DER SCHWARZSCHLEIERWALD

e9783641094324_i0014.jpgDie flache Höhle, in der Großmutter mit ihren Leuten Zuflucht gesucht hatte, war ein bedrückender, finsterer Ort, aber es war besser, als draußen im Wald auszuharren und in irgendeinem Morast zu versinken. Ihrer Schätzung nach prasselte nun schon seit drei Tagen ein sintflutartiger Regen auf die Baumkronen herab.

Sie hatten die Höhle in einem Hügel entdeckt, der neben dem Weg des Mondes aufragte. Sie war größtenteils natürlichen Ursprungs, aber jemand hatte versucht, sie mithilfe von Steinwerkzeugen, die sie verstreut auf dem Boden gefunden hatten, auszubauen. Der Eingang war erweitert, der Boden geebnet worden, und einiges wies darauf hin, dass man die Wände etwas begradigt hatte. Großmutter hielt das nicht für ein Werk der Eleter, denn dafür war es viel zu primitiv, und abgesehen davon schienen ihr die Eleter nicht wie Wesen, die in Höhlen wohnten.

Sie hatten eine ganze Kolonie nistender Fledermäuse aus der Höhle verscheuchen müssen, übergroße Tiere, die verärgert waren, in ihrer Winterträgheit aufgestört zu werden. Während dieser Verbannung hatten Min und Sarat schrill gekreischt und ihr Haar mit den Händen bedeckt, was die Fledermäuse nur noch mehr aufgebracht hatte. Selbst Großmutter duckte sich zitternd, wenn die lederartigen Fledermausflügel allzu dicht über ihrem Kopf vorbeizischten.

Später hatte Lala eine tote Fledermaus auf dem Höhlenboden gefunden, die sie untersuchen wollte. Sie bohrte ein Stöckchen in den Kadaver und drehte ihn damit um. Auch Großmutter betrachtete das Tier und staunte über die scharfen Klauen und Greifzähne. Die Fledermäuse, die sie von zu Hause kannte, waren winzig, höchstens so lang wie ihr Zeigefinger, und harmlos. Diese hier waren mindestens so lang wie ihr Unterarm. Großmutter und ihre Leute konnten sich glücklich schätzen, nicht gebissen oder gekratzt worden zu sein.

Als Griz sah, was Lala tat, nahm er ihr ohne die geringste Entschuldigung ihren Stock weg und schleuderte damit die tote Fledermaus aus der Höhle nach draußen. Dann spannten er und Cole eines der Zelte über den Höhleneingang, sowohl zum Schutz vor dem Regen als auch, um die Rückkehr der Fledermäuse zu verhindern, während Deglin sich bemühte, Feuer zu machen, und Min und Sarat Guano vom Höhlenboden fegten. Deglin erklärte, dass sich einiges davon gut als Brennstoff eignete.

Durch einen Spalt in der Höhlendecke entwich der Rauch ihres Lagerfeuers, und Großmutter hatte sich, seit sie den Wald betreten hatten, nie so warm und trocken gefühlt. Von Zeit zu Zeit sah sie große, mit zahlreichen Beinen versehene Insekten am Rand des Feuerscheins vorbeihuschen, aber solange sie dicht genug am Feuer blieb, hielten sie sich von ihr fern. Ab und zu kreischte Min, worauf Cole zu ihr kam und das jeweilige Insekt unter seinem Stiefel zerquetschte.

Nachdem sie ihre Habseligkeiten zum Trocknen ausgebreitet hatten, brühten Min und Sarat einen Tee auf und begannen dann, den üblichen dünnen Eintopf zu kochen. Der Regen versorgte sie zwar mit genügend Wasser, aber es hinterließ einen ausgesprochen modrigen Geschmack auf der Zunge.

Lala amüsierte sich damit, nach Insekten zu suchen und sie zu zertreten, und Großmutter starrte ins Feuer und fragte sich, wann der Regen nachlassen würde, sodass sie ihre Reise fortsetzen konnten. Sie rätselte auch darüber, ob die Wächter da draußen im Regen hockten und darauf warteten, dass sie die Höhle verließen. Sie hatte ihren Blick gespürt, seit sie den Weg des Mondes betreten hatten. Sie und ihre Leute wurden verfolgt.

Sie erwähnte die Wächter den anderen gegenüber nicht, denn sie wollte sie nicht erschrecken, bevor sie eindeutig bedroht wurden. Die Aufmerksamkeit der Wächter war intensiver als das allumfassende Bewusstsein des Waldes. Dieser spürte zwar, dass sie ihn durchquerten, aber die Wachsamkeit der Wächter war gezielt. Intelligent.

Vielleicht wollten die Wächter herausfinden, wie mächtig Großmutter und ihre Leute waren und wie entschlossen sie sich verteidigen würden, falls sie angegriffen wurden. Aber vielleicht waren sie einfach nur neugierig.

Eins wusste Großmutter jedoch genau: Sie wollte kein Risiko eingehen. Deshalb erweiterte sie an jedem Lagerplatz ihre Beschwörung, und am Eingang dieser Höhle ebenfalls.

Während sie in die Flammen starrte, fragte sie sich außerdem, was inzwischen auf der anderen Seite des Walles geschah. Wie Oberst Birch wohl zurechtkam? Wie kam er mit der Musterung und Ausbildung der Streitkräfte des Reiches voran? Sie beherrschte eine Methode, die es ihr erlaubte zu sehen, was er tat, aber der Wald machte die Anwendung der Kunst unberechenbar. Trotzdem musste sie es irgendwann versuchen, und später war ihre Situation vielleicht noch prekärer als jetzt.

Schon vor langer Zeit hatte sie abgeschnittene Fingernägel des Obersten gesammelt, um später durch seine Augen sehen zu können. Nun zog sie mit spitzen Fingern einen davon aus dem winzigen Beutel in ihrem Garnkorb. Es war ein schönes, sichelförmiges Exemplar, das vielleicht von seinem Daumen stammte. Birch pflegte seine Fingernägel erstaunlich gut, und sie nahm an, dass dies der Unterschied zwischen einem Offizier, der jederzeit zum Dienst bei Hofe bereit sein musste, und einem gemeinen Soldaten war.

Sie knüpfte ein Stück himmelblaues Garn um den Fingernagel  – die Knoten des Sehens. Sie hatte festgestellt, dass Himmelblau sich gut zum Sehen über weite Entfernungen hinweg eignete, denn es war, als würde man durch den klaren Himmel spähen.

»Zeig es mir«, befahl sie, als sie den letzten Knoten geknüpft hatte. Sie warf das Gebilde ins Feuer. Das Feuer flammte auf. Das Garn wand sich, als die Flammen es auffraßen.

Zunächst dachte sie, dass die Beschwörung versagte, doch dann öffnete sich ein Fenster im Feuer, und sie hielt den Atem an. Schnee. Schnee rahmte die Flammen eines Lagerfeuers ein. Ein Sturm rüttelte an Zeltreihen, und das Schneegestöber war so dicht, dass sie nicht weit sehen konnte.

Drei Gestalten kämpften sich in ihr Blickfeld und blieben vor ihr, beziehungsweise vor Birch stehen. Einer davon waren die Hände auf den Rücken gefesselt, und ihr Gesicht war blau geschlagen und blutig. Sie war in Grün gekleidet. Es war einer der verfluchten Grünen Reiter des Königs.

»Was soll mit dem Spion geschehen?«, fragte einer der Männer, die ihn festhielten.

»Er ist ein Bote«, sagte Birch, seine Stimme körperlos. Dies war ganz natürlich, denn Großmutter beobachtete die Szene ja durch seine Augen. »Deshalb werden wir dem König eine Botschaft schicken.«

»Ich verstehe.« Ein Messer blitzte auf, und der Mann stieß es in den Rücken des Reiters.

Die Augen des Reiters wurden groß. Schneeflocken fingen sich in seinem windzerzausten Haar. Unter dem getrockneten Blut auf seinem Gesicht erkannte Großmutter, dass er jung war.

Aber keineswegs unschuldig. Nein, das wusste sie besser. Von Anfang an hatten die Grünen Reiter sich gegen das Reich gestellt und es als Späher, Boten und Krieger des Königs bekämpft. Und ja, auch als Spione, indem sie ihre bescheidenen, aber dennoch heimtückischen Fähigkeiten der Kunst benutzten, um die Kräfte des Reiches zu bekämpfen, und nun auch die des Zweiten Reiches.

Sie empfand keinen Funken Mitgefühl, nicht einmal, als der Mann das Messer im Rücken des Reiters herumdrehte. Der Mund des jungen Mannes öffnete sich zu einem lautlosen Schrei, während er auf die Knie fiel und im Schnee zusammensackte. Irgendeine Mutter hatte gerade ihren Sohn verloren. Genauso hatten die Mütter des Reiches an die heidnischen Sacorider ihre Söhne verloren, viele Söhne.

Nein, sie empfand kein Mitgefühl, als er in den Schnee fiel und scharlachrotes Blut aus seinem Munde strömte. Ein Feind des Zweiten Reiches war tot, und das war stets ein Grund zur Freude.

»Mach die Botschaft fertig«, sagte Birch. »Die Pferde der Grünlinge sind schlau – dieses wird direkt zum König laufen.«

Es gab Gelächter, und dann konnte Großmutter nichts anderes mehr sehen als Schnee, Schneeflocken, die in allen Richtungen herumwirbelten. Die Vision erlosch, und sie war allein im Dunkeln. Das einzige Licht stammte von einer Kerze, die Cole auf der anderen Seite der Höhle angezündet hatte. Er brachte sie zu Großmutter herüber, und alle starrten auf das tote Lagerfeuer. Die Höhle stank nach feuchtem Ruß.

Sarat griff nach der Schöpfkelle im Kessel, konnte sie aber nicht herausziehen. »Was hast du getan, Großmutter?«, schimpfte sie. »Der Eintopf ist gefroren.«

»Oh weh«, antwortete Großmutter. Wieder einmal hatte die Unberechenbarkeit des Waldes ihren Zauber verzerrt. »Es tut mir leid, Kind. Wir werden das Feuer wieder anzünden müssen, um ihn aufzutauen.«

Während Cole seine Kerze benutzte, um neuen Zunder anzufachen, nahm sich Großmutter vor, das nächste Mal bis nach dem Abendessen zu warten, bevor sie eine Beschwörung begann. Aber das, was sie gerade gesehen hatte, war wesentlich befriedigender als jede Mahlzeit.

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