ESTRALS HARMONIEN

e9783641094324_i0051.jpg»Was?« Alton rieb sich die Augen, als stünde ein Geist vor ihm.

»Hallo«, wiederholte Estral. »Und ich dachte, ich sei diejenige mit dem Gehörschaden.« Sie grinste ihn an, aber diesmal geriet ihr das Grinsen nicht so ironisch wie sonst. Es wirkte eher fragend, als wäre sie nicht sicher, wie er sie empfangen würde.

»Wie?«, herrschte er sie an. »Wie bist du hier hereingekommen?«

»Ich habe den Hütern vorgesungen. Es hat ihnen gefallen, und sie haben mich durchgelassen.«

Sie sagte es, als wäre es das Einfachste der Welt. Alton wurde ganz schwindlig, und er packte den Kaminsims, um sich festzuhalten. »Du … du hast den Hütern vorgesungen? Und sie haben dich durchgelassen?«

Ihr Lächeln verschwand. »Wenn du willst, gehe ich wieder.«

»Nein! Nein …« Er lachte. »Du hattest gestern ganz recht.«

»Wirklich? Womit?« Nun betrachtete sie ihn mit einem argwöhnischen Glitzern in den Augen.

»Damit, dass Musik magisch sein kann. Aber ich nehme an, nicht jeder kann sie magisch machen. Jedenfalls nicht so wie du.«

Das Lächeln auf Estrals Lippen kehrte zurück.

Alton lächelte zurück. »Wieso hast du es überhaupt versucht?«

»Meine Musik hat dir und Dale dabei geholfen, in den Erdturm zu kommen, und da dachte ich, ich versuche es auf eigene Faust auch hier am Himmelsturm.« Sie sah sich in der Turmkammer um. »Ich muss zugeben, dass ich auch neugierig war.«

Alton war ein wenig enttäuscht über diese Antwort. »Du hast eine Decke mitgebracht.«

»Ich dachte, du könntest sie vielleicht brauchen, aber wie ich sehe, hast du dir ein Feuer gemacht.«

»Ja, aber eine Decke ist mir trotzdem willkommen. Danke.«

Sie gab ihm die Decke und trat einen Schritt zurück. »Ich sollte jetzt wohl gehen.«

»Nein, warte! Ich meine, du hast doch gesagt, du wärst neugierig. Möchtest du nicht wenigstens den Turm besichtigen? Beziehungsweise das, was von ihm übrig ist?« Er blickte nach oben, wo er durch ein Loch im Dach die Sterne sehen konnte.

»Ja, das würde ich sehr gern.«

Er führte sie im ganzen Turm herum und zeigte ihr das Becken, das sich auf magische Weise mit Wasser füllte, wenn man seine Hand unter dem Maul eines Bronzefisches bewegte. Er führte sie unter den östlichen Bogen, wo die Passage ein kleines Stück weiter in solidem Stein endete. Im Stein des Walles. Sie gingen umher, kletterten über Schutt, und er erklärte ihr, wie der Wall beinah wahnsinnig geworden und zusammengestützt wäre, wobei er den Turm, Dale und ihn selbst mitgerissen hätte.

»Die Hüter haben ihre Harmonien verloren«, sagte er. »Wenn sie alle harmonisch zusammen singen, sind sie stark, aber als sie die Harmonie und den Rhythmus verloren, wäre beinah alles zerstört worden.«

»Ein weiterer Beweis für die Magie der Musik«, sagte Estral. Sie lächelten einander an.

»Das Beste habe ich bis zum Schluss aufgehoben«, sagte Alton und nahm ihre Hand. Er spürte, wie stark und gelenkig sie war. Seine eigenen Hände waren durch die Arbeit mit dem Stein klobig vor Muskeln, groß und stark wie die eines Lastpferdes. Estrals Hände waren eher wie die eines Rennpferdes oder eines Jägers, muskulös, aber schlank und glatt. Er begriff, dass dies vom Lautespielen kommen musste, von den vielen Übungsstunden und Darbietungen. Er stellte sich vor, wie diese Hände auf ihm lagen und auf ihm »spielten«, und erschauerte.

Um darüber hinwegzutäuschen, zog er sie an der Hand. »Komm. Ich bin gespannt, was du dazu sagst.«

Er führte sie zu dem Säulenkreis in der Mitte der Kammer. Eine davon lag in mehrere Stücke zerbrochen auf dem Boden, und ihm fiel der Erdturm wieder ein, und das Skelett, das dort auf dem Boden lag und den Arm ausstreckte.

»Was ist das?«, fragte Estral und deutete auf den Sockel in der Mitte des Kreises. Der Turmalinbrocken, der darauflag, strahlte ein sanftes grünes Licht aus.

Alton verbannte das Bild des Skeletts aus seinen Gedanken. »Man nennt es den Tempesstein. Als ich ihn zum ersten Mal berührte, ist Merdigen aufgewacht. Ich glaube, irgendwie unterstützt er seine Fähigkeit zu existieren.«

»Ich würde ihn sehr gern kennenlernen«, sagte Estral.

»Das wirst du auch, aber im Moment ist er nicht da.«

»Nicht da? Wie kann er …?«

Alton zuckte die Achseln. »Er ist fort, um sich mit den anderen Turmmagiern zu treffen. Zumindest mit denjenigen, die östlich der Bresche wohnen.«

»Aha«, sagte Estral.

»Komm, wir wollen jetzt ein Stück zwischen den Säulen hindurch hineingehen, ja? Ich warne dich, es könnte dich etwas durcheinander bringen.«

Sie sah ihn an und hob skeptisch eine Augenbraue, aber als sie zwischen den Säulen hindurchtraten, der Turm verschwand und sie auf einer unmöglich weiten Grasfläche standen, die nur von Mond und Sternen erhellt wurde, quiekte sie vor Staunen.

»Keine Sorge«, sagte er. »Sobald du wieder zwischen den Säulen hindurchtrittst, bist du wieder im Turm.«

Der Turm war zwar verschwunden, aber die Säulen, der Tempesstein auf seinem Podest und die östlichen und westlichen Bogengänge blieben sichtbar, wie die Ruinen einer uralten Zivilisation. Widerstrebend ließ er Estrals Hand los, damit sie sich umsehen konnte. Sie ging zwischen den Säulen hindurch vor und zurück, um den Effekt auszuprobieren, und folgte dann einem Kreis, der sich um die Säulen wand. Schließlich kam sie wieder neben ihm zum Stehen.

»Unglaublich«, sagte sie.

Er freute sich über das ehrfürchtige Staunen in ihrer Stimme.

»Wo sind wir hier?«, fragte sie. »Ist es real?«

»Schwer zu sagen«, sagte Alton. Er hatte Merdigen einmal gefragt, ob dieser Ort wirklich sei, aber Merdigen hatte wie üblich nur erwidert: »Bist du wirklich, mein Junge?«

»Anscheinend existiert diese Landschaft im Gleichklang mit unseren Jahreszeiten und Tageszeiten, was immer das bedeutet. Ich war auch in Itharos’ Turm, und seine Landschaft ist arktisch, wie die großen Eisfelder im Norden. Bei ihm ist die Tageszeit, soviel ich feststellen konnte, zu der unseren entgegengesetzt.«

Estral schauderte neben ihm. »Hier ist es auch ganz schön kalt. Die Luft ist eisig, aber obwohl der Wind aus dem Nordwesten kommt, rieche ich, dass der Boden taut, als würde es bald Frühling. Es ist alles so echt.« Wie zur Bestätigung ihrer Worte bellten Kojoten in der Ferne.

Alton hatte immer noch die Decke in der Hand, und nun breitete er sie über ihrer beider Schultern und legte seinen Arm um Estral, wobei er sie an sich zog. Sie hatte nichts dagegen, und als sie ihn ansah, lag keine Bangigkeit in ihrem Blick, sondern eher etwas Abwägendes. Sie protestierte nicht in Karigans Namen, sie erwähnte Karigan überhaupt nicht. Interessant. Er freute sich.

»Die Sterne hier sind unbeschreiblich«, sagte er. »Es gibt nirgends Bäume, die sie verdecken. Sevelons Schwert steht fast in der senkrechten Position.«

Aber Estral sah nicht zu den Sternen empor. Ihr Blick ruhte auf ihm, immer noch abwägend.

»Äh … stimmt irgendetwas nicht?«, fragte er.

»Nein«, antwortete sie. »Alles ist in Ordnung. Ich dachte nur gerade, dass ich froh bin, hergekommen zu sein.«

»Und ich bin froh, dass ich wieder zu Sinnen kam und dich nicht weggelassen habe.«

»Als ob du dabei irgendetwas zu sagen gehabt hättest.« Sie verlagerte ihr Gewicht ein wenig, sodass sie sich an ihn lehnte. Altons Herz flatterte.

Er wandte sich um, sodass sie einander ansahen, und als er sie küsste, verschmolzen ihre Körper miteinander, und die Musik, die Estral Andovian war, erfüllte ihn mit der Harmonie, die allzu lange aus seinem Leben verschwunden gewesen war.

Pfad der Schatten reiter4
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