DIE REITER DER KÖNIGIN
»Als Erstes muss ich dafür sorgen, dass der König informiert wird«, sagte Alton zu Merdigen. Er wandte sich um und ging auf die Mauer zu.
»Wo geht Ihr hin?«, fragte Merdigen.
»Ich will dafür sorgen, dass Dale gleich losreitet.«
»Habt Ihr mir nicht erzählt, dass einer der Reiter, den Ihr an den Türmen stationiert habt, die Gabe des Denk-Sinnes besitzt?«
Altons Wangen wurden heiß. Über all der Aufregung um die Aufdeckung der Geschehnisse in Haurris’ Turm hatte er die anderen Reiter ganz vergessen. Denk-Sinn? Damit musste er Trace meinen.
»Stimmt. Ich habe sie zum Eisturm geschickt.« Er kam nur zwei Schritte näher an die Mauer, als Merdigen sich laut räusperte.
»Was ist denn noch?«, fragte Alton ungeduldig.
»Wo geht Ihr hin?«
»Ich will Dale zum Eisturm schicken, um Trace zu informieren, dass sie …«
»Ihr denkt nicht klar, mein Junge«, sagte Merdigen. »Ich kann Itharos sehr viel schneller informieren.«
Alton fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und grinste Merdigen schief an. »Ich vergesse immer wieder, dass Trace den Eisturm vielleicht noch gar nicht erreicht hat.«
»Sagt mir genau, wie Eure Botschaft an den König lauten soll. Dann gebe ich sie an Itharos weiter, und er wird sie seinerseits an Trace weitergeben, sobald sie eintrifft.«
Das tat Alton, und als Merdigen verschwand und er den Turm verließ, dachte er, dass es vor Jahrhunderten, als die Fähigkeiten der Grünen Reiter ihren Höhepunkt erreicht hatten, bestimmt viele Reiter wie Trace und Connly gegeben hatte, die miteinander über große Entfernungen hinweg kommunizieren konnten, sodass man Botschaften fast augenblicklich weitergeben konnte. In dieser längst vergangenen Zeit musste kein Reiter ein Pferde satteln und in einer Staubwolke davongaloppieren.
Je nach dem Tempo, das Trace vorgelegt hatte, würde es vielleicht noch einen oder zwei Tage dauern, bis sie am Eisturm ankam, aber ihm würde es vorkommen wie Jahre, bis er endlich die Bestätigung dafür erhielt, dass sie die Botschaft bekommen hatte – auch wenn sie mit der Geschwindigkeit reiner Gedanken weitergegeben wurde.
Statt nervös abzuwarten verließ Alton den Turm, um Dale, Estral und Hauptmann Wallace mitzuteilen, welche Einblicke Merdigen und er in die Existenz des Schläfers gewonnen hatten. Estral war entschlossener als je zuvor, die Melodie aus Silberholz’ Buch zu rekonstruieren, und er kannte sie gut genug um zu wissen, dass er sie nicht zurückhalten durfte, als sie hastig davonrannte, um ihre Laute zu holen.
»Ich hoffe, der König schickt uns mehr Truppen«, sagte Hauptmann Wallace zu Alton. »Besonders jetzt, wo wir wissen, dass jeder Turm potenziell ein Durchlass für diese Schläfer ist. Ich habe hier nicht genug Männer, um sowohl die Bresche, als auch alle zehn Türme zu bewachen.«
»Nein«, berichtigte Alton. »Haurris hat den Erdturm mit Verteidigungsmaßnahmen umgeben, die die Schläfer fernhalten oder zumindest einkerkern müssten.«
»Wollt Ihr Euch wirklich ausschließlich auf die Tricks eines uralten, toten Magiers verlassen?«
»Ich verstehe, was Sie meinen«, antwortete Alton. »Sagen Sie mir, was Sie brauchen, dann reiche ich ein Gesuch ein.«
Außerdem nahm Alton sich viel Zeit, um die Risse im Wall zu inspizieren, die von der Bresche ausgingen, weil er herausfinden wollte, ob sich Estrals Musik tatsächlich auf sie auswirkte. Seit dem Sommer hatte er regelmäßig Messungen vorgenommen und alle Veränderungen in seiner Chronik vermerkt. Er entdeckte erhebliche Besserungen – die Risse schienen kleiner zu werden, wenn auch sehr langsam. Die Veränderungen waren zwar nicht dramatisch, aber es war dennoch ein Wunder.
Als er zum Lager am Turm zurückkehrte, suchte er Estral und fand sie schließlich im Messezelt. Zur allgemeinen Belustigung hob er sie hoch, drehte sie im Kreis und küsste sie leidenschaftlich.
»Wofür war das denn?«, fragte Estral, als ihre Füße wieder auf dem Boden standen. Er freute sich, dass er sie zum Erröten gebracht hatte.
»Du bist unglaublich«, sagte er.
Sie lächelte ihn kokett an. »Das merkst du jetzt erst?«
Er lachte und wirbelte sie nochmals herum. Später, wenn sie keine Zuschauer mehr hatten, würde er ihr praktisch beweisen, wie unglaublich er sie tatsächlich fand. Aber erst wollte er in den Turm, um nachzusehen, ob Merdigen von Itharos schon Nachrichten über Trace bekommen hatte.
Als er den Himmelsturm betrat, wartete dort nicht nur Merdigen auf ihn, sondern auch Itharos. Die beiden unterbrachen eine hitzige Diskussion, als er dazukam.
»Ich nehme an, Trace ist am Eisturm angelangt?«, fragte Alton.
Itharos verbeugte sich mit einem eleganten Schwung seines Umhangs. »Zu meinem Entzücken ist sie tatsächlich eingetroffen, und ich habe ihr die äußerst bedauerliche Botschaft weitergegeben.«
»Und?«
Die Magier tauschten einen Blick und wandten sich dann wieder Alton zu.
»Trace hat ebenfalls Neuigkeiten«, antwortete Merdigen. »Wir schlagen vor, dass du Reiterin Littlepage hereinholst, und Estral Andovian ebenfalls.«
Weder Merdigen noch Itharos ließen irgendetwas über die Art dieser Neuigkeiten durchblicken, aber da sie Dales und Estrals Anwesenheit bei ihrer Weitergabe wünschten, waren sie offenbar äußerst wichtig. Hastig kehrte er ins Messezelt zurück, wo er Estral fand, und sie suchten gemeinsam nach Dale, die sie schließlich am Pferch entdeckten, wo sie Karigans Kondor striegelte.
»Ich habe versprochen, dass ich mich um ihn kümmere«, sagte sie und klopfte den Hals des Wallachs.
Kondor stupste Dale an der Schulter, damit sie weitermachte, und sie lachte.
»Wie geht es ihm?«, fragte Alton. Dies war keine beiläufige Frage. Botenpferde spürten mit geradezu unheimlicher Deutlichkeit, ob ihre Reiter in Schwierigkeiten waren, und Kondor, Lynx’ Eule und Yates’ Phöbe waren nervös gewesen, seit ihre Reiter in den Wald eingedrungen waren.
Dale legte ihre Hand auf Kondors Widerrist. »Er ist unruhig«, antwortete sie nachdenklich. »Phöbe auch. Mehr als vorher. Aber Eule scheint sich nicht verändert zu haben.«
Als wollte sie ihrer Beobachtung zustimmen, begann Phöbe mit ihrem Huf zu scharren. Im Boden war bereits eine beträchtliche Furche entstanden, die ihre Nervosität bezeugte.
Die drei Menschen verfielen in ein ungemütliches Schweigen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Alton, was der Gruppe im Schwarzschleierwald wohl widerfuhr. Wie ging es den Reitern? Wieder packte ihn die Reue, dass er und Karigan sich ohne Versöhnung getrennt hatten. Er schüttelte sich. Was auf der anderen Seite des Walls geschah, entzog sich seinem Einfluss, und er hatte genügend eigene Probleme, um die er sich kümmern musste.
»Nun gut«, sagte er. »Wir werden im Turm gebraucht.«
»Das klingt ungut«, antwortete Dale.
»Trace ist am Eisturm angekommen und hat Neuigkeiten für uns.«
»Keine Sorge«, sagte sie zu dem Pferd. »Ich komme bald zurück und striegle dich zu Ende.«
Kondor schlug mit dem Schweif, als wollte er sagen, dass das wohl das Mindeste sei.
»Worum geht es?«, fragte Dale, als sie losgingen.
»Ich weiß nicht«, antwortete Alton. »Sie wollten es mir erst sagen, wenn ihr beide dabei seid.«
Alle drei gingen schneller, durchquerten das Lager rasch und erreichten den Turm.
»Dies muss die verehrte Estral Andovian sein«, sagte Itharos, als sie die Turmkammer betraten. »Ich bin erfreut, Euch kennenzulernen, meine Dame.« Er verbeugte sich.
»Estral, darf ich dir Itharos vom Eisturm vorstellen«, sagte Dale.
»Auch freue ich mich sehr, Sie wiederzusehen, Reiterin Littlepage«, sagte Itharos. »Euch alle drei. Tatsächlich wäre eine kleine Feierlichkeit …«
»Jetzt nicht«, unterbrach Merdigen gereizt, im krassen Gegensatz zu Itharos’ ausufernder Herzlichkeit. »Reiterin Burns hat Nachrichten bekommen, die Ihr hören müsst.«
»Und zwar?«, fragte Alton.
»Ich werde sie nicht weitergeben«, antwortete Merdigen. »Es besteht die Möglichkeit, direkt mit Reiterin Burns zu kommunizieren, genau wie es die Wallhüter früher gemacht haben. Itharos und ich nehmen jedenfalls an, dass es funktionieren wird. Es ist eine Weile her, seit es zum letzten Mal versucht wurde …«
»Es gibt eine solche Möglichkeit, und Sie haben mir nichts davon erzählt?«, rief Alton vorwurfsvoll.
»Es schien überflüssig, da Ihr bisher niemanden in den anderen Türmen stationiert hattet.«
Alton fragte sich flüchtig, was für interessante Einzelheiten ihm Merdigen wohl sonst noch vorenthielt.
»Ihr müsst alle ins Zentrum der Kammer gehen und eure Hände auf den Tempesstein legen«, erklärte Merdigen. »Itharos und ich machen den Rest.«
Alton verlor keine Sekunde, und Estral und Dale folgten dicht hinter ihm. Sie legten ihre Hände auf den Tempesstein. Zunächst veränderte sich nichts in der grasbewachsenen Ebene in der Mitte des Himmelsturms. Dann verschwanden Merdigen und Itharos, die in der Nähe gestanden hatten. Silberne Runen erwachten in der Luft, pulsierten in ihrem eigenen Licht und umkreisten sie.
Alton hörte, wie Estral neben ihm nach Luft schnappte. »Lass den Stein nicht los«, sagte er zu ihr.
»Natürlich nicht.«
Die Runen vereinigten sich und schimmerten, bis sich eine menschliche Gestalt materialisierte, und Trace schwebte über dem Boden, umgeben von einer funkelnden grünen Aura, dem Grün des Turmalins.
»Da seid ihr ja«, sagte sie, und ihre Stimme klang, als stünde sie direkt neben ihnen. »Den Göttern sei Dank.«
»Trace?«, sagte Alton. »Kannst du mich hören?«
»Ja, ja, ich höre dich. Ich kann euch auch alle drei sehen.«
»Merdigen sagte, du müsstest uns etwas mitteilen.«
»Das stimmt, und es war nicht leicht, es aus Connly herauszubekommen. Ich glaube, er wollte nicht, dass ich … dass wir uns Sorgen machen, aber als ich ihn kontaktierte, um eure Neuigkeiten über den Schläfer an Hauptmann Mebstone und König Zacharias weiterzugeben, habe ich gespürt, dass etwas nicht stimmte.«
»Und?«, drängte Alton.
Trace ließ die Schultern hängen. »Als ich ihn endlich zum Reden gebracht hatte, habe ich erfahren … Ich habe erfahren, dass wieder ein Anschlag auf König Zacharias verübt wurde, und dass er diesmal möglicherweise erfolgreich war.«
»Nein …«, murmelte Dale.
Estrals freie Hand fand die von Alton.
Trace erklärte, dass der Attentäter einen vergifteten Pfeil benutzt und den König damit getroffen hatte, und dass Ben bei dem Versuch, ihn zu heilen, selbst das Bewusstsein verloren hatte.
»Bis jetzt ist der König noch am Leben«, sagte Trace, »und mit jedem Tag wächst die Hoffnung, aber Connly weiß nicht, inwieweit ihm diejenigen, die dem König am nächsten sind, die Wahrheit sagen.«
»Es sieht Hauptmann Mebstone nicht ähnlich, ihren Reitern die Wahrheit vorzuenthalten«, stellte Dale fest.
»Nein«, stimmte Trace zu, »absolut nicht. Connly konnte gar nicht mit ihr sprechen. Destarion behauptet, sie sei krank geworden, und er hat sie in den Lazarettflügel bringen lassen. Er sagt, dass sie wieder gesund wird und dass wir uns keine Sorgen machen sollen.«
»Wer hat das Kommando?«, fragte Alton beklommen.
»Connly kommandiert die Reiter«, sagte Trace. »Er untersteht in erster Linie Colin Dovekey. Und was das Reich angeht …« Sie machte eine nachdenkliche Pause. »Was das Reich angeht, haben wir nun eine Königin.«
Estral und Dale schnappten nach Luft.
»Lady Estora«, murmelte Alton.
Trace nickte, und die Korona aus grünem Licht, die ihren Kopf umgab, flammte bei der Geste auf. »Königin Estora.«
»Aber wieso?«, wollte Dale wissen. »Wenn der König so schwer verletzt ist …«
»Genau darum haben sie sie ja zur Königin gemacht.« Als Sohn und Erbe eines Lordstatthalters hatte Alton seine Kindheit mitten im Zentrum der Politik und der Intrigen eines Provinzhofes verbracht und begriff sofort, was geschehen war. »König Zacharias’ Zustand muss wirklich ernst sein, wenn sie zu einem solchen Mittel gegriffen haben. Eine Hochzeit auf dem Sterbebett.«
»Man wollte sichergehen, dass die Regierungsmacht erhalten bleibt«, fügte Estral hinzu. »Aber was ist mit dem Erben? Der König hat doch für solche Fälle sicherlich jemanden bestimmt.«
»Selbst wenn der König einen Erben bestimmt hat«, sagte Alton, »würde es zu Machtkämpfen kommen, und das können wir uns im Moment nicht leisten. Das Zweite Reich wünscht sich nichts sehnlicher.«
Alle versuchten schweigend zu verarbeiten, was Trace ihnen berichtet hatte, und stellten sich vor, was das für ihre Zukunft bedeuten könnte. Eine Zukunft ohne König Zacharias? Alton schüttelte den Kopf. Es wäre ein harter Schlag für das Reich, aber auch ein harter Schlag für ihn persönlich, denn er hatte König Zacharias, dem sein Volk stets wichtiger war als er selbst, bewundert. Ob er womöglich schon tot war, und diejenigen, die ihm am nächsten waren, hatten die Wahrheit noch nicht bekannt gegeben?
Und Karigan. Nun, da er wusste, wem ihre Zuneigung in Wahrheit galt, tat sie ihm unwillkürlich leid. Sie würde es erst erfahren, wenn sie wieder aus dem Schwarzschleierwald zurückkam. Falls sie zurückkam. Estral drückte seine Hand, und der düstere Blick, den sie ihm zuwarf, deutete an, dass sie etwas Ähnliches dachte.
»Wie lautet Connlys Auftrag für uns?«, fragte Alton Trace.
»Wir sollen so weitermachen wie bisher. Unsere Befehle haben sich nicht geändert. Inzwischen wird er versuchen, so viel wie möglich über Hauptmann Mebstone herauszufinden; und er wird der Königin eure Information über die Schläfer weitergeben. Er bat mich, euch daran zu erinnern, dass wir nach wie vor der Botendienst des Königs sind. Und falls der König stirbt, sind wir die Reiter der Königin.« Auf diese Äußerung folgte ein ernstes Schweigen.
»Ich möchte, dass wir täglich miteinander kommunizieren«, sagte Alton zu Trace. »Oder sogar öfter, falls nötig.«
»Unbedingt.«
Als sie sich verabschiedeten, verschwand Trace, und Merdigen erschien wieder.
»Wir müssen es den anderen mitteilen«, sagte Alton. »Können wir das auf dieselbe Weise tun?«
Merdigen nickte. »Natürlich, abgesehen von den Türmen östlich der Bresche.«
»Ich kann zu Garth reiten«, erbot sich Dale.
Alton nickte. »Er und Fern müssen ohnehin auch von Haurris und den Schläfern erfahren. Wir müssen allen einschärfen, was Connly gesagt hat: dass wir weiterhin unsere Pflicht erfüllen müssen, egal ob wir die Reiter des Königs sind oder die Reiter der Königin.«