BLUT FÜR DAS REICH
Später am selben Vormittag ging Estora im kalten Licht des Solariums auf und ab. Zacharias hatte ihr diesen Raum im Herbst als persönliches Refugium eingerichtet, damit sie sich irgendwohin zurückziehen konnte, um ihren Verwandten, den Höflingen und den endlosen Hochzeitsvorbereitungen zu entfliehen. Es schien hundert Jahre her zu sein, und die damaligen Probleme wirkten so viel einfacher. Es war eine sehr großzügige Geste gewesen. Zacharias hatte genau gewusst, was sie brauchte, nämlich diesen Zufluchtsort. Dennoch hatte sie wenig getan, um sich den Raum zu eigen zu machen. Ein paar Stühle, ein Tisch, ein paar Wandbehänge, aber nichts Persönliches. Sie hatte den Raum kaum benutzt und sich stattdessen an Zacharias’ Fersen geheftet, dessen Tagesablauf von seinen königlichen Pflichten bestimmt wurde. Das hatte ihr mehr Energie gegeben, als sich hier zu verstecken.
Der Kamin war dunkel, Regen schlug gegen die Fenster und verhüllte den Blick auf die Schlossgärten. Der Garten war vielversprechend. Es war noch zu früh im Jahr, um Wachstum zu erkennen, aber es war dennoch da, verborgen unter dem Mulch und den Blättern vom letzten Herbst. Noch war alles kahl, aber die Zeit würde die Früchte des Regens und der Sonne und der Wärme zum Reifen bringen. Einige Vögel waren bereits aus ihrem Winterquartier zurückgekehrt und schossen zwischen den Bäumen und Büschen hin und her, auf der Suche nach runzligen Beeren, Samen und Würmern.
Sie zog ihre Stola enger um die Schultern. Sie vermisste die Wärme in Zacharias’ Bett, sie vermisste ihn. Während ihrer Vereinigung war er so stark gewesen, aber dann, nach diesem Erwachen, umso erschöpfter. Er würde wieder gesund werden. Sie wusste es, sie glaubte daran. Er musste einfach. Am liebsten wäre sie den ganzen Vormittag einfach bei ihm geblieben, aber sie musste verschiedene Pflichten erfüllen. Die erste davon galt nicht der offiziellen Liste, die Cummings ihr gegeben hatte, während sie frühstückte.
Es klopfte an der Tür.
Endlich, dachte sie.
Fastion öffnete die Tür einen Spalt und steckte seinen Kopf hindurch. »Leutnant Connly ist da, Herrin.«
»Lassen Sie ihn herein.«
Fastion trat beiseite, damit der Reiter in das Solarium eintreten konnte, dann schloss er die Tür und bezog wieder seinen Posten draußen im Flur.
Connly verneigte sich, seine Bewegungen waren zögernd und sein Blick unsicher. Sie konnte es ihm nicht übel nehmen.
»Eure Majestät«, sagte er. »Ich bin hier, wie Ihr befohlen habt. Wie kann ich Euch dienen?«
»Sie haben niemandem gesagt, wohin sie gingen und zu wem?«
»Ich habe mit niemandem gesprochen, genau wie Ihre Botschaft befahl.«
Estora nickte. »Gut.« Vielleicht war sie seit Richmonts Eingeständnis allzu misstrauisch, aber es war ihr lieber, nichts zu riskieren. »Leutnant, ich weiß, dass dies für uns alle eine schwierige Phase ist, aber ich muss Sie bitten, unser Treffen geheim zu halten.« Geheim. Das Wort hallte mit Richmonts höhnischer Stimme in ihrem Kopf nach. So viele Geheimnisse. Einen Moment lang schloss sie die Augen.
»Darf ich fragen warum, Herrin?«
Eine verwegene Frage, dachte sie, zumal er noch nicht wusste, was er von ihr zu halten hatte. Aber die Reiter waren nun einmal verwegen. Sie wusste ganz genau, wie verwegen sie sein konnten.
»Nein.«
Er neigte den Kopf. »Ich verstehe.«
Er verstand, dass sie ihm noch nicht vertrauen konnte. Ihr fiel ein, wie F’ryan sie früher in den Gemeinschaftsraum der alten Reiterbaracken mitgenommen hatte, wo sie mit den Reitern »Ritter« oder »Intrige« gespielt und manchmal sogar gewürfelt hatte. Connly war dabei gewesen, damals noch unerfahren und gerade erst am Anfang seiner Laufbahn im Botendienst. Sie hatten miteinander gelacht und gewitzelt und einander Geschichten erzählt. Jetzt war alles ganz anders – als wären sie einander noch nie begegnet.
»Ich weiß, dass Sie im Moment nicht so recht wissen, wie Sie mich einschätzen sollen«, sagte sie. Als er sie erschrocken ansah, fügte sie hinzu: »Bitte, beruhigen Sie sich. Ich werfe Ihnen nichts vor.«
»Was ist mit Hauptmann Mebstone?«, fragte er, womit er erneut seinen Mut bewies.
Jemand anderer, ein anderer Monarch, hätte ihn vielleicht für seine Dreistigkeit bestraft. Aber Estora konnte nicht aus ihrer Haut. »Falls Sie das beruhigt, man hat mich informiert, dass Ihr Hauptmann in einer sehr behaglichen Suite im Diplomatenflügel untergebracht wurde – in der besten sogar –, und dass man sie behandelt wie ein Mitglied der königlichen Familie. Und dass sie das alles ungeheuer wütend macht.«
Sie sah ein Lächeln über sein Gesicht huschen, doch dann verschwand es wieder.
»Wann …«, begann er. »Wann werdet Ihr sie freilassen?«
»Ich werde Ihre Frage nicht beantworten, ich wollte Ihnen nur versichern, dass es ihr gut geht.«
»Bitte, darf ich sie sehen?«, fragte Connly.
»Nein.«
Seine Miene verdüsterte sich.
»Aber um ihr einen Gefallen zu tun, und aufgrund ihres langen Dienstes und ihrer Treue zu Zacharias werde ich gestatten, dass ihr Freund Elgin Foxsmith sie besucht. Dass er kein Grüner Reiter mehr ist, macht seine Anwesenheit bei ihr … unkomplizierter. Denn es besteht kein Interessenkonflikt. Ich bin sicher, seine Einschätzung der Bedingungen ihres Hausarrests werden Sie vollauf befriedigen.«
Gut. Der Reiter wirkte erleichtert und entspannte sich.
»Ferner«, fuhr sie fort, »wird es Sie freuen zu hören, dass wir aufgrund der Informationen, die Sie und Ihre Reiter uns über die eletischen Schläfer und die Türme übermittelt haben, zu Ihrer Unterstützung die Stationierung einer weiteren Militäreinheit am Wall angeordnet haben.«
Jetzt war seine Erleichterung geradezu greifbar. Er war froh über den Schutz, den zusätzliche Soldaten für seine an den Türmen stationierten Reiterkameraden bedeuteten, insbesondere für die Reiterin Trace Burns, mit der er seine Gedanken teilte. Aus seiner Reaktion schloss Estora jedoch, dass die beiden mehr als nur Gedanken miteinander teilten.
Sie hoffte, Connlys Vertrauen zu gewinnen, indem sie ihm diese Dinge erzählte, denn sie brauchte seine Hilfe und glaubte, dass die Einzigen, die ihr wirklich helfen konnten, die Grünen Reiter waren – insbesondere ein ganz bestimmter Grüner Reiter.
»Leutnant«, sagte sie, »wie ich höre, wird Beryl Spencer bald zurückerwartet.«
Sobald Elgin erfuhr, dass er Red besuchen durfte, warf er sich auf der Stelle einen alten, mehrfach geflickten Mantel aus Ölhaut über und machte sich durch den Regen auf den Weg von den Ställen, wo er »die Mädels« beaufsichtigt hatte, zum Diplomatenflügel der Burg, wo seine Freundin eingesperrt war. Elgin kam sich vor wie ein Bettler, als er zwischen den eleganten Möbeln hindurchging und ständig reich gekleideten, wichtig aussehenden Leuten begegnete, und er fühlte sich äußerst unbehaglich. Genau aufgrund dieser Gefühle hatte er Sacor-Stadt verlassen, als seine Brosche ihn aus dem Botendienst entlassen hatte, und nun war er doch wieder hier, und Regenwasser tropfte von seinem Mantel auf einen Teppich, der viel mehr wert war als sein armseliger Balg; er senkte den Blick vor den Respektspersonen.
Die Wache vor Reds Tür rümpfte bei seinem Anblick die Nase. »Was willst du, alter Mann?«
»Ich bin gekommen, um Hauptmann Mebstone zu sehen.«
»Geh weg. Es sind nur ganz bestimmte Besucher zugelassen. Befehl der Königin.«
»Aber …«, begann Elgin.
»Verschwinde!«, sagte die Wache.
Eine Waffe tauchte plötzlich aus den Schatten auf, zumindest wirkte es so. Elgin erinnerte sich, dass dieser Mann Fastion hieß. Es war nicht leicht, sich die Namen der Waffen zu merken, denn mit ihrem steinernen Gesichtsausdruck und ihrer schwarzen Kluft sahen sie alle gleich aus. Elgin hatte den Verdacht, dass sie diese Einheitlichkeit absichtlich förderten, da sie es ihnen erlaubte, mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Kein einzelnes Individuum zog die Aufmerksamkeit auf sich.
»Lassen Sie ihn herein«, befahl Fastion mit gebieterischer Stimme. »Die Königin hat seinen Besuch gebilligt.«
»Jawohl, Herr«, sagte die Wache, drehte sich prompt auf dem Absatz um, klopfte an der Tür und öffnete sie für Elgin.
»Danke«, sagte Elgin zu Fastion, und die Waffe nickte.
Das Gemach, das Elgin betrat, barst geradezu vor Luxus, von den Polstersesseln bis zu den Kunstgegenständen, die sogar für sein ungeschultes Auge eindeutig von höchster Qualität waren. Es war tatsächlich eine Suite, denn sie bestand aus Wohnzimmer, Schlafzimmer und Bad. Sie war viel größer als alles, was er je im Leben bewohnt hatte.
Er hatte erwartet, hier einen erbosten Reiterhauptmann vorzufinden, der wie wahnsinnig auf und ab lief. Stattdessen lag Red gemütlich auf einem Sofa, die nur mit Socken bekleideten Füße bequem hochgelegt, und las in einem Buch. Vor dem Sofa auf einem Tisch stand ein Tablett mit einer Teekanne und Gebäck. Elgin glaubte, dass er sie niemals so entspannt gesehen hatte.
Red spähte über ihr Buch hinweg, um zu sehen, wer hereingekommen war. Es dauerte einen Moment, bis sich das Erkennen in ihren Augen abzeichnete, doch dann ließ sie das Buch fallen und sprang auf.
»Meister!«, rief sie. »Was für eine wundervolle Überraschung.« Sie lief auf ihn zu und umarmte ihn. »Ich habe euch alle so vermisst.« Sie umarmte ihn nochmals, bat ihn zum Sofa und goss ihm Tee ein.
»Du bist ja behaglich untergebracht«, bemerkte er trocken.
Sie grinste. »Diener wuseln um mich herum, ich kriege die feinsten Speisen aus der Küche, und außerdem das alles.« Sie wies mit einer Geste auf die Suite. »Aber lass dich nicht täuschen. Innerlich bin ich am Kochen. Aber zumindest habe ich es bequem. Ich bin fast verrückt geworden vor Langeweile, bis Destarion mir die gebracht hat.« Sie deutete auf einen Stapel verstaubter Bücher auf dem Tisch, ähnlich dem, das sie gelesen hatte. Manche waren so groß wie Aktenordner, manche waren viel kleiner, ihre Lederumschläge völlig schmucklos. Elgin schlug eins davon auf, dessen Seiten mit einer engen Handschrift bedeckt waren.
»Was sind das für Bücher?«, fragte er.
»Fallchroniken der Heiler. Dies ist nur ein kleiner Stapel. Destarion hat seinen Lehrlingen befohlen, auch die anderen zu durchsuchen.«
»Wonach?«
»Wir suchen nach Hinweisen auf Reiter – oder auch auf andere Leute –, die echte Heilerfähigkeiten besaßen, so wie Ben. Ich hoffe, wir finden irgendetwas, aus dem hervorgeht, wie wir ihm helfen können. Bis jetzt war noch nichts dabei, aber dafür gab es einige Hinweise auf mich. Ich bin sicher, Destarion hat mir absichtlich ausgerechnet diese Chroniken zur Durchsicht gegeben.«
»Wovon sprichst du?«
»Die Heiler, die über meine verschiedenen Verletzungen Buch führten, haben sich ausführlich über meinen Jähzorn beklagt. Wenn ich bei Bewusstsein war, heißt das. Ein Heiler hat sogar erwähnt, dass es ihm lieber war, wenn ich ohnmächtig war.« Sie runzelte die Stirn.
Elgin hätte fast in seinen Tee geprustet. Stattdessen hustete er, geschüttelt von unterdrücktem Gelächter. Er erinnerte sich daran, was für eine schwierige Patientin sie sein konnte.
Sie hob eine Augenbraue. »Lachst du mich etwa aus?«
»Nein, nein, natürlich nicht.«
»Natürlich nicht.« Sie verdrehte die Augen. »Jedenfalls hat Destarion mir heute Morgen erzählt, dass sowohl für Zacharias als auch für Ben Hoffnung besteht. Zacharias ist einige Male aufgewacht, und Ben hat sehr unruhig geschlafen, als habe er geträumt, was wesentlich besser ist als der totenähnliche Zustand, in dem er sich bisher befand. Destarion hat auch gesagt, dass seine Wangen ein bisschen Farbe bekommen haben. Hast du irgendetwas gehört?«
»Nein«, antwortete Elgin. »Ich war den ganzen Morgen mit den jungen Leuten zusammen. Du hast mehr erfahren als ich.«
»Ich hoffe, es wird sich alles aufklären, sobald Zacharias wieder völlig zu sich gekommen ist. Aber falls er nicht wieder aufwacht, werden sie meinetwegen wahrscheinlich irgendetwas unternehmen müssen.«
»Red …«
»Nein, Elgin.« Bisher war sie beinah fröhlich gewesen, aber nun wirkte sie bedrückt, und Schatten verdunkelten ihre Augen. »Ich bin realistisch. Hier geht es um Politik, und sie können nicht zulassen, dass jemand Estoras neue Krone gefährdet.«
»Aber du würdest doch nicht …«
»Nein, ich würde mich wahrscheinlich nicht einmischen. Der Zeitpunkt zum Einmischen ist vorüber. Aber ich weiß zu viel, und sie sind nicht sicher, ob sie mir vertrauen können. Und um mich vollends vom Dienst zu suspendieren, müssten sie mich ins Exil schicken. Die einzige andere Möglichkeit wäre, die Verbindung, die ich mit meiner Brosche habe, irgendwie zu zerstören.«
Wie Elgin genau wusste, konnte man diese Verbindung nur zerstören, indem man sie umbrachte. »Das werde ich nicht zulassen«, knurrte er. »Nur über meine Leiche.«
»Danke, alter Freund«, sagte sie und streichelte sein Knie. »Genug von mir. Erzähl mir von meinen Reitern.«
»Nach allem, was du für sie getan hast«, brummte Elgin, der nicht bereit war, das Thema so ohne Weiteres fallen zu lassen. »Das viele Blut, das du für das Reich vergossen hast. Und außerdem hast du den Jungen praktisch allein aufgezogen.«
»Den König«, erinnerte sie ihn.
»Ich erinnere mich nur an den Jungen, der Frösche in meine Stiefel gesteckt hat.«
»Das hat Zacharias getan?«
»Als ob du das nicht wüsstest.«
Sie sah ihn unschuldig an, aber ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel.
»Ähem.«
»Im Ernst, Meister«, sagte sie, »wir alle haben unser Blut für das Reich vergossen, aber als Hauptmann und Beraterin des Königs muss ich außerdem auf der politischen Ebene agieren, und diese Rolle erfordert manchmal genauso viel Blut. Also bitte, erzähl mir doch von meinen Reitern! Hat es irgendwelche Neuigkeiten aus dem Schwarzschleierwald gegeben?«
Elgin kniff die Augen zusammen und betrachtete sie, seine Red. Ja, sie alle hatten ihr Blut für das Reich vergossen, aber man brauchte nur die Narbe anzusehen, die sich von ihrem Kinn über ihren Hals bis unter ihren Kragen erstreckte, um zu wissen, dass sie sogar beinah ihr Leben für das Reich geopfert hätte. Er wusste, dass diese Narbe noch viel weiter nach unten reichte, und dass sie nur ein kleiner Teil des Preises war, den sie an jenem Tag bezahlt hatte, als sie als Grüne Reiterin im Dienst verletzt worden war.
Er würde alles tun, was in seiner Macht lag, um sie zu beschützen. Er wusste, dass ihre Reiter genauso empfanden, und damit hatten diejenigen, die Estora zur Königin erhoben hatten, nicht gerechnet. Er lächelte.
»Noch nichts Neues aus dem Schwarzschleier«, sagte er. »Und was die Reiter angeht: Sophina ist seit jenem Tag ganz sanft geworden.« Seit dem Tag, an dem sie »gesehen« hatte, wie der König von Pfeilen niedergestreckt wurde. »Seitdem hat sich niemand mehr über ihre Überheblichkeit beschwert. Na ja, so gut wie niemand. Sie kommt jetzt sogar mit Merla zurecht.«
Fast zwei Stunden lang plauderte er mit ihr; er erzählte ihr in allen Einzelheiten, was ihre Reiter inzwischen alles angestellt und gelernt hatten, und sie lächelte beim Zuhören, ganz der stolze Hauptmann, aber hinter ihrem Lächeln spürte er eine tiefe Traurigkeit, die er nicht vertreiben konnte, was er auch sagte.