Mondstein aus der Tasche zu ziehen, und sein Strahlen erhellte einen Moment lang ihre Seele, aber selbst dieses Licht konnte die Finsternis der tiefen Erschöpfung nicht vertreiben, und sie schlief ein, gerade als es wieder anfing zu regnen.