KÖNIG UND KÖNIGIN

e9783641094324_i0106.jpgEstora saß in vollem Ornat im Thronsaal, Königin Isens Krone auf dem Kopf, die immer noch nicht vom königlichen Juwelier angepasst worden war, und eingehüllt in einen Umhang in Ginstergelb und Kobaltblau, der mit Perlen von den Küsten Coutres übersät war. Die Farben symbolisierten das Bündnis zwischen Hillander und Coutre. Dieser Umhang war gleich in Auftrag gegeben worden, als sie sich verlobt hatten, und war schon vor dem Anschlag auf Zacharias fertig gewesen.

Auf ihrem Schoß ruhte das Zepter, das ebenfalls einst von Königin Isen geführt worden war und zu der Krone gehörte. Man munkelte, dass der Halbmond aus Kristall, der seine Spitze zierte, mehr als einmal hatte ersetzt werden müssen, weil die Königin in einem Anfall von Ungeduld das Zepter benutzt hatte, um diejenigen, die ihren Unwillen erregt hatten, damit zu schlagen.

Estora war königlich herausgeputzt, strotzte vor Juwelen und fühlte sich äußerst unbehaglich auf dem Thron der Königin, der nun auf dem Podium neben dem Thron des Königs stand. Der Königssitz war noch immer leer und die Leute, die vor ihr standen – fünf Lordstatthalter und ihre Adjutanten  – verlangten zu wissen, was eigentlich los war und was aus dem König geworden war. Vorwiegend überließ sie es Colin, ihre Fragen zu beantworten, die an Unverschämtheit grenzten.

»Woher wissen wir, dass diese Ehe keine hohle Scharade ist?«, fragte der junge Lord Penburn kämpferisch zum wiederholten Mal. Er hatte zu denjenigen gehört, die um ihre Hand angehalten hatten, und sie hatte erst kürzlich erfahren, wie wütend er über die Zurückweisung war.

»Wie ich schon sagte, Eure Lordschaft«, antwortete Colin, und Estora spürte, dass selbst der abgeklärte Colin darum kämpfte, höflich zu bleiben, »die Hochzeitszeremonie und das Vollzugsritual wurden nach Brauch und Sitte und vor Zeugen durchgeführt. Diese Zeugen werden Euch zu gegebener Zeit zur Verfügung stehen.«

»Ich würde insbesondere gern mit einem ganz bestimmten Zeugen sprechen«, sagte Lord Adolind, »aber er ist noch immer nicht erschienen. Wie schwer war eigentlich dieser Reitunfall?«

»Ja«, fiel Lord D’Ivary ein. »Das Ganze riecht verdächtig nach einer Hochzeit auf dem Sterbebett. Was verschweigen Sie uns?«

Colins Gesicht rötete sich. »Ihr wagt es, die Königin mit solchen Spekulationen zu beleidigen?«

»Ist sie denn wirklich die Königin?«, fragte Penburn sehr leise.

Estora erhob sich. »Genug.«

Die fünf Männer und ihre Adjutanten verstummten augenblicklich und reckten die Hälse, um sie anzustarren.

»Colin hat Euch die Situation klar dargelegt«, sagte sie. »Der König berät dringende Staatsgeschäfte mit seinen militärischen Beratern.« Das stimmte sogar zum Teil. Während der letzten beiden Tage hatten die meisten seiner Armeekommandanten ihm aktuelle Berichte gesandt. »Er wird vor Euch erscheinen, sobald er dazu bereit ist.« Sie hoffte, dass dies bald sein würde. Es ging ihm täglich besser. Dennoch hatten sie das Gespräch nicht fortsetzen können, das sie begonnen hatten, nachdem Richmont von Beryl abgeführt worden war. Entweder schlief Zacharias, oder er war damit beschäftigt, sich über die letzten Entwicklungen im Reich zu informieren, und er war ständig von anderen Leuten umgeben. Sie schlief allein in ihrem Gemach.

»Gewiss, aber ich möchte den König sehen und all dies aus seinem eigenen Mund hören«, sagte der beharrliche Lord Penburn, in dessen Augen es heimtückisch glitzerte. »Und ich wüsste außerdem gern, wo Hauptmann Mebstone ist. Es hat ihretwegen höchst seltsame Gerüchte gegeben.«

Estora konnte sich das lebhaft vorstellen. Sie wusste, dass Lord Penburn sich besonders für Hauptmann Mebstone interessierte, weil sie aus der Provinz Penburn stammte, und da sie dem König so nahe stand, galt sie dem Lordstatthalter als hochrangige Persönlichkeit aus seinen eigenen Reihen, die über großen Einfluss beim König verfügte. Estora hatte bereits vorgeschlagen, ihren Hausarrest aufzuheben. Colin und Harborough hatten Einwände dagegen erhoben, denn sie wollten nichts überstürzen – wahrscheinlich, um ihre eigenen Positionen zu festigen, damit sie dem eventuellen Zorn des Königs standhalten konnten.

Zacharias hatte ebenfalls nach Hauptmann Mebstone gefragt und war vertröstet worden; sie hatten ihm gesagt, dass sie krank sei, sich aber schnell erholte. Estora glaubte nicht, dass sie ihre Lage verbesserten, indem sie dieses Gaukelspiel weiterhin aufrechterhielten und Zacharias anlogen. Sie hatte jedoch entschieden, dass es ihre eigene Angelegenheit war, wenn sie sich ruinieren wollten, und Mebstones Freilassung befohlen, aber offenbar hatte irgendjemand diesen Befehl zurückgehalten. Dies gehörte zu den Dingen, die sie bereinigen wollte, sobald sie hier fertig war.

»Hauptmann Mebstone ist…«, begann Colin, aber er konnte den Satz nicht beenden. Die Seitentür des Thronsaals öffnete sich mit leichtem Quietschen, und herein traten zwei Waffen, Meister Destarion, Zacharias’ Sekretär Cummings und, zu Estoras großer Überraschung, Zacharias selbst.

Die Lordstatthalter fielen augenblicklich auf die Knie und neigten die Köpfe. Zacharias schenkte ihnen keine Beachtung. Er war in einfaches Schwarz gekleidet und ging auf das Podium zu, seine Schritte waren langsam und sein Gesicht bleich, aber er war es dennoch. Er schritt die Stufen hinauf. Estora sah, welche Anstrengung ihn dies kostete und wie erschöpft er war, aber er schaffte es dennoch ohne Hilfe. Als er oben angelangt war, warf er ihr einen langen, undurchdringlichen Blick zu, dann setzten sie sich beide.

»Wie Rat Dovekey Euch soeben mitteilen wollte«, sagte Zacharias mit starker, selbstsicherer Stimme, »befindet sich Hauptmann Mebstone im Lazarettflügel.«

Colin wurde blass, und Estora warf Zacharias einen Seitenblick zu. Seine Mundwinkel waren leicht nach oben gebogen und seine Augenbrauen etwas hochgezogen.

Lord Penburn schien bestürzt zu sein. »Geht es ihr gut, Eure Hoheit?«

»Man hat mir versichert, dass es ihr sehr gut geht.«

Die Lordstatthalter sahen einander an. Vorhin hatten sie sich nicht gescheut, ihre Fragen zu stellen, aber nun schienen sie um Worte verlegen.

»Es ist erfreulich, Euch zu sehen, Eure Majestät«, sagte Lord L’Petrie schließlich. »Wir haben uns Sorgen um Euer Wohlergehen gemacht. Es kursierten alle möglichen Gerüchte, und dann kam die Hochzeit.«

»Ihr seht mich nun leibhaftig vor Euch«, sagte Zacharias, »und ich bin kein Gespenst. Nach meinem Reitunfall hielten wir es für klüger, die Heirat vorzuziehen, um zu verhindern, dass womöglich etwas noch Schlimmeres geschieht, bevor ich diese Dame zu meiner Königin gemacht habe.«

Estora atmete erleichtert auf. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. Er bestätigte ihre Geschichte. Und er hatte soeben verkündet, dass die Heirat rechtens war.

»Ich nehme an«, fuhr Zacharias fort, »Ihr seid lediglich enttäuscht darüber, die Festlichkeiten und Bankette versäumt zu haben.« Die Lordstatthalter glucksten. »Doch seid ohne Sorge, wir werden die Feierlichkeiten am ursprünglichen Hochzeitstermin begehen, denn auch wir möchten mit unserer Familie und unseren Freunden feiern. Ist es nicht so, meine Liebste?«

Estora zuckte zusammen, als er sie ansprach. Er hatte sie bisher noch nie anders als »meine Dame« genannt. Machte er sich über sie lustig? Aber sein Gesicht war ernst. Sie schluckte. »Selbstverständlich.«

»Auch dies ist eine große Erleichterung«, sagte Lord Adolind. »Und ich gratuliere Euch und Eurer Braut zu Eurem Bund. Er wird das Reich stärken.«

»Hört, hört«, sagten die anderen.

»Ich weiß, dass Ihr viele Fragen habt«, sagte Zacharias, »und es gibt vieles zu besprechen, was das Zweite Reich und den Schwarzschleier angeht. Im Augenblick muss ich jedoch zunächst privat mit meiner Gemahlin und meinen Räten konferieren.«

Die auf diese Weise verabschiedeten Lordstatthalter verließen unter Verbeugungen den Thronsaal. Sobald sie fort waren und die Türen geschlossen wurden, sank Zacharias auf seinem Sessel zusammen.

»Eure Hoheit!«, rief Colin. »Ihr habt Euch viel zu sehr verausgabt.«

»Ich bin noch lange nicht damit fertig, mich zu verausgaben«, versetzte er und warf Colin einen finsteren Blick zu. »Cummings!«

»Majestät?«

»Schicken Sie nach General Harborough, Kastellan Sperren und Hauptmann Mebstone. Es ist mir egal, was sie gerade tun und wie ungelegen es ihnen kommt.«

Cummings verbeugte sich und verschwand durch die Seitentür. Danach schien die Zeit überhaupt nicht vergehen zu wollen. Zacharias saß mit geschlossenen Augen auf seinem Thron, ruhte sich aus und sammelte vielleicht seine Gedanken. Sobald irgendjemand etwas zu sagen versuchte, brachte er ihn mit einer knappen Geste zum Schweigen.

Estora hatte Zacharias schon früher im Zorn gesehen, aber dieser Zorn war tiefer, kälter.

 

Laren hatte keine Ahnung, was eigentlich los war, sie wusste nur, dass Destarion ihr einen seiner Lehrlinge geschickt hatte, um ihr auszurichten, sie solle Ben besuchen. Zuerst war sie erschrocken gewesen, aber dann hatte der Lehrling gelächelt und gesagt, dass es gute Neuigkeiten gäbe. Sie fühlte sich plötzlich leicht und überholte auf dem Weg zum Lazarettflügel sowohl den Heiler als auch den Wächter.

Sie fand Ben aufrecht im Bett sitzend. Er trank eine Brühe und war wachsbleich und abgemagert, aber sehr lebendig.

»Hauptmann!«

Sie versuchte sich zusammenzunehmen, musste aber trotzdem grinsen. »Höchste Zeit, dass du aufgewacht bist, Reiter.«

»Ich weiß. Ich bin am Verhungern, aber sie haben mir nichts als Brühe gegeben.«

Laren durchquerte das Zimmer und zog einen Stuhl an sein Bett. »Vielleicht erinnerst du dich, wie man sich als Patient fühlt, wenn du wieder gesund bist und andere Leute behandelst.«

Er schnitt eine Grimasse. »Wenn meine Patienten ein Steak wollen, dann werde ich es ihnen geben.«

Sie lachten, dann fragte Laren: »Weiß Destarion, was sich verändert hat, warum du plötzlich aufgewacht bist? Wir haben die alten Fallberichte durchwühlt, weil wir hofften, darin irgendetwas zu finden, um dir zu helfen, aber wir haben nichts entdeckt.«

»Ich bin nicht plötzlich aufgewacht, zumindest hat man mir das erzählt«, antwortete Ben. »Und ich habe keine Ahnung, was Traum und was Wirklichkeit war, aber meine Verbindung zum König wurde immer schwächer, bis … bis ich nicht mehr gebraucht wurde.«

»Verbindung? Du warst die ganze Zeit mit dem König verbunden?«

Ben nickte. »Ich war … ich war gefangen. Sein Körper hat sich von meinem ernährt, von meiner Heilungsfähigkeit. Ich erinnere mich hauptsächlich an Dunkelheit, aber manchmal habe ich gemerkt, dass ein Lichtfaden aus mir herausgezogen wurde. Und manchmal habe ich gehört, dass mir jemand vorlas … das heißt, ihm. Ich habe auch andere Stimmen gehört, Gespräche. Und dann …«

Er wurde feuerrot. »War Karigan zufällig hier und hat den König besucht?«

»Nein«, antwortete Laren. »Sie ist die ganze Zeit im Schwarzschleierwald gewesen. Wir haben nichts von ihr gehört.«

Ben schien völlig verblüfft. »Dann war es wohl ein Traum. Es schien so …« Er räusperte sich, immer noch hochrot. »Seiner, meine ich. Sein Traum.«

Laren hob eine Augenbraue. Ein solcher Traum also, dachte sie. So amüsant und ein wenig beunruhigend dies auch war, ihre größte Sorge war, was es für Zacharias bedeutete, dass er von Ben nun keine Heilungskraft mehr benötigte. Niemand hatte ihr etwas erzählt. Sie hatte seit Tagen nicht einmal Destarion gesehen und bereits geargwöhnt, dass man sie vergessen hatte. Gerade wollte sie Ben fragen, ob er etwas darüber wusste, als ein Grüner Bote in der Tür erschien.

»Ihr werdet im Thronsaal verlangt, Hauptmann Mebstone.«

Laren stand auf und hoffte, dass sie nun herausfinden würde, was mit Zacharias geschehen war – und was ihr selbst bevorstand.

Pfad der Schatten reiter4
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