MONDTRÄUME
Starr vor Staunen kletterte Karigan vom Schlitten, und ihre Füße sanken tief in den Schnee. Eine Gestalt waberte inmitten der Flammensäule.
»Wer seid Ihr?«, flüsterte sie.
Die Gestalt gab keine Antwort, aber ihr Leuchten wuchs und breitete sich immer weiter aus, und obwohl Karigan zurückwich, holte es sie ein, bis nur noch das Licht übrig geblieben war. Alles andere, ihr Vater, der Schlitten, die Pferde, der Wald ringsum, war in den Schatten verschwunden. Sie hätte nicht einmal sagen können, ob sie sich überhaupt noch auf der Lichtung oder sogar in Sacoridien befand, obwohl der Schnee weiterhin im Licht gleißte.
Ich werde schwächer, sagte die Gestalt in der Flamme, eine Frauenstimme, fern, angestrengt. Belagert … seit so langer Zeit …
»Wer … wer seid Ihr?«
Verliere den Einfluss …
»Worauf?«, drängte Karigan. Was war das? Was geschah hier?
Auf den Hain. Die Gestalt schimmerte und schrie vor Schmerzen auf, und Karigan bemerkte eine Finsternis, die den Rand des Lichtscheins besudelte, schwarze Äste, die an dem Leuchten kratzten.
Du musst kommen. In der Stimme schwang Verzweiflung mit. Du überschreitest Schwellen.
Du überschreitest Schwellen … Diese Worte riefen eine Erinnerung wach, die tief in Karigans Unterbewusstsein vergraben gewesen war und ihr nun wie Bruchstücke eines Traums wieder einfiel: der Geist eines Grünen Reiters mit einem Köcher voller Pfeile auf dem Rücken, die königlichen Grabkammern. Wenn wir verblassen, hatte er gesagt, dann stehen wir auf einer Schwelle. Irgendwie war es darum gegangen, die Schichten der Welt zu durchqueren.
Sie versuchte, die Erinnerungsfetzen festzuhalten, aber sie lösten sich auf, bis sich Karigan nicht einmal mehr an den Geist erinnern konnte und ihr lediglich der Eindruck blieb, dass irgendetwas fehlte. Karigan rieb sich die Schläfen. Ihr Kopf fühlte sich merkwürdig an, als wäre er voller Spinnweben. »Wohin muss ich kommen?«
Die Gestalt streckte ihre quecksilberhelle Hand durch die Flamme. Eine Kugel, einem Schneeball ähnlich, schwebte über ihrer Handfläche. Karigan trat näher, um sie besser zu erkennen, und kniff aufgrund des intensiven Strahlens der schimmernden Figur die Augen zusammen. Die Kugel war wie ein schwarzer Fleck im Licht, doch als sie sich näherte, sah sie darin das Bild eines finsteren Waldes voller Moder und Dunkelheit.
Karigan zuckte zurück. »In den Schwarzschleierwald?«
Du musst den Schläfern helfen, sagte die Gestalt, deren Stimme immer drängender wurde. Wenn der Feind sie erweckt, werden sie zu einer tödlichen Waffe. Wieder schrie sie vor Schmerzen auf, und das Licht flackerte. Ich verliere meinen Einfluss!
»Schläfer? Was … ?«
Die Finsternis am Rande begann, sich wie eine Klaue um das Licht zu schließen. Trage den Muna’riel stets nah bei dir, Karinys Tochter. Er ist dein Schlüssel.
Die Gestalt und ihre Flamme flackerten wie eine ausgehende Kerze.
»Wartet!«, schrie Karigan. »Der Schlüssel wozu?«
Du wirst dich erst an unsere Begegnung erinnern, wenn du die Feder der Schneeeule erhältst.
Die Gestalt wurde dunkler und verblasste; sie wand sich wie unter schrecklichen Schmerzen.
»Bitte!«, schrie Karigan. »Ihr müsst mir mehr sagen!«
Ich … ich kann das nicht länger aufrechterhalten, ich … Die Gestalt schrie auf, und ihre Flamme erlosch.
Die Welt füllte sich mit einer mitternächtlichen Leere und Karigan taumelte zurück, während das Licht ihres Muna’riel ebenfalls schwächer wurde, als erlebte er das Gleiche wie sie. Die Kugel, die das Bild des Schwarzschleierwaldes enthielt, schwebte noch einen Augenblick in der Luft, bevor sie zerbarst, aber für diesen kurzen Moment trug sie Karigan in diesen Wald hinein. Die verrotteten Äste beugten sich über sie und griffen nach ihr, der schlammige Waldboden saugte an ihren Füßen und das wilde Schrillen irgendeines blutdürstigen Wesens zerriss die schwere, feuchte Luft. Dann verschwand die Vision und die Scherben der Kugel fielen wie Eiskristalle in den Schnee.
Der Wind seufzte und trug Karigan aus weiter, weiter Ferne ein schmerzerfülltes Flüstern zu: Argenthyne.
Dann war alles still.
Karigan stand im tiefen Schnee der Lichtung, und der Muna’riel glühte auf ihrer Handfläche. Bevor sie die Erscheinung und ihre Worte über Schläfer, Schwellen, Schlüssel, den Schwarzschleierwald und sogar die Anspielung auf ihre Mutter festhalten konnte, wurde ihr der Faden der Erinnerung entrissen, und ihr war, als sei nichts von alledem geschehen.
»Wir sind gleich zu Hause.«
Karigan fuhr beim Klang der Stimme ihres Vaters zusammen. Der Schlitten glitt dahin, das Messing und Silber des Pferdegeschirrs klimperte. Die Pferde trotteten zügig voran, weil sie wussten, dass sie sich ihrem Stall näherten.
»Was ist passiert?«, fragte Karigan und blickte sich um, konnte aber im Dunkeln nur wenig erkennen.
»Ich vermute, mein pausenloses Gerede hat dich eingeschläfert.«
Karigan versuchte, sich zu erinnern, aber es war alles verschwommen. Sie hatten auf einer Lichtung angehalten. »Wir haben über den Mondstein gesprochen.« Sie klopfte auf ihre Tasche und spürte die Rundung des Steins darin.
»Ja, und ich habe versucht, mich zu entschuldigen.«
Sie fuhren um eine Kurve, und vor ihnen schimmerten die Lichter des Herrenhauses der G’ladheons. Ihr Vater hielt die Pferde erneut an und wandte sich zu ihr.
»Ganz egal, was passiert«, sagte er, »du bist meine Tochter, und ich liebe dich. Ich versuche, meinen Frieden mit der Magie zu machen. Du sollst wissen, dass ich stolz auf dich bin, und auf die Auszeichnungen, die du bekommen hast. Ich freue mich, dass der König deinen Wert erkennt – er ist ein guter Mann, und wir haben Glück, jemanden wie ihn zum Herrscher zu haben.«
Er hielt inne, vielleicht um seine Gedanken zu sammeln, und rieb sich das Kinn. »Ich hoffe nur, du kannst mir eines Tages verzeihen, dass ich so viele Geheimnisse vor dir hatte, aber bitte versuch zu verstehen, dass ich mich nicht für die Entscheidungen entschuldigen kann, die ich in meinem Leben getroffen habe.«
Karigan spürte keinerlei Zorn mehr. Es war ja sonnenklar, dass er niemals aufgehört hatte, ihre Mutter zu lieben, und obwohl er Magier nicht besonders mochte, versuchte er nun zumindest zu akzeptieren, dass sie ein Teil ihres Lebens war. Die Geheimnisse gefielen ihr zwar immer noch nicht, aber ihr war nun bewusst, dass sie ebenfalls einige hegte.
Sie konnte sich nicht aussuchen, welche Teile ihres Vaters sie mochte und welche nicht. Seine Verbindung zu dem Bordell und die Piraterie gehörten genauso zu ihm wie sein Leben als erfolgreicher Händler, liebender Ehemann und Vater. Alle diese Eigenschaften machten ihn zu dem, der er war.
Darum ging es doch wohl in der Liebe, oder? Dass man lernte, ohne Vorbehalte das Schlechte zusammen mit dem Guten zu akzeptieren?
»Du und deine Mutter waren immer das Allerwichtigste in meinem Leben«, sagte er. »Sie habe ich verloren, aber dich will ich nicht verlieren.«
»Ich weiß«, sagte Karigan.
Sie umarmten einander, und als sie endlich wieder in den Armen ihres Vaters lag, erschienen ihr das Leben als Grüne Reiterin und all die Schlachten und Gefahren, die sie erlebt hatte, sehr weit entfernt. Wieder war sie eine Tochter, die Sicherheit und Trost in der Umarmung ihres Vaters fand.
Ein paar Tage später stand Karigan vor dem Steinhügel, der das Grab ihrer Mutter bedeckte. Ihr Vater hatte dafür gesorgt, dass Kariny im alten Stil begraben wurde, nach den Sitten der Inselbewohner, mit dem Kopf in Richtung der Morgendämmerung. Karigans Tanten hatten erzählt, dass er in seiner Trauer die Steinpyramide selbst errichtet hatte, dass er Tag für Tag Steine herangeschleppt und aufgetürmt hatte. Manche waren riesig und sie fragte sich, wie er das überhaupt geschafft hatte. Ihren Tanten zufolge hatte er keine Hilfe annehmen wollen, und als sie die Geschichte erzählten, hatte Karigan am Ausdruck ihrer Augen erkannt, wie schwer es für sie gewesen war, seinen Schmerz mit anzusehen.
Karigan erinnerte sich kaum noch daran. Sie wusste nur noch, dass ihre Mutter nicht mehr da gewesen war, dass die Leute um sie herum düstere Farben getragen und mit gedämpften Stimmen gesprochen hatten, und dass sämtliche Fenster und Spiegel verhängt worden waren, sodass das ganze Haus ständig dunkel gewesen war.
Der Grabhügel war von Eis überzogen. Am Tag nach dem Sturm hatte die Sonne so hell und warm geschienen, dass der Schnee geschmolzen war, aber in der Nacht war er wieder gefroren und hatte eine Eisschicht gebildet, die über den Steinen lag wie ein Wasserfall, für den die Zeit stillstand.
Neben dem Grabhügel erhob sich ein Monolith aus Granit, der aussah, als hätte man ihn aus den Tiefen der Erde heraufgezerrt. Der Name ihrer Mutter war darin eingemeißelt, und dazu die Inschrift: Eine Frucht der Insel, umfangen von den sternenerleuchteten Himmeln. Das Zeichen des Sichelmondes krönte die Inschrift, und die Oberfläche des Steins war mit einem schleifenähnlichen Muster geschmückt, das Karigan an Fischerknoten denken ließ. Das Muster stellte die Kontinuität dar: kein Anfang, kein Ende.
Karigan hielt den Mondstein in der Hand; sein Leuchten war in der Sonne gedämpft, aber sein inneres Glühen war trotzdem strahlend hell. Sie hatte das Haus von oben bis unten durchsucht, weil sie gehofft hatte, weitere Hinweise auf die Beziehung ihrer Mutter zu den Eletern zu entdecken, aber sie hatte nichts gefunden. Wahrscheinlich hatte jeder Mensch Geheimnisse, selbst ihre Mutter, die die ihrigen mit ins Grab genommen hatte.
Sie überlegte, ob sie den Mondstein als eine Art Opfergabe auf dem Grabhügel zurücklassen sollte, aber irgendetwas in ihrem Inneren sträubte sich gegen diesen Gedanken. Schließlich hatte ihre Mutter gewollt, dass sie ihn bekam, und sie wollte Karinys Wünschen nicht entgegenhandeln. Sie steckte ihn wieder in die Tasche.
Schließlich küsste sie ihre Fingerspitzen, berührte damit einen der eisigen Steinbrocken des Grabhügels und ging dann über den von Wald gesäumten Pfad zum Haus zurück.
Gerade als sie ankam, führte ein Stallmeister den gestriegelten und gesattelten Kondor zur Auffahrt. Der Wallach nickte freudig, als er sie sah, und war sichtlich begierig aufzubrechen.
»Er ist ein Prachtkerl«, sagte der Stallmeister, als sie näher kam. »Er wird mir fehlen.« Kondor stupste ihn spielerisch an und stieß ihn beinahe um. Karigan grinste.
Ihr Vater, prächtig in einen langen Bibermantel gekleidet, und ihre Tanten kamen aus dem Haus, um sich von ihr zu verabschieden. Karigan umarmte sie, eine nach der anderen.
»Bist du ganz sicher, dass du schon abreisen musst?«, fragte Tante Stace.
»Ich glaube, ich habe meinen Aufenthalt ohnehin schon so lange ausgedehnt, wie ich konnte«, antwortete Karigan. »Ich muss zum Dienst zurück.«
»Also dann, vergiss uns nicht«, sagte Tante Brini.
»Aber nein. Natürlich nicht.«
Tante Gretta tupfte ihre Augen mit einem Taschentuch ab. »Du musst uns jeden Tag schreiben.«
»Ähm, ich werde es versuchen.« Karigan schnitt eine Grimasse. Sie hatte nicht gerade den Ruf einer eifrigen Briefschreiberin.
»Ach, hör auf zu flennen, Gretta«, sagte Tante Tory. Sie nahm Karigans Hand. »Hör mal, Liebes, da gibt es einen netten jungen Mann aus guter Familie in der Nähe von Bellmere, von dem wir meinen…«
»Nein!« Karigan wich vor ihrer Tante zurück. »Ich will nicht verkuppelt werden!« Allzu deutlich erinnerte sie sich an das Fiasko des letzten entsprechenden Versuchs ihres Vaters.
»Wenn du jeden Mann ablehnst, den wir dir präsentieren, wirst du so enden wie wir – allein und ohne Ehemann.«
»Ich finde das gar nicht so schlecht«, bemerkte Tante Brini.
»Das wundert mich nicht«, brummte Karigans Vater. »Solange ich euch unterstütze, fehlt es euch an nichts.«
Seine Bemerkung wurde mit schwesterlichem Protest quittiert. Gretta schlug ihren Bruder mit ihrem Taschentuch.
»Siehst du, was ich ertragen muss?«, sagte er zu Karigan. »Immer verbünden sie sich gegen mich.« Damit erntete er noch mehr missbilligende Äußerungen. Er grinste und gab Karigan eine Börse.
»Was ist das?«, fragte sie, obwohl sie es aufgrund des Gewichts bereits wusste.
»Ein bisschen Geld, falls du es mal brauchst.«
»Aber …«
»Ja, ich weiß. Du stehst in Lohn und Brot und hast sogar freie Unterkunft, aber mit einem solchen Hungerlohn kannst du dir nie ab und zu mal was Nettes kaufen.«
»Aber …«
»Und man kann ja nie wissen, vielleicht finden deine Tanten irgendwann doch den richtigen jungen Mann für dich. Dann brauchst du etwas Hübsches zum Anziehen. Angesichts deines neuen Ranges könnte ich mir vorstellen, dass nun Dutzende von Freiern um deine Gunst buhlen.«
Ihre Tanten nickten dazu begeistert, und Karigan runzelte die Stirn, aber sie wusste, dass es zwecklos war, die Börse zurückgeben zu wollen. Sie konnte einen Teil des Geldes dazu benutzen, ihren Freunden Leckereien aus Meister Gruntlers Süßwarenladen zu schenken, aber den größten Teil würde sie dem Gartenhaus stiften. Ja, diese Idee gefiel ihr sehr.
»Und hier ist meine Botschaft an Hauptmann Mebstone«, sagte er und zog einen Brief unter seinem Mantel hervor.
Karigan schob ihn in ihre Botentasche und umarmte ihn ein letztes Mal.
»Pass gut auf dich auf«, sagte er. »Nicht, dass du mir wieder in Schwierigkeiten gerätst.«
»Du auch«, antwortete sie ernst. Sie war sowohl traurig als auch erleichtert, ihren Vater und ihre Tanten zu verlassen. Sie würden ihr fehlen, aber die komplizierten Erwartungen und Emotionen, die zum Familienleben gehörten, würde sie nicht vermissen.
Sie bestieg Kondor, und als sie aufbrach, hörte sie Tante Stace sagen: »Also, Stevic, was hat es nun mit diesem Gerede über ein Bordell auf sich?«
Zuerst folgte Schweigen, dann ein schnelles Wortgefecht.
Oje, dachte Karigan. Nun war ihr Vater dran.
Bevor das Haus aus ihrer Sicht verschwand, drehte sie sich um und wollte ein letztes Mal winken, aber niemand beachtete sie. Ihre Tanten umringten ihren Vater, anscheinend in eine heftige Diskussion verwickelt, und gestikulierten wild.
Karigan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Sie ritt weiter und merkte gar nicht, dass eine Schneeeule mit strahlend weißem Gefieder hoch oben auf einem Baum saß und sie beobachtete, als sie vorüberritt.