LYNX’ HANDSTREICH
Karigan wachte erst wieder auf, als der Morgen schon graute, weil sie spürte, dass jemand bei ihr im Zelt war. Sie öffnete ihre verklebten Augen und entdeckte Graelalea, die neben ihr kniete und die Decke hob, um ihr Bein zu untersuchen.
»Die Blutegel sind anscheinend satt«, sagte Graelalea. »Sie haben Ihr Bein losgelassen.«
Die Blutegel! Karigan hatte sie ganz vergessen und fand diesen Umstand ausgesprochen erfreulich. Sie drehte ihren Fuß, bewegte ihr Bein und zog eine Grimasse, als Schmerz in ihr Fleisch schnitt.
Graelalea warf ihr einen Seitenblick zu. »Wie fühlt es sich an?«
»Sehr wund.«
Die Eleterin nickte. »Das wundert mich nicht. Ich werde etwas Evaleoren-Salbe auf Ihre Wunden auftragen, das sollte den Schmerz lindern. Ich würde gern einen Umschlag machen, aber Hana hatte alle unsere Kräuter bei sich.« Alles, was Hana bei sich getragen hatte, war zusammen mit ihr verschwunden. Graelalea zog ein Näpfchen Salbe hervor und trug sie sanft auf Karigans Bein auf. Der Schmerz wurde augenblicklich weniger. »Ob die Blutegel etwas bewirkt haben, wird sich erst im Lauf der Zeit herausstellen. Aber ich fürchte, wir haben keine Zeit, Ihnen die Ruhe zu gönnen, die Sie bräuchten.«
Karigan nickte und konnte ihren Seufzer kaum unterdrücken. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als zu schlafen und ihr Bein zu schonen, aber man konnte im Schwarzschleierwald keine längere Rast einlegen, und natürlich wollte sie nicht verweichlicht erscheinen.
»Wir sind also unterwegs zum Schloss Argenthyne«, stellte Karigan fest und spürte trotz der widrigen Umstände eine gewisse Erregung bei dem Gedanken, einen Ort zu erreichen, der den größten Teil ihres Lebens nur in Märchen existiert hatte.
»Die Tiendan und ich werden unsere Reise zum Schloss fortsetzen«, sagte Graelalea. »Ihr Grant und die anderen haben darüber diskutiert, ob sie weitergehen oder zurückkehren wollen.«
Grant hatte bereits zugegeben, dass es vermutlich Selbstmord wäre, ohne die Führung der Eleter umzukehren. Dennoch erschien es nicht sehr sinnvoll, den armen, blinden Yates und sie selbst mit ihrem schmerzenden Bein und ihren trügerischen Visionen zum Schloss Argenthyne mitzuschleppen. Überdies hatten sie nun ja erfahren, was die Eleter in Wirklichkeit in Argenthyne suchten: die Schläfer. Hatten sie den Auftrag des Königs damit erfüllt, oder würde er wünschen, dass sie weitergingen?
»Wir haben Ihren Rucksack in Ihrem Lager gefunden«, sagte Graelalea. »Ich gebe ihn Ihnen gleich, aber zuerst möchte ich, dass Sie einen Schluck hiervon trinken.« Sie zog ein Fläschchen hervor, und Karigan setzte es begierig an die Lippen. »Nur ein Schluck«, mahnte Graelalea.
Widerstrebend gab Karigan ihr das Fläschchen zurück und leckte sich die Lippen, damit ihr auch wirklich kein einziger Tropfen entging. Graelalea kroch aus dem Zelt, erschien dann erneut in der Öffnung und schob den Rucksack hinein, den Karigan längst als verloren betrachtet hatte.
»Wenn Sie so weit sind«, sagte die Eleterin, »dann kommen Sie heraus. Vielleicht möchten Sie versuchen, etwas zu essen.«
Bei der Erwähnung einer Mahlzeit knurrte Karigans Magen, und ihr wurde bewusst, dass sie völlig ausgehungert war, ein großer Fortschritt, wenn sie bedachte, wie elend sie sich gestern noch gefühlt hatte. Ob der Heiltrank das bewirkt hatte? Oder die Blutegel? Sie hoffte nur, dass es nicht bloß eine vorübergehende Besserung war.
Sie wühlte in ihrem Rucksack und suchte nach sauberen Kleidern. Anscheinend hatte sich am Zustand des Inhalts nichts verändert, er war nicht einmal feucht, was ein wahres Wunder war. Vielleicht verfügten die Eleter über eine Magie des Trocknens. Sie war dankbar, ihre eigenen Vorräte wiederzuhaben, und eigene Kleider, die sie anziehen konnte. Ihre alten Hosen waren zu zerfetzt zum Flicken. Sie war überzeugt, dass nicht einmal die pedantische Ty sie würde reparieren können.
Sie kroch aus dem Zelt und richtete sich unsicher auf. Sobald sie ihr Bein belastete, schoss der Schmerz wie ein ganzer Hornissenschwarm hindurch, und sie zuckte zusammen. Mühsam fand sie ihr Gleichgewicht und sah sich im Lager um. Lhean saß am Feuer, fiederte einen Pfeil und schenkte ihr ein Lächeln, das offen und freundlich wirkte. Grant saß zusammengesunken vor dem Feuer, schob mit einem Stock die Glut darin herum und murmelte vor sich hin. Er wirkte hager, und nicht einmal seine Bartstoppeln konnten verbergen, wie hohl seine Wangen geworden waren. Er sah krank aus und schien sie nicht wahrzunehmen.
Ard, der gerade in seinem Rucksack nach irgendetwas suchte, hielt inne und durchbohrte sie mit einem harten, durchdringenden Blick. Dann milderte er seinen Gesichtsausdruck, als hätte er sich bei einem Fehltritt ertappt, aber aus irgendeinem Grund wirkte er nicht allzu froh, sie zu sehen. »Sieh mal an, es geht uns also besser.« Er lächelte, aber seine Freundlichkeit klang heuchlerisch in ihren Ohren. Andererseits war sie noch nicht wieder ganz bei sich und nahm die Dinge vielleicht etwas verschoben wahr.
»Karigan?« Das war Yates, der ebenfalls am Feuer saß und in ihre Richtung spähte.
»Hallo«, sagte sie, hinkte zu ihm hinüber und nahm seine Hand.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
»Ich werd’s überleben.«
Ard ließ seinen Schleifstein fallen und fluchte. Er bückte sich, um ihn aufzuheben, dann war er still.
Im Hintergrund stand Ealdaen starr wie ein Geist, da er wahrscheinlich Wache hatte. Er warf ihr einen Blick zu, der aber kurz und undurchdringlich war. Sie sah weder Solan noch Telagioth, aber vielleicht waren sie im Zelt der Eleter, oder sie bewachten die andere Seite des Lagers.
»Wie schön, dass du wieder auf den Beinen bist«, sagte Lynx, aber er sah nicht besonders erfreut aus.
»Was ist los?«, fragte sie.
Er hielt ihr seinen Tabaksbeutel hin und seufzte trübselig. »Meine Tabakblätter sind verdorben. Verschimmelt. Und dabei war ich so sparsam, damit sie länger reichen.«
Karigan war froh, dass sie nicht der Grund für seinen Kummer war.
»Komm, setz dich zu uns«, sagte er und half ihr, sich am Feuer niederzulassen. »Möchtest du etwas essen?«
»Ja.«
Er holte ihr einen Löffel und eine Schüssel Eintopf aus einem Kessel, der über dem Feuer hing. Normalerweise war das Zeug nicht allzu appetitlich, aber heute Morgen – oder heute Nachmittag? – schmeckte es wie ein Festmahl.
»Dir muss es wirklich besser gehen, wenn du solchen Appetit hast«, bemerkte Lynx.
Sie nickte, und man gab ihr sogar eine zweite Portion. Sie wusste, dass sie langsam essen musste, und nippte in regelmäßigen Abständen an dem Tee, den Lynx ihr gegeben hatte. Er hatte den stechenden Geschmack des Schwarzschleierwaldes, denn inzwischen mussten sie als Trinkwasser den Regen auffangen, der durch die Blätter des Waldes fiel.
Ihre Kameraden schwiegen weiterhin. Yates trommelte mit seinen Zehen im Rhythmus einer unhörbaren Musik. Niemand fragte sie nach den Abenteuern, die sie erlebt hatte, während sie von der Gruppe getrennt gewesen war. Yates musste ihnen schon alles erzählt haben. Trotzdem war die Spannung deutlich spürbar. Grant hatte sich absolut nicht bewegt und schien völlig auf das Lagerfeuer fixiert.
Graelalea kam aus ihrem Zelt und stellte sich vor sie hin, die Hände in die Hüften gestemmt. Ealdaen schob sich näher heran und Solan und Telagioth tauchten aus dem Wald auf.
»Der Tag wird schon alt«, verkündete sie. »Es ist Zeit weiterzugehen. Die Frage ist, werden Sie uns begleiten?« Diese Frage richtete sie an Grant.
Endlich bewegte er sich und sah zu ihr auf, die Augen von dunklen Ringen umschattet. Obwohl es nicht besonders warm war, rann ihm der Schweiß übers Gesicht.
»Fragt ihn.« Er nickte in Lynx’ Richtung. »Er scheint zu glauben, dass er das Kommando hat.«
Nanu!, dachte Karigan. Graelalea hatte eine Diskussion erwähnt, aber keinen Machtwechsel. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der sanfte, wortkarge Lynx beschlossen hatte, den Oberbefehl zu übernehmen. Sie sah zu Yates hinüber, auf dessen Gesicht sich ein nervöses Lächeln zeigte. Sie würde ihn später fragen, was passiert war.
»Ich habe das Kommando über das sacoridische Kontingent dieser Expedition übernommen«, bestätigte Lynx. »Mein Adjutant ist Karigan G’ladheon.«
Karigan ließ fast ihren Teebecher fallen. Adjutant, an zweiter Stelle in der Rangordnung? Eine weitere Überraschung, aber nicht ganz unlogisch. Wenn Grant in Ungnade gefallen war, konnte er zweifellos nicht den zweiten Rang bekleiden, und Ard gehörte weder zum Militär, noch stand er im Dienst des Königs. Also blieb nur sie übrig.
»Wie lautet also Ihr Beschluss, Reiter Lynx?«, fragte Graelalea.
»Wir werden mit Euch bis zum Schloss Argenthyne vordringen, wie es dem Wunsch unseres Königs entspräche.«
Graelalea nickte, als wäre nichts weiter dabei.
Karigan seufzte erleichtert auf, weil zumindest eine Entscheidung getroffen worden war.
»Selbstmord«, brummte Grant. »Ihr werdet nichts als Ruinen und Tod finden. Ihr solltet diese Schläfer vergessen.«
»Das ist nicht möglich«, sagte Ealdaen. »Das kann ich nicht, und ich will es auch nicht. Ich war dabei, als wir sie zurückließen.«
Seine Worte blieben in der Luft hängen, bis alle begriffen hatten, was er gesagt hatte und was es bedeutete.
»Ihr wart also dabei, als …«, begann Karigan.
»Jawohl«, antwortete er. Seine silbrigen Augen hatten die stumpfe Farbe von kaltem Zinn angenommen. »Ja, ich war dabei, als Mornhavon uns angriff. Ich führte den Rückzug an. Ich überließ die Schläfer ihrem Schicksal, und … und die Herrin ebenfalls.« Er wandte sich rasch ab.
Damit hatte er Laurelyn gemeint. Die Königin von Argenthyne.
»Wir müssen das Lager abbrechen und das Licht nutzen, das uns noch bleibt«, mahnte Graelalea.
Karigan wollte den anderen helfen, aber Lynx befahl ihr, sich auszuruhen, solange sie konnte. Da Yates kaum etwas tun konnte, blieb er neben ihr sitzen und erzählte ihr leise von der sogenannten Diskussion über ihre Aufgabe, die sie verpasst hatte.
»Der Mann ist nicht er selbst«, sagte Yates über Grant. »Er dreht allmählich durch. Er wollte zurück zum Wall marschieren, ohne den Weg zu kennen. Außerdem redet er andauernd von Nythlingen.«
»Nythlinge?«
»Wir haben keine Ahnung, was das ist«, sagte Yates achselzuckend. »Lynx sagt auch, dass Grant nur noch einen Arm benutzt, als würde der andere ihm wehtun.«
Karigan sah verstohlen zu, wie Grant sich ungeschickt an einem der Zelte zu schaffen machte, und es stimmte: Er benutzte seinen rechten Arm kaum.
»Jedenfalls«, fuhr Yates fort, »erklärte Lynx, dass unsere Aufgabe nicht erfüllt sei, bevor wir nicht bis zum Schloss Argenthyne und dem Hain der Schläfer vorgedrungen sind. Wie er gerade gesagt hat, wünscht der König, dass wir so viel Information sammeln wie irgend möglich. Grant meinte dazu, der König solle sich in die fünf Höllen scheren.«
Karigan hob eine Augenbraue. Ein solches Benehmen war für jemanden, der im Dienst des Königs stand und den Befehl über eine bestimmte Mission hatte, völlig unvertretbar.
»Daraufhin hat Lynx gesagt, dass er das Kommando übernimmt«, sagte Yates. Und dann fügte er stolz hinzu: »Ich habe ihn unterstützt. Ich möchte genauso gern wieder nach Hause gehen wie alle anderen, aber ich kenne meine Pflicht. Außerdem war ich nicht bereit, weiterhin Grant zu folgen, so wie er jetzt ist.«
»Und was ist mit Ard?«
»Er wollte lieber umkehren«, antwortete Yates. »Er versuchte, uns davon zu überzeugen, aber er wollte nicht allein mit Grant gehen, ohne uns andere.«
»Anscheinend hatte ich bei dieser Abstimmung nichts zu sagen«, bemerkte Karigan.
»Ich glaube, wir wissen alle, wofür du gestimmt hättest. Aber nachdem Lynx nun das Kommando hat, lautet sein Befehl ohnehin weiterzugehen.«
Sie wussten also, wofür sie sich entschieden hätte? Ihr Pflichtbewusstsein war vorhersehbar geworden, aber vielleicht wären die anderen überrascht gewesen, wie gern sie umgekehrt wäre. Selbst wenn Grant allmählich durchdrehte, wie Yates gesagt hatte – er hatte gute Gründe für seinen Wunsch, nach Hause zurückzukehren.
Dennoch hatte Lynx recht damit, weitergehen zu wollen, denn sie hatten ihre Aufgabe noch nicht erfüllt. Sie schüttelte den Kopf. Der Wahnsinnige unter ihnen wollte das tun, was der gesunde Menschenverstand verlangte und umkehren, und der geistig gesunde Mann wollte den Weg des Wahnsinns einschlagen.
So war es eben im Schwarzschleierwald: Alles kehrte sich um.