RÜCKZUG UND ENTSCHLUSS
Irgendetwas war schrecklich schiefgegangen. Großmutter hatte es, während sie die Nacht im Hain verbrachten, kurz nach Mitternacht gespürt, so wie man das Brechen eines Knochens spürt. Sie hatte im Schlaf ein entsetzliches Klagen gehört, wie von einem gewaltigen Tier, das schrecklich verwundet wurde, und als sie aufwachte, stellte sie fest, dass die Äste der Bäume über ihr bebten und der ganze Wald nervös geworden war. Gott hatte gesagt, dass er ihre sichere Rückkehr nach Hause gewährleisten würde, aber als sie hastig packten und machten, dass sie aus dem Hain herauskamen, war der Wald so feindselig wie eh und je, unsichtbare Augen starrten sie feindselig an, namenlose Wesen gierten nach ihrem Blut, und nun hatten sie nicht einmal mehr die Erdriesen bei sich, die sie geschützt hatten.
Großmutter hatte einen Salamanderkompass erschaffen müssen, der ihnen half, ihren Weg durch die gewundenen Straßen von Argenthyne zu finden, bis sie endlich die Hauptstraße wiederfanden, die sich um den See wand. Selbst der See war in Aufruhr; seine Oberfläche war aufgewühlt, und Wellen klatschten ans Ufer. Als sie zu den Schlosstürmen zurückblickte, waren sie schwärzer geworden, als wären sie verfault, als würden sie sterben, und dann wurden sie von nassen Wolken verschlungen. Bittere Regentropfen begannen auf ihr Gesicht niederzuprasseln.
Da sie nun zwei ihrer Männer eingebüßt hatten – oder sogar drei, wenn sie Regin mitzählte, den sie ganz am Anfang ihrer Reise verloren hatten –, war es ungeheuer schwierig, im Regen ihr Lager aufzuschlagen, denn sie hatten es noch nie allein gemacht. Mit ein bisschen Unterstützung durch Großmutters Kunst schaffte Cole es, ein Feuer anzuzünden.
Obwohl Lala nun eine Stimme besaß, sagte sie nur wenig. Ab und zu sang sie einzelne Fetzen eines Liedes.
»Mama«, sagte das Mädchen und schmiegte sich am Feuer an Großmutter.
Großmutters Sorgen und Schmerzen und die Kälte in ihren Knochen zerschmolzen zu nichts, als Lala sie so nannte, und sie schlang ihren Arm um das kleine Mädchen.
»Bald werde ich dir Lieder beibringen«, sagte Großmutter.
»Ich glaube, ich kenne schon ein paar«, antwortete Lala. »Sie sind zusammen mit meiner Stimme gekommen.« Und sie sang den Refrain eines lächerlichen Trinkliedes.
»Nein, nein«, sagte Großmutter, so sanft sie konnte. »Ich muss dich die Lieder aus Arcosien lehren, die uns überliefert wurden, und auch andere Lieder, die dir bei der Kunst helfen werden.«
»Ach so.«
Heute Abend war Großmutter zu müde zum Unterrichten, deshalb saßen sie eine Weile schweigend da, während der Regen in ihrem Lagerfeuer zischte und dampfte. Offenbar würde ihre Heimreise keineswegs einfacher sein als der Herweg, insbesondere da Gott anscheinend sein Versprechen, sie zu schützen, nicht einzuhalten gedachte. Großmutter seufzte, sie freute sich absolut nicht auf die gefährliche Wanderung. Dann fiel ihr ein, dass sie nachsehen konnte, was Birch machte, und ihre Stimmung hellte sich auf. Sie hatte längst sehen wollen, wie es mit seiner Kampagne stand, und vielleicht würde Gott zu ihr kommen, und sie konnte ihn um Schutz anflehen.
Also verknotete sie einen Teil ihres kostbaren, rasch dahinschwindenden Garns, knüpfte einen von Birchs Fingernägeln hinein und warf das Gebilde ins Feuer.
Und sie sah eine Abenddämmerung. Die Abende dort waren heller, und es regnete nicht. Sie hörte das Aufeinanderschlagen von Stahl und sah durch Birchs Augen. Er war umgeben von Toten, die ringsum gefallen waren. Sie schienen … Nein! Es waren seine eigenen Leute!
»Rückzug!«, brüllte Birch und schwang sein Schwert.
Als er einen Blick über die Schulter warf, sah sie Männer mit Lanzen und Schwertern, die ihn verfolgten. Unter ihrer grob gewebten Kleidung schimmerten Kettenhemden. Unter einfachen Mänteln und Umhängen blitzten schwarz-silberne Uniformen.
Aus Birchs Gedanken erfuhr sie, dass er seine Männer in eine Falle hatte tappen lassen. Er war allzu zuversichtlich geworden, und seine Kriegertruppe war nun geschlagen. Sie waren auf mehr als nur die dreißig Feinde gestoßen, von denen ihm seine Spione berichtet hatten. Und sie wurden von Sacoridiern abgeschlachtet.
»Rückzug!«, brüllte er den Überlebenden erneut zu.
Großmutter zog sich aus der Verbindung zurück und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie musste dringend heimkehren. Sie konnte nicht zulassen, dass das Zweite Reich fiel.