DIE RÜCKKEHR ZUM ERDTURM

e9783641094324_i0073.jpg»Wir hätten es ihr gleich sagen sollen«, sagte Estral. Alton saß am Tisch im Erdturm und starrte missmutig auf die Bücher, die darauf aufgestapelt waren. Estral stand auf der anderen Seite und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Als sei er nicht schon bedrückt genug, weil die Begegnung mit Karigan so katastrophal verlaufen war, hatte er nun auch noch genau das getan, was er unter allen Umständen hatte vermeiden wollen: Er hatte Karigans beste Freundin verärgert. Seit dem Morgen, an dem die Gruppe abgereist war, hatten sie diese Diskussion geführt.

»Ich wollte den richtigen Moment abwarten.«

»Für so etwas gibt es keinen richtigen Moment«, gab Estral zurück. »Du …«

Plötzlich tauchte Dale aus der Turmmauer auf. Sie warf den beiden einen einzigen Blick zu und verschwand sofort wieder.

»Ach, vergiss es«, sagte Estral, auf deren Wangen neue Tränen schimmerten. »Vielleicht war es das letzte Mal, dass wir Karigan gesehen haben, und sie ist wütend und mit dem Gefühl abgereist, dass wir sie betrogen haben. Es ist unsere Schuld.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Turm.

»Ich habe versucht …«, murmelte er. Wahrscheinlich hätte er hinter ihr herrennen und sie trösten sollen, aber beim letzten Mal, als er das versucht hatte, hatte sie ihn weggestoßen. Vielleicht hätte er sich mehr Mühe geben sollen? Er wusste einfach nicht, was er tun sollte.

»Was hast du versucht?«

Alton stieß einen heiseren Schrei aus und schoss aus seinem Stuhl in die Höhe. Merdigen. Es war Merdigen, der ruhig hinter ihm stand. Er presste die Hand auf sein wild klopfendes Herz.

»Es wäre nett, wenn Sie einen wenigstens warnen würden.«

»Ihr meint, ich soll anklopfen, bevor ich meine eigene Wohnung betrete?«

»Ja.«

»Das wohl kaum.« Merdigen zauberte sich einen Stuhl herbei, setzte sich und zupfte an seiner Robe, bis sie perfekt saß. »Was habe ich verpasst, während ich weg war? Gibt es etwas Neues?«

Alton war erleichtert, dass er nun eine Entschuldigung dafür hatte, Estral nicht zu folgen. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und erzählte Merdigen von der Ankunft und der Abreise der Gruppe.

»Ich hätte sehr gern mit den Eletern gesprochen«, sagte Merdigen. »Und ich hätte Sir Karigan sehr gern wiedergesehen. Was für ein Pech, dass ich sie verpasst habe.« Als er hörte, dass Alton weitere Reiter zu den anderen Türmen geschickt hatte, hellte sich seine Miene auf.

»Das sind großartige Neuigkeiten«, sagte Merdigen. »Meine Turmmagierkollegen werden entzückt sein, und es wird bestimmt sehr nützlich sein.«

»Und was haben Sie und die anderen bezüglich des Erdturms beschlossen?«

»Nach zahllosen Streitgesprächen und Diskussionen, unterbrochen von einigen Erfrischungspausen – Booreemadhe braut vorzügliches Ale – kamen wir zu dem Schluss, dass der Erdturm betreten werden muss. Von Euch und mir. Nur so können wir Antworten bekommen.«

»Was?«, sagte Alton. »Sie haben doch schon früher versucht, hineinzukommen, und es nicht geschafft.«

»Wie wahr. Damals habe ich den langen Weg genommen und bin unterwegs auf zu viele zerstörte Brücken gestoßen. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit, mein Junge. Sie mag nicht allzu viel Sicherheit bieten, aber uns bleibt nichts anderes übrig.«

»Und was soll diese Möglichkeit sein?«

Merdigen wirkte ausgesprochen beunruhigt. »Ihr müsst den Tempesstein in den Erdturm bringen.«

 

Alton, Estral und Dale brachen am nächsten Morgen zum Erdturm auf. Es war ein kühler grauer Tag, und später würde es wahrscheinlich regnen. Er brauchte Estral, weil ihr Gesang es ihm ermöglichen würde, die Turmmauer zu durchdringen, und er brauchte Dale, damit sie ihn von Estrals Emotionen abschirmte. Und außerdem für den Fall, dass ihm irgendetwas zustieß.

Tief unten in seiner Satteltasche, eingehüllt in eine Decke, lag der Tempesstein. Alton hatte gar nicht gewusst, dass man den Stein von seinem Sockel nehmen konnte, aber er hatte sich widerstandslos aus der Vertiefung, in die er eingebettet war, herausheben lassen. Er wog schwer und fühlte sich glatt an in seinen Händen, fast wie ein übergroßes Ei aus grünem Turmalin. Die ganze Zeit, während Alton den Stein genommen und eingepackt hatte, hatte Merdigen nervös auf ihn eingeredet und dabei an seinen Fingernägeln gekaut.

»Lasst ihn nicht fallen! Lasst ihn ja nicht fallen!«, sagte er zu Alton. »Wenn er splittert oder zerbricht – nein! Es wäre nicht auszudenken.«

»Beruhigen Sie sich«, sagte Alton. »Ich passe schon auf.«

Merdigen starrte ihn mit einer Intensität an, die Alton bei ihm noch nie erlebt hatte. »Das ist nicht einfach nur ein hübscher Stein, den Ihr da habt, mein Junge, sondern er ist die Grundlage meiner Existenz. Er enthält meine Essenz, alles, was mich ausmacht. Mein Wissen, alles.«

Alton hatte schwer geschluckt, als er endlich die Bedeutung des Gegenstandes begriff, den er in eine Decke gewickelt in den Händen hielt. »Ich schwöre es Ihnen, Merdigen, ich werde dafür sorgen, dass dem Stein nichts zustößt.«

Merdigen nickte. »Tut das, mein Junge.« Und dann hatte er sich in sein Schicksal ergeben und war verschwunden, und Alton hatte seitdem nichts mehr von ihm gehört.

Merdigen war bereit, seine Existenz zu riskieren, um festzustellen, wie die Dinge im Erdturm standen. Er hatte Alton zugetraut, ihn sicher dorthin zu bringen, und Alton hoffte, dass er dieses Vertrauen nicht enttäuschen würde.

Sie ritten eine Weile im Schritt, damit sich die Pferde ausruhen konnten, und Dale sagte, als hätte sie seine Gedanken gelesen: »Glaubst du, Merdigen spürt, dass er in einer Satteltasche steckt? Oder schläft er einfach, bis er im Turm ankommt?«

Alton lächelte. Zumindest redete Dale mit ihm. Estral blieb schweigsam und bedrückt, und er vermisste ihre melodische Stimme und ihr Gelächter mit einer überraschenden Heftigkeit.

»Das musst du Merdigen fragen«, antwortete er. »Ich habe keine Ahnung.«

»Ich werde diese Turmmagier nie verstehen«, sagte Dale. »Ich verstehe nicht einmal, was genau sie eigentlich sind.«

»Magische Geister«, sagte Estral. »Genau wie die im Wall, aber als Individuen manifestiert.«

Dale und Alton starrten sie verblüfft an, aber sie ritt weiter, als hätte sie nichts Besonderes gesagt. Dass sie überhaupt sprach, war schon überraschend genug.

»Merdigen hat einmal etwas Ähnliches gesagt«, kommentierte Dale. »Aber ist ein magischer Geist eine lebendige Seele?«

Diesmal schien Estral tief in Gedanken versunken und antwortete nicht. Alton konnte nur die Achseln zucken. Es klang wie eine Frage, die man am besten einem Mondpriester stellte. Sie ritten wieder etwas schneller, in einem langsamen Trab. Sie hatten noch einen weiten Weg vor sich.

Es nieselte, als sie am Turm ankamen, und sie versorgten sofort die Pferde und schlugen ihr Lager auf. Estral verstaute ihre Ausrüstung in Dales Zelt und Alton seufzte bei der Aussicht, eine weitere Nacht allein zu verbringen.

Danach standen sie alle drei unter dem sich verdunkelnden Himmel, ihre Kapuzen tief in die Stirn gezogen.

»Wir können ebenso gut loslegen«, sagte Alton.

»Ich werde meine Laute nicht diesem Regen aussetzen«, sagte Estral.

»Ich bin sicher, die Hüter sind nicht beleidigt, wenn du sie im Zelt spielst«, antwortete er.

Sie nickte nur, und ihre Kapuze verbarg ihr Gesicht.

»Bist du sicher, dass du mich nicht dabeihaben willst?«, fragte Dale. »Du brauchst doch jemanden, der dich vor diesem … Ding da drinnen beschützt.«

»Für mich ist es einfacher, wenn ich nur mich selbst vor den Verteidigungsmaßnahmen des Turmes schützen muss. Außerdem brauche ich dich hier draußen. Falls irgendetwas schiefgeht. Wenn ich in … sagen wir zwei Stunden nicht zurück bin, dann geh zu Garth im Baumturm. Auch wenn mir etwas passiert, könnte Merdigen immer noch unverletzt sein. Vielleicht findet sich eine Möglichkeit, mit Verrücktes Blatt zu kommunizieren, auch wenn das nicht sehr wahrscheinlich ist, nach dem, was er über die zerstörten Brücken gesagt hat.«

Sie standen einige Zeit in trübseligem Schweigen da und starrten den Turm an.

»Na, dann werde ich wohl hineingehen«, sagte er. Aber bevor er sich nur zwei Schritte entfernt hatte, hielt Estral ihn fest und umarmte ihn.

»Du wirst zurückkommen«, sagte sie grimmig.

Er schlang seine Arme um sie und drückte seine Wange in ihr Haar. »Ich bin bald wieder da.«

»Gut. Wenn es sein muss, spiele ich gern stundenlang.« Sie machte sich los und sah ihn düster an. »Ich kann dich nicht auch noch verlieren.« Damit ging sie zu ihrem Zelt.

»Karigan wird zurückkommen«, murmelte er.

»Karigan kann auf sich selbst aufpassen«, meinte Dale. »Bei dir bin ich mir da nicht so sicher.«

»Danke.«

Sie lächelte ihn offen an. »Bist du bereit?«

»So bereit, wie ich überhaupt sein kann.«

Er ging auf den Turm zu ohne zurückzublicken und trug den Tempesstein, der immer noch in seine Decke gewickelt war, in der Armbeuge. Als er am Wall ankam, drangen die bekannten Klänge des Wallhüterliedes von Estrals Laute an sein Ohr.

Er lockerte den Griff seines Säbels, damit er ihn nötigenfalls leicht aus der Scheide ziehen konnte, holte tief Luft und betrat den Erdturm.

Pfad der Schatten reiter4
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