EIN GESICHT IM FEUER
Großmutter war vom Weben der Beschwörungen so erschöpft, dass sie beinah zusammenbrach. Cole trug sie von den Leichen Deglins und Sarats fort, während Min ihnen weinend folgte. Lala lief neben ihnen her und warf Großmutter beunruhigte Blicke zu.
Cole blieb am Rand des Haines stehen und setzte sie sanft auf den Boden. Sofort begann er, Holz für ein neues Feuer zu sammeln. Min brachte eine Decke zum Vorschein, mit der sie Großmutter zudeckte.
»Es geht mir gut, wirklich«, betonte sie.
»Sind wir … sind wir hier sicher vor diesen Schläferwesen?«, fragte Min und zupfte nervös am Saum ihres Umhangs.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Großmutter. »Ich nehme aber an, dass sie sich mehr für das interessieren, was im Schloss ist, als für uns. Zumindest vorläufig. Lala wird ein paar Schutzschilde errichten, nicht wahr, Lala?«
Das Kind nickte ernst.
»Geh sparsam mit dem Garn um, Kind. Es ist alles, was wir noch haben.«
Während Lala sich an die Arbeit machte, kuschelte Großmutter sich in ihre Decke, schlummerte ein und träumte von sonnigen, trockenen Tagen in ihrem kleinen Küchengarten in Sacor-Stadt. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, und ihren Händen entströmte der Duft von würzigen Kräutern und Erde.
Sie wachte auf, als Min ihr einen Becher Brühe reichte, und erschrak darüber, dass es so dunkel war und ein Lagerfeuer brannte. Sie schloss die Augen und spürte die Schutzschilde, mit denen Lala sie umgeben hatte – selbst ohne Worte hatte sie ihnen Macht verliehen, sodass sie weitermachen konnten.
»Mein liebes Kind, du bist ein Wunder! Deine Schutzschilde sind großartig.« Sie streckte den Arm aus und drückte die Hand ihrer Enkelin.
Wie alt meine Hand neben der ihren aussieht, überlegte Großmutter. Wie gut, dass sie sich so großartig auf die Kunst versteht. Großmutter wusste, dass sie das Zweite Reich nicht für immer anführen würde. Sie hoffte, dass ihr noch genügend Zeit blieb, Lala so weit auszubilden, dass sie ihren Platz einnehmen konnte.
Das Mädchen strahlte sie an und zog dann ihr schmuddliges Garnstück aus der Tasche, um damit zu spielen.
»Was passiert jetzt?«, fragte Cole, der ebenfalls Brühe aus seinem Becher schlürfte. »Gehen wir jetzt von hier weg?«
Großmutter hörte die Erschöpfung in seiner Stimme. Ihr persönlich wäre nichts lieber gewesen, als den Schwarzschleierwald zu verlassen, auch wenn der bloße Gedanke an den langen Rückweg ihre Müdigkeit verstärkte.
»Da wir ein so schönes Feuer haben, möchte ich gern sehen, was draußen in der Welt vorgeht, und vielleicht wird Gott zu mir sprechen und uns Anweisungen geben.«
Großmutter lehnte sich bequem zurück und ruhte sich aus, während Lala die ganze Arbeit tat. Lala knüpfte einen Fingernagel von Birch in einen Knoten und warf das Garn ins Feuer.
Großmutter starrte in die Flammen und konzentrierte ihre Absicht darauf, durch Birchs Augen zu sehen. Wie stand es um die Ausbildung seiner Soldaten? Was geschah an der Nordgrenze?
Und dann war sie dort und blickte durch Birchs Augen, aber sie sah … nur dunkle Nacht. Sie seufzte. Nachdem sie so viel Zeit im Schwarzschleierwald verbracht hatte, neigte sie dazu zu glauben, dass auf der anderen Seite des Walles immer die Sonne schien, aber das stimmte nicht. Auch dort wurde es Nacht.
Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und ihr wurde klar, dass Birch in die Ferne starrte, wo Lampenlicht durchs Fenster schien. Jemand schlich sich neben ihn, aber Großmutter konnte die Gestalt des Neuankömmlings im Finsteren kaum ausmachen.
»Berichten Sie«, sagte Birch leise.
»Sir, es sieht aus, als seien es ungefähr dreißig Männer. Nur wenige Frauen. Sie müssen die anderen und die Kinder weggeschickt haben.«
»Genau wie in den letzten beiden Siedlungen«, überlegte Birch. »Sie haben von uns gehört.«
»Wenn sie klug wären, wären sie alle weggegangen. Es macht viel weniger Spaß, wenn sie nicht versuchen, ihre Familien zu beschützen.«
»Wir sind im Krieg, Stabsunteroffizier«, knurrte Birch. »Wir sind nicht hier, um uns zu amüsieren. Wir bilden Männer dazu aus, zu kämpfen und zu töten.«
»Jawohl, Sir«, antwortete der Unteroffizier, und es klang, als sei er wegen der Ermahnung eingeschnappt. »Wie lauten Ihre Befehle?«
Birch betrachtete den Mond durch die Bäume hindurch. Er war eine dünne Sichel, wie der Fingernagel, den Lala in den Knoten eingefügt hatte. »Sobald es dämmert, können wir uns ein besseres Bild des Terrains machen. Dann bringen wir die Männer in Stellung. Bei Sonnenaufgang schlagen wir zu.«
»Dreißig sind keine große Herausforderung.«
»Es ist eine gute Übung«, sagte Birch. »Bald werden unsere Soldaten härterem Widerstand begegnen – größeren Städten, gut ausgebildeten Milizen. Wir müssen diese Übungsangriffe nutzen, solange es geht.«
Großmutter zog sich aus ihrer Vision zurück. Es sah aus, als machte Birchs Arbeit gute Fortschritte. Vielleicht könnte sie morgen wieder ins Feuer spähen, um nachzusehen, wie seine Kampagne verlief. Sie schlummerte ein, die Brühe wärmte ihren Bauch, und die Hitze des Feuers wärmte ihre Haut. Sie war so zufrieden wie eine Katze, die in einem sonnigen Fenster liegt.
Sonderbarerweise hatte sie das Gefühl, dass ein Paar Augen sie aus dem Feuer beobachtete, ein Paar schwarzer Augen ohne jede Tiefe in einem Gesicht aus Flammen.
Sie schrak hoch, aber das Gesicht war immer noch da. Die anderen konnten es anscheinend nicht sehen.
»M-mein Herr?«, sagte Großmutter.
»DIE SCHLÄFER?«
»Sie sind erwacht.«
Die Augen schimmerten. »Ausgezeichnet.« Ein paar Augenblicke lang verlor das Gesicht seine Form, doch dann flackerte das Feuer auf, und das Gesicht bildete sich neu, in züngelnder Wut.
»SIE HAT MICH BESIEGT. SIE WIRD DIE SCHLÄFER STEHLEN! DU MUSST SIE AUFHALTEN.«
Dann erklärte er Großmutter, wonach sie Ausschau halten musste, während glühende Zweige von den angesengten Bäumen herunterfielen. Die Königin von Argenthyne hatte in einer ätherischen Form die ganzen Jahre überlebt und den Hain in einem bestimmten Zeitmaß bewahrt. Anscheinend hatte sie geplant, die Schläfer in jener fernen Vergangenheit zu erwecken und in Sicherheit zu bringen.
Großmutter hatte keine Möglichkeit herausfinden, wie man die Königin finden und sie über die Zeitläufte hinweg hätte bekämpfen können, und ihre Leute erst recht nicht, aber dennoch musste sie Gottes Willen gehorchen. Sie besaß ihre Werkzeuge. Sie knüpfte einen Knoten, warf ihn ins Feuer und schickte einen Fühler der Macht in die Finsternis aus, um einen Schläfer zu suchen. Oder mehrere Schläfer. Sie brauchte einen oder mehrere, die willig und fähig waren, ihren Wünschen zu willfahren.