KOLIBRIS
»Unklug?«, herrschte Grant die Eleter an. »Ihr habt allen Bewohnern dieses Waldes verraten, wo wir sind, und bezeichnet das lediglich als unklug?«
»Ihr Geschrei«, antwortete Graelalea, »dient nur dazu, weitere Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Oh, jetzt lasst Ihr Euch also herab, mit mir zu sprechen?«
Karigan musste lächeln, als sich endlich einmal jemand anders über Graelaleas arrogante Art entrüstete. Sie wandte sich von dem Streit ab und spähte die Straße entlang in den Wald. Viele Meter weiter entdeckte sie den Schein eines weiteren Lumeni auf der anderen Straßenseite, dessen Licht geisterhaft durch den Nebel strahlte.
Yates trat zu ihr. »Wir sind kaum aufgebrochen, und schon wollen sie einen Krieg anfangen.«
Hinter ihnen war der Streit schärfer und lauter geworden. Lhean hatte sich mit eletischen Ermahnungen eingemischt, und sein Tonfall war unverkennbar spöttisch.
»Ich hoffe nicht«, antwortete Karigan. »Wir brauchen einander, wenn wir das hier schaffen wollen.«
»Schau«, sagte Yates und deutete mit dem Finger.
Karigan hörte es, bevor sie etwas sah, ein summendes Geräusch wie von einer Biene. Es war jedoch keine Biene, sondern ein Kolibri, der vor ihnen flatterte und dessen schneller Flügelschlag das Summen verursachte. Im Licht des Lumeni schimmerten seine grünen Federn irisierend, und an seiner Kehle leuchtete ein rubinroter Fleck. Er sah genau so aus wie die Kolibris zu Hause.
»Ob er sich wohl verirrt hat?«, überlegte sie. Wenn Wesen aus dem Schwarzschleierwald durch die Bresche in ihre Welt eindrangen, konnte das Gleiche bestimmt auch umgekehrt passieren.
»Schau, da ist noch einer«, sagte Yates.
Ein zweiter Vogel schoss neben den ersten und scheuchte ihn weg. Karigan fragte sich, ob er wohl sein Revier verteidigte, obwohl sie nirgendwo Blumen entdecken konnte. Vielleicht war sein Nest oder sein Partner in der Nähe?
Während der Kolibri um die Gruppe herumsurrte, erschien ein dritter und schwebte dicht vor Yates’ Gesicht.
»Sie sind wie kleine Juwelen«, sagte er fasziniert.
Es gab eine verwischte, perlmuttfarbene Bewegung: Ein Eleter bewegte sich schneller, als das Auge zu folgen vermochte, hieb sein Schwert dicht vor ihnen durch die Luft und zerteilte den Vogel. Die beiden Hälften fielen zu Boden. Karigan und Yates starrten entsetzt auf die Überreste des Kolibris, dessen Blut zwischen den Pflastersteinen versickerte.
»Alle fünf Höllen!«, rief Yates. »Warum habt Ihr das getan? Das war ein Kolibri!«
»Man kann hier keinem Wesen trauen«, sagte der Eleter. Es war Spiney, in dessen Augen im Licht des Lumeni silberne Funken aufblitzten.
»Aber …«, begann Yates.
Ein Dröhnen erhob sich um sie herum im Wald, wuchs immer mehr an und wurde zu einem unerträglichen Gebrüll, das schmerzhaft durch Karigans ganzen Köper pulsierte. Die Äste der Bäume vibrierten, sodass sich das angesammelte Regenwasser über sie ergoss.
»Was ist das?«, brüllte Grant.
»Machen Sie sich verteidigungsbereit!«, rief Graelalea.
Eine schimmernde Kolibriwolke tauchte aus dem Wald auf und schwebte um die Gruppe herum. Die Flügel der Vögel flatterten fieberhaft, und das Geräusch war unerträglich. Sie strichen über ihre Köpfe hinweg und schossen in die Gruppe hinein. Es waren Hunderte – nein, Tausende.
Ard schrie. Karigan wirbelte herum und sah, dass ein Kolibri seinen langen Schnabel in Ards Schulter gebohrt hatte und wild flatterte, um noch tiefer einzudringen. Seine Kehle pulsierte, als er trank, und der rubinrote Fleck auf seiner Kehle verdunkelte sich zu einem tiefen Purpur.
Graelalea riss den Vogel blitzartig aus Ards Schulter und schleuderte ihn auf die Straße, wo er schwach und bewegungslos liegen blieb. Blut troff aus seinem Schnabel.
»Die sind nicht auf Nektar aus«, sagte sie.
Die Kolibris griffen an. Schnäbel stießen gegen eletische Rüstungen und drangen in sacoridisches Fleisch, begleitet von Schmerzensschreien. Schwerter blitzten durch die Luft und töteten Vögel einfach deshalb, weil es so viele waren, denn eigentlich waren sie zu schnell und ihre Bewegungen zu unberechenbar, als dass man sie hätte bekämpfen können. Nur die Eleter schienen in der Lage zu sein, sie gezielt aus der Luft zu hauen.
Karigan schlug mit ihrem Stab auf sie ein, aber angesichts der unglaublichen Geschwindigkeit, mit der sich die Vögel um sie herum bewegten, waren ihre Bemühungen lächerlich. Zumindest hielt sie sie sich vom Leib und war dankbar, dass ihr Rucksack ihren Rücken schützte, auch wenn er ihre Bewegungen verlangsamte.
Yates schrie. Ein Kolibri bohrte sich in seinen Schenkel. Sie folgte Graelaleas Beispiel und riss ihn heraus. Sie konnte seinen Körper kaum in der Hand spüren. Er schleuderte ihr eine lange, gespaltene Zunge entgegen, und sie zerschmetterte ihn auf den Pflastersteinen der Straße.
Sie duckte sich gerade noch rechtzeitig, als ein weiterer Kolibri auf ihr Auge zuflog. Einer hackte seinen Schnabel in das Leder ihrer Stiefel. Sie trat ihn weg. Ein weiterer erwischte ihren Handrücken und hinterließ eine Blutspur.
Porter schrie auf und schwenkte die Arme, als er auf den losen Steinen den Halt verlor. Die Kolibriwolke hielt inne wie ein einziges Wesen, schwebte mit schwirrenden Flügeln und wartete. Porter stürzte zu Boden, und bevor er auch nur versuchen konnte, wieder aufzustehen, stürzte sich die ganze Kolibriwolke auf ihn, eine wirbelnde Masse von Grün und Silber und Purpur, die ihn einhüllte. Er schlug wild mit den Armen und trat um sich, konnte die Vögel aber nicht abschütteln.
»Schnell!«, schrie Graelalea.
Einige Leute aus der Gruppe fielen neben Porter auf die Knie und zerrten Hände voll Federn und Schnäbel aus seinem zuckenden Körper, während Karigan und die anderen versuchten, die fliegenden Vögel ringsum wegzuschlagen. Porters Schreie hallten durch den Wald und ließen Karigan das Blut bis in die Zehen gerinnen.
Bald wurden die Schreie schwächer und hörten dann ganz auf. Der Vogelschwarm erhob sich langsam und unbeholfen aufgrund der vollen Mägen und flog in den Wald zurück. Karigan wandte sich von Porters abscheulichen Überresten ab.
»Es ist kein Leben mehr in ihm«, verkündete Graelalea. »Er sollte zur letzten Ruhe gebettet werden, wie Ihre Sitten es vorschreiben.«
»Was ist mit den Vögeln?«, stieß Ard hervor. Er blutete aus vielen Wunden. »Was ist, wenn sie zurückkommen?«
»Sie werden nicht zurückkommen. Zumindest vorläufig sind sie satt.«
Man breitete Porters Umhang über seine Leiche und errichtete einen Hügel aus losen Pflastersteinen über ihm. Unterdessen versorgten die Eleter, die den Angriff weitgehend unverletzt überstanden hatten, die Wunden der Sacorider mit ihrer Evaleoren-Salbe. Karigans Geist beruhigte sich, als die Eleterin Hana die duftende Salbe in ihre Handwunde rieb. Im Vergleich zu ihren Kameraden war Karigan noch gut davongekommen.
Als die Wunden versorgt und der Totenhügel errichtet waren, stieß Grant Porters Schwert dort in den Boden, wo seine rechte Hand gewesen wäre, und murmelte ein paar stockende Worte, in denen er die Götter bat, den guten Gefreiten in den Himmeln willkommen zu heißen. Als er fertig war, machten die Sacorider das Zeichen der Mondsichel, während die Eleter neugierig und unbeteiligt zusahen.
Grant brauchte einige Zeit, um Porters Habe zu durchstöbern, wobei er das meiste wegwarf und nur Dinge aufhob, die für die Mission unentbehrlich waren. Unterdessen wandte Karigan ihren Blick vom Grab ab und spähte über die Straße. Sie hatte Porter kaum gekannt, aber sie zweifelte nicht daran, dass er ein guter, tapferer Mann gewesen war. Sonst hätte man ihn nicht für diese Expedition ausgewählt. Sein Schicksal hätte ebenso gut sie selbst oder Yates ereilen können, oder irgendeinen der anderen. Und das konnte immer noch geschehen.
Sie zupfte zarte, schimmernde Federn von ihrer Kleidung. Kolibris, dachte sie kopfschüttelnd. Sie hatte damit gerechnet, gegen andere schreckliche Wesen zu kämpfen, die im Wald lebten, aber Kolibris? Sie würde sie nie wieder im selben Licht sehen können wir früher, nicht einmal auf ihrer Seite des Walls.
Als in den Ästen über ihnen Flügel schlugen, dachte sie, dass die Vögel trotz Graelaleas Versicherung zu einem erneuten Angriff zurückgekommen waren.