DIE GOLDJÄGER
Karigan konnte nicht schlafen. Sie warf sich unter ihren Decken herum und hörte dem Wind zu, der an ihrem Fenster rüttelte. Sie war einige Male aufgestanden, um das Feuer zu schüren, aber dann floh sie vor der Kälte zurück unter die Decken, obwohl sie lange Wollschals über ihrem Nachthemd und dicke Strümpfe trug.
Es war aber eigentlich gar nicht der Sturm, der sie wach hielt, sondern die Gedanken an ihren Vater und darüber, dass der Abend ein so schlimmes Ende genommen hatte, noch bevor er richtig begonnen hatte. Sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und sich von Elaine das Abendessen heraufbringen lassen. Ihre Tanten kamen nicht einmal vorbei, um ihr gute Nacht zu wünschen.
Sie sind böse auf mich, dachte sie, dabei war es ja nicht ihre Schuld, dass ihr Vater auf diesem Piratenschiff gedient hatte. Aber obwohl sie ihr Urteil völlig gerecht fand, wurde sie von einem schlechten Gewissen geplagt, als wäre sie die Schuldige, nur weil sie die Wahrheit über diese leidige Angelegenheit hatte wissen wollen.
In einem Punkt hatten ihre Tanten recht, gab sie nach einigem Überlegen zu: Sie neigte dazu, den Mund aufzumachen, ohne vorher nachzudenken. Sie hätte den ganze Wirrwarr auf viel behutsamere Weise ansprechen können, und dann wären nicht so viele Gefühle verletzt worden. Aber ihr Vater hatte sie im Hinblick auf ihr eigenes Leben allzu sehr herausgefordert, und sie hatte Gleiches mit Gleichem vergolten.
Das Problem war nur, dass sie ihren Vater liebte – sie liebte ihn sehr und hatte ihn immer bewundert, weil er ein so draufgängerischer, starker und erfolgreicher Mann war. Ein Mann, der ihre Mutter so sehr geliebt hatte, dass er nie wieder heiratete. Als Kind hatte sie stets in seine Fußstapfen treten wollen. Bis die Berufung zur Reiterin alles verändert hatte. Dennoch war er in ihren Augen immer das absolute Idealbild eines Vaters und Kaufmanns geblieben. Bis sie von dem Piratenschiff gehört hatte. Und von dem Bordell.
Von Elaine erfuhr sie, dass er zum Abendessen ebenfalls nicht erschienen war, sondern allein in seinem Büro gegessen hatte. Karigan seufzte. Sie waren einander ähnlicher, als gut für sie war.
Schließlich ertrug sie das unruhige Hin- und Herwälzen im Bett nicht länger, wappnete sich innerlich gegen die Kälte, warf ihre Decken ab und zog sich neben dem Feuer an.
Durch Schneewehen, die ihr bis zu den Oberschenkeln reichten, stapfte Karigan vom Haus zu den Stallungen hinüber. Ihre Laterne glühte schwach in der Dunkelheit, und große Schneeflocken schlugen dagegen wie Motten. Der Wind riss ihr den Atem von den Lippen.
Als sie den Stall erreichte und eintrat, war dort alles still, und ihr rastloser Geist beruhigte sich ein wenig. Das Glühen ihrer Laterne wuchs und erzeugte ein bisschen goldene Wärme, und sie atmete tief aus, obwohl ihr gar nicht bewusst gewesen war, dass sie den Atem überhaupt angehalten hatte.
Die Pferde ihres Vaters füllten fast jede Stallbox, geschmeidige Rosse, die er sowohl geschäftlich als auch zum Vergnügen ritt. Sein Liebling war ein feingliedriger weißer Hengst namens Südstern; außerdem gab es zueinander passende Paare hübscher Kutschpferde sowie einige Arbeitspferde, die während der Handelssaison die voll beladenen Warenkarren zogen. Unter ihnen stand ein Pferd, das nicht so recht zu den anderen Tieren passte: ein etwas staksiges, kastanienbraunes Botenpferd. Alle trugen Decken, hatten frisches Stroh auf dem Boden und schliefen friedlich, einige schnarchten, andere scharrten mit den Hufen, doch alle merkten offenbar gar nichts davon, dass draußen ein Sturm wütete.
Und warum sollten sie den Sturm auch bemerken, da doch das Stallgebäude genauso solide gebaut worden war wie das Haupthaus? Es drang sogar kaum Zugluft herein.
Wenn sie aufgewühlt war, suchte Karigan gern ihr Pferd Kondor auf. Irgendwie beruhigte sie seine Gegenwart, und alle ihre Sorgen schienen dann plötzlich weniger wichtig. Sie ging den Mittelgang hinunter, wobei sie bei jedem Schritt einen Schneeklumpen hinterließ, bis sie seine Stallbox erreichte.
Der Wallach spürte, dass sie sich näherte, reckte seinen Hals über die Stalltür und betrachtete sie mit schläfrigen Augen. Sein Begrüßungswiehern klang etwas gedämpft.
»Habe ich dich geweckt?«, fragte sie und streichelte seine Nüstern.
Er schnupperte an ihrer Hand, und sein Atem duftete nach süßem Getreide.
Karigan gluckste, hängte die Laterne auf einen Haken neben seiner Box und zog ein frischgebackenes Haferküchlein aus der Tasche. Sie hatte einen ganzen Stapel auf der Anrichte gefunden, wo die Köchin sie über Nacht zum Kühlen hingelegt hatte. Kondor wurde entschieden munterer.
Sie lachte und gab ihm die Hälfte. Das Gebäck verschwand fast augenblicklich, und er stupste sie an, um weitere Leckerbissen zu bekommen.
»Gierige Bestie«, sagte sie und überließ ihm den Rest.
Sie kontrollierte seinen Wassereimer – er war voll und nicht einmal eingefroren. Seine Decke lag glatt und gut befestigt auf seinem Rücken. Als sie eintrafen, war er sehr erschöpft gewesen, nachdem er sich unterwegs durch die vielen Schneewehen gekämpft hatte. Eiszapfen hingen von seiner Schnauze, sodass er wie ein Greis aussah. Der Stallmeister hatte ihr geholfen, ihn abzureiben, seine Beine in gefütterte Stofffetzen gewickelt und ihm einen warmen Kleiebrei gekocht. Als Karigan ihn allein gelassen hatte, war sie sicher gewesen, dass er so glücklich und zufrieden war, wie ein Pferd es nur sein konnte.
Sie gähnte, streichelte seinen Hals und setzte sich auf einen Heuballen in der Nähe. Sie fand eine abgelegte Pferdedecke, hüllte sich darin ein und war, bevor sie es selbst merkte, unter den beruhigenden Geräuschen der schlafenden Pferde ringsum ebenfalls eingeschlafen.
»Karigan?«
Sie hatte geträumt. Irgendetwas von sonnigen grün-goldenen Wiesen, auf denen wilde Pferde wanderten …
»Karigan?«
Ihre Lider öffneten sich, und sie hob mit einer Grimasse den Kopf. Sie hatte einen steifen Hals, weil sie in einer verkrampften Lage geschlafen hatte, und nun gleißte Laternenlicht in ihre Augen. Ihre eigene Laterne, die neben Kondors Stallbox hing, war ausgegangen.
»Vater?«, sagte sie. »Was machst du denn hier?«
»Genau das wollte ich dich auch gerade fragen.«
»Ich konnte nicht schlafen.«
»Ich auch nicht, also dachte ich, ich sehe mal nach dem Rechten. Als ich nach draußen ging, sah ich deine Fußspuren im Schnee und folgte ihnen bis hierher.« Er hängte seine Laterne an einen Haken und setzte sich auf einen Heuballen neben ihr. Das Licht erreichte Kondors Augen, der sie beide beobachtete.
»Es tut mir leid …«, begannen Vater und Tochter gleichzeitig.
Als Karigan den Mund öffnete, um erneut zu sprechen, unterbrach ihr Vater sie mit einer Geste. »Ich gebe zu, dass ich dir vor langer Zeit von der Goldjäger hätte erzählen sollen«, sagte er. »Ich wollte, dass niemals irgendwelche üblen Gefühle zwischen uns entstehen, aber jetzt ist es doch geschehen, und zwar aufgrund meines Schweigens. Würdest du mir zuhören, wenn ich dir jetzt mehr darüber erzähle?«
Karigan nickte und schwor sich, diesmal still zu sein und ihn nicht mit Anschuldigungen zu unterbrechen.
»Gut, gut. Vielleicht wirst du danach verstehen, warum ich beschloss, auf der Goldjäger zu bleiben, selbst nachdem sie ein Piratenschiff wurde. Ich warne dich allerdings, dass es immer ein paar Einzelheiten geben wird, über die ich niemals sprechen werde. Selbst deine Mutter wusste nicht alles. Ich nehme an, dass du ebenfalls Geheimnisse hegst, die du mir niemals verraten wirst.«
Karigan runzelte die Stirn, aber er hatte recht, und sie biss sich auf die Zunge.
»Bist du bereit?«, fragte er.
Sie nickte nachdrücklich, sie war mehr als bereit.
Er neigte höflich den Kopf. »Also gut.« Zum Auftakt holte er tief Luft.
»Der Kapitän der Goldjäger«, sagte er mit einer Stimme, die den Tonfall und den Rhythmus eines Geschichtenerzählers angenommen hatte, »war kein böser Mensch, aber er war ausschließlich an Profit interessiert. Und darum fuhr er fort, Schiffe zu kapern, nachdem das Embargo der Unteren Reiche aufgehoben worden war. Aber er war nicht nur ein hervorragender Geschäftsmann, sondern auch ein ebenso guter Marinestratege, und die Goldjäger war in jenen Tagen ein schnelles, schnittiges Prachtschiff. Sie konnte beim kleinsten Windhauch über das Wasser gleiten und jedes andere Schiff in Sichtweite überholen, insbesondere die schwer beladenen Frachtschiffe.«
Er bewegte die Hände, während er sprach, um ihr die Größe und die Proportionen des Schiffes zu veranschaulichen. Karigan war überzeugt davon, dass vor seinem geistigen Auge die Goldjäger aufgetaucht war, dass er die Gischt im Gesicht spürte und die Delfine sah, die über die Bugwellen sprangen.
»Wir übernahmen Handelsschiffe, zum Bersten voll mit aller möglichen Fracht«, fuhr er fort. »Fässer mit rhovanischem Wein, dicke Bündel Tabakblätter, Erze, Gewürze, Keramik … alles, was du dir nur vorstellen kannst. Sogar ein Schiff voller Ziegen.«
Fast hätte ihn Karigan gefragt, wie viele Matrosen sterben mussten, wenn die Piraten ein Schiff und seine Fracht »übernahmen«, doch es gelang ihr, zu schweigen und einfach nur zuzuhören. Sie sah zu Kondor hinüber, und seine Augen, die nicht zwinkerten, gaben ihr Halt.
»Die Goldjäger war mit einem eisernen Rammbock ausgestattet«, fuhr ihr Vater fort, »und die Mannschaft bestand aus gut bewaffneten, erfahrenen Kämpfern. Nur wenige Schiffe konnten schneller segeln als wir, und weil wir den Ruf hatten, grimmige Schlachten geschlagen zu haben, konnte Kapitän Ifior die meisten Kauffahrer davon überzeugen, sich kampflos zu ergeben. Besiegte Mannschaften behandelte er fair, insbesondere diejenigen, die sich ergeben hatten. Sobald wir einen Hafen anliefen, ließ er sie frei und sie konnten gehen, wohin sie wollten. Manche beschlossen, auf der Goldjäger zu bleiben.
Ich war lediglich der Schiffsjunge, und ich behaupte nicht, dass das Leben an Bord einfach oder angenehm war. Die Arbeit war hart und der Kapitän streng. Er hatte keine Geduld mit Faulpelzen und war schnell bereit, jeden Matrosen auspeitschen zu lassen, der sich seiner Meinung nach zu langsam bewegte.« Stevic rieb sich in schmerzhafter Erinnerung die Schultern und zog eine Grimasse. »Weil ich der Kleinste in der Mannschaft war, stießen mich auch die anderen herum, einfach nur, weil ich da war.«
Karigan fiel es schwer, sich ihren Vater als Jungen vorzustellen, denn ihr war er immer so groß und imposant erschienen, absolut nicht wie jemand, den man herumschubste. Diese Jugenderlebnisse mussten ihn zu dem Mann gemacht haben, den sie kannte. Mit Sicherheit hatten sie ihn weder gebrochen noch in ein Ungeheuer verwandelt, das Gleiches mit Gleichem vergalt. Im Grunde genommen war das erstaunlich, und sie, die unter liebevoller, behutsamer Fürsorge aufgewachsen war, konnte ihn dafür nur bewundern.
»Doch so schwer das Leben auf der Goldjäger auch manchmal sein mochte«, fuhr er fort, »es war kein bisschen schlimmer als die Erlebnisse, die ich gehabt hatte, wenn ich mit meinem Vater zum Fischen hinausfuhr. In vielerlei Hinsicht war es sogar leichter. Und auch einträglicher, und darum blieb ich.« Er hielt inne und stieß einen Seufzer aus, den sie kaum wahrnahm und der klang, als würde der Wind in den Segeln ein wenig nachlassen, eine Art Erleichterung. Sie sah ihn an und merkte, dass er weit, weit fort war, weit draußen auf dem offenen Meer, wo er vielleicht Seevögel beobachtete, die sich auf die Fische in den Wellen hinabstürzten, und in die Sonne blickte, die hinter dem Horizont der Welt versank, statt fest verankert mitten in einem Schneesturm in einem Stall zu sitzen. Sie fragte sich, was für Erinnerungen er nun noch einmal durchlebte, nachdem sie ihn dazu gezwungen hatte, und was für Erlebnisse er ihr absichtlich verschwieg.
»Der wichtigste Grund dafür, dass ich blieb«, sagte er, »war, dass ich so viel lernte – nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch die Dinge, die ich beobachtete, wenn ich den Kapitän auf den Markt begleitete. Erinnerst du dich an die Ziegen, die ich erwähnt habe? Hier in Sacoridien waren sie nicht viel wert; aber in anderen Häfen des Kontinents oder auf der Insel Mallollan sah es ganz anders aus.«
Karigan wusste, dass Mallollan zum Wolkeninsel-Archipel gehörte, wo ihr Vater noch heute Verbindungen hatte.
»Dort wurde ursprünglich überhaupt kein Vieh gezüchtet«, fuhr er fort. »Es gab zwar ein paar ausgemergelte Kühe und Schweine, aber die waren auf dem Handelsweg dorthin transportiert worden, auf der langen, gefährlichen Überfahrt von Pikelea, denn dort war das Zollhaus und das Zentrum des internationalen und legalen Handels. Das bedeutete, dass der Ankauf von Gütern teurer war und höher versteuert wurde, und von daher waren die Gewinne bescheidener.
Doch Kapitän Ifior hielt sich von der Hauptinsel fern, umging dadurch die hohen Steuern und konnte auch nicht wegen Seeräuberei verhaftet werden. Stattdessen segelte er Mallollan direkt an. Die Leute dort hießen ihn willkommen, denn sie hatten kaum Zugang zu Handelsgütern und waren begierig, welche zu bekommen.
Ich beobachtete ihn beim Feilschen mit den Häuptlingen diverser Dörfer auf der Insel. Der Kapitän hatte recht behalten, sie wollten die Ziegen haben. Nicht nur wegen der Milch und des Fleisches, sondern weil der Besitz dieser Tiere ihren Status auf dem ganze Archipel erhöhte. Im Gegenzug erhielt der Kapitän Waren, die auf den Inseln reichlich vorhanden waren, aber woanders Mangelware: Zuckerrohr, Perlen, Muskat, Zimt…«
Diese Produkte waren in Sacoridien und anderorts immer noch sehr gefragt und brachten hohe Gewinne ein, wodurch einige Handelsklane große Vermögen anhäuften. Karigans Vater handelte noch immer mit den Inseln und hatte sogar das Verschiffen von Eis aus den Seen und Flüssen Sacoridiens in die Tropen eingeführt, aber es waren die Textilien, die ihm den größten Reichtum eingebracht hatten. Sie wand sich unter der Pferdedecke, als ihr auffiel, dass sie bisher eigentlich nie gewusst hatte, wieso ausgerechnet Textilien und nicht all die anderen Güter zum Kern des Handelsunternehmens ihres Vaters geworden waren. Vermutlich gab es noch vieles, das sie einfach als gegeben hingenommen hatte.
»Weißt du«, sagte ihr Vater, »das große Geschick des Kapitäns bestand darin, dass er die Märkte genau kannte, und das wollte ich von ihm lernen. Ich arbeitete hart, ich wurde der beste Schiffsjunge, den er jemals gehabt hatte, und bald vertraute er mir die Verwaltung seiner Geschäftsbücher an. Er lehrte mich sogar, zu sparen und einen Teil meines Anteils zu investieren. Aber am Allerbesten war, dass er mich weiterhin mit auf den Markt nahm, wo ich beobachtete und lernte.«
Darauf seufzte er und senkte den Blick. »Das Ende kam, als die Goldjäger so in Verruf geraten war, dass die Kauffahrer anfingen, Schutztruppen anzuheuern, wenn sie die Routen befuhren, auf denen Kapitän Ifior auf der Lauer lag. Unsere ehemaligen Opfer wurden durch ihre Schutztruppen kühner und aggressiver, und unsere Kämpfe wurden härter. Auf der Fahrt, die unsere letzte werden sollte, wurde Kapitän Ifior in einer Schlacht mit einem tallitreanischen Schiff getötet, und er war nicht der einzige, den wir verloren. Der Kampf war entsetzlich, und die Goldjäger wurde schwer beschädigt.« Er schüttelte den Kopf. »Wir schafften es gerade noch, einen Hafen anzulaufen, völlig lädiert und fast ohne Mastbäume. Wenn Sevano nicht gewesen wäre, hätten wir es überhaupt nicht mehr nach Hause geschafft.«
»Sevano?«
Ihr Vater lächelte. »Er war der Maat und übernahm das Kommando, als der Kapitän starb.«
»Ich wusste, dass er mit dir zusammen zur See gefahren ist, aber nicht auf … nicht auf einem…«
»Du hast ihn dir nicht gerade als Pirat vorgestellt, wie? Genauso wenig wie mich, nehme ich an.«
Sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Der Frachtmeister war immer eine Art Familienmitglied gewesen, und er hatte ihr zuerst beigebracht, wie man sich gegen jeden verteidigt, der einem übel will. Er war sehr geübt im Waffengebrauch, aber sie hatte das bei einem Frachtmeister nicht für ungewöhnlich gehalten. Er musste sich diese Fertigkeiten als Seemann angeeignet haben.
»Kapitän Ifior war wie ein Vater für mich, und Sevano wie ein großer Bruder. Wenn Streit über die Aufteilung der Fracht ausbrach, gelang es ihm immer, mir einen Teil davon zu sichern, obwohl ich damals so ein schwächlicher Junge war. Niemand wollte die Ballen schöner Stoffe haben, die wir einem durnesischen Kauffahrer abgenommen hatten, da es andere Güter von höherem Wert gab, also wurden sie mein, und ich brachte sie auf den Markt. Anscheinend hatte ich ein gutes Auge für Qualität, und dank meines Trainings erzielte ich einen sehr guten Preis.«
Karigans Vater verfiel in Schweigen, und sie konnte nur noch staunen. Das also war die Quelle des Reichtums und des Ansehens des Klans G’ladheon? Gestohlene Stoffballen? Das war der erste Schritt ihres Vaters auf seinem Weg zum wohlhabendsten Textilkaufmann Sacoridiens gewesen?
Und wenn er diesen Schritt nicht getan hätte, wo wäre sie dann jetzt? Wahrscheinlich noch immer auf der Schwarzen Insel, ein Fischweib, ständig schwanger, in einer bescheidenen Hütte, die schon voller quäkender Kinder war.
Hätte sie die Berufung zur Reiterin überhaupt wahrgenommen?
Sie wusste es nicht.
Es war merkwürdig, wie eine einzige Entscheidung oder eine zufällige Begegnung nicht nur den Lauf eines einzelnen Lebens, sondern auch das Leben anderer verändern konnte. Wäre ihr Vater nicht von der Schwarzen Insel geflohen, und hätte er nicht alles gelernt, was ihm Kapitän Ifior beigebracht hatte, dann wäre höchstwahrscheinlich solch ein Fischweib aus ihr geworden. Stattdessen war sie aufgrund der Entscheidungen ihres Vaters privilegiert und in Wohlstand aufgewachsen und hatte eine gute Ausbildung genossen. Wenn sie all dies bedachte, fiel es ihr schwer, weiterhin wütend auf ihn zu sein, weil er Schiffsjunge auf der Goldjäger gewesen war. Sie konnte Piraterie zwar immer noch nicht gutheißen, aber sie konnte ihm nicht mehr die Schuld geben.
Kondor schüttelte den Kopf, sodass seine Mähne und seine Ohren flogen. Er warf ihr einen schläfrigen Blick zu, dann wandte er sich wieder dem Inneren seiner Stallbox zu.
»Es ist eine Schande, ein Pirat gewesen zu sein«, sagte ihr Vater ruhig. »Es ist unrecht, und jetzt, in meinen reifen Jahren, erkenne ich das, besonders, da ich jetzt selbst den Umhang eines Kaufmannes trage. Ironischerweise verachte ich heute diejenigen, die meine Karawanen oder Schiffe angreifen, in die ich investiert habe. Sie sind Kriminelle, genau wie auch ich damals kriminell war.
Ein Teil von mir fragt sich, ob ich auch so erfolgreich gewesen wäre, wenn ich damals nicht auf der Goldjäger so viel gelernt hätte. Vielleicht schon, denke ich, denn ich bin beharrlich und entschlossen, Erfolg zu haben. Aber es hätte länger gedauert, und der Erfolg wäre vielleicht geringer gewesen.« Er lächelte. »Ich war hoch motiviert, weil ich wusste, dass ein wunderschönes Mädchen auf der Insel auf mich wartete. Ich wollte sie nicht zur Frau nehmen, bevor ich mich als Mann bewährt und ihr bewiesen hatte, dass ich ihr ein Leben im Überfluss bieten konnte. Das hatte sie nämlich verdient. Ich hatte geschworen, dass sie nicht die Frau eines armen Fischers werden würde. Die Goldjäger ermöglichte es mir, sie wesentlich früher nach Corsa zu holen und zu heiraten, als ich es sonst gekonnt hätte. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn ich einen anderen Weg eingeschlagen hätte, aber deine Mutter und ich, wir hatten Träume …
Auf jeden Fall«, fuhr er brüsk fort, »ist die Piraterie keine ehrenhafte Tätigkeit. Und … und ich habe mich geschämt, wenn ich daran dachte, was du davon halten würdest. Die Enttäuschung, die ich in deinen Augen gesehen habe, als du mich vorhin damit konfrontiert hast, war das Schlimmste, was ich seit langer Zeit ertragen musste.«
»Wenn du mir doch nur früher davon erzählt hättest.«
»Ich dachte, du wärst zu jung, um die Umstände zu verstehen.« Er hielt inne. »Jetzt weiß ich, dass ich mich geirrt habe, aber ich fürchte, dass ich dich trotzdem unwillkürlich immer noch als kleines Mädchen sehe, in einem Festtagskleidchen mit bunten Bändern, und mit aufgeschlagenen Ellbogen.«
Das hatte Karigan bereits vermutet.
»Du runzelst die Stirn«, sagte er. »Pass bloß auf, dass dir das nicht bleibt.«
Sie zog eine noch schlimmere Grimasse.
»Also, falls damit alles erledigt ist, sollten wir uns vielleicht wieder in unsere Betten legen. Ich habe nicht all die Jahre so schwer gearbeitet, damit meinen Tochter in einem Stall schläft.« Er stand auf und beobachtete sie.
Der Wind hatte sich beruhigt. Karigan fragte sich, ob der Sturm nur kurz innehielt, oder ob er sich tatsächlich gelegt hatte. »Da gibt es noch etwas«, sagte sie.
Ihr Vater stand nur abwartend da.
Bevor sie den Mut verlieren konnte, sagte sie: »Als ich letztes Jahr durch den Flusshafen kam, habe ich eine Freundin von dir kennengelernt … Silva Early. Ich bin sogar in ihrem … Etablissement, dem Goldenen Ruder abgestiegen.«
Das Blut wich aus Stevic G’ladheons Gesicht.