DER MONDSTEIN

e9783641094324_i0006.jpgEinige Pferde, darunter auch Kondor, lugten aus ihren Ställen und beobachteten Vater und Tochter, als wären sie Zuschauer bei einem Turnier. Die Stille war unerträglich.

Endlich sprach ihr Vater. »Was hattest du im Goldenen Ruder zu suchen?«

»Mein Reiterlehrling Fergal wäre fast ertrunken, als wir den Fluss überquerten.«Dies war mit Sicherheit die Kurzform der Geschichte. »Cetchum brachte mich danach ins Goldene Ruder. Ich wusste gar nicht, was das für ein Betrieb war. Jedenfalls nicht sofort.«

»Cetchum«, murmelte ihr Vater. Sie war nicht überrascht, dass er den Fährmeister kannte. Cetchums Frau war Kammermädchen in dem Bordell, und er hatte es als ganz natürlich empfunden, Karigan dorthin zu bringen.

»Ich war überrascht, von Silva zu erfahren«, fuhr Karigan mit zitternder Stimme fort, »dass mein Vater dort Stammkunde ist.« In Wirklichkeit war sie eher außer sich vor Wut gewesen und hatte sich betrogen gefühlt.

Er stemmte seine Hände in die Hüften und wandte sich ab, sein Gesicht im Dunkeln. Als er sich ihr wieder zuwandte, antwortete er: »Ich habe bereits gesagt, dass es Dinge gibt, die ich niemals erklären werde, und meiner Tochter erst recht nicht.«

»Und wie stand es mit Mutter?«, stieß Karigan hervor. »Hat sie es gewusst?«

»Das hat nichts mit ihr zu tun.«

Es hat alles mit ihr zu tun!, wollte Karigan schreien.

Aber ihr Vater ging einfach weg. Er ging weg, verließ den Stall und trat hinaus in den Schnee.

Was hatte sie erwartet?

Eigentlich hatte sie eine ganze Menge erwartet, besonders von ihrem Vater. Sie hatte erwartet, dass er das Andenken ihren Mutter ehrte und sich aufrichtig und rechtschaffen benahm. Sie hatte nicht erwartet, dass er … als Kunde Bordelle besuchte. Auch nicht, dass er Pirat gewesen war. Sie hatte das Gefühl, dass er insgeheim ein ganz anderes Leben führte, das er ihr verschwieg. Wenn er solche Geheimnisse für sich behielt, was mochte er ihr sonst noch alles verschweigen?

Ihr Vater war ihr ein Fremder geworden.

Mit einem Seufzer warf sie die Pferdedecke ab und zitterte in der Kälte. Nach einem letzten Klaps auf Kondors Hals nahm sie beide Laternen und verließ den Stall. Zu ihrer Überraschung wich die Schwärze der Nacht bereits einem staubigen Grau, und der Wind war kaum noch mehr als ein Flüstern. Dicke Schneeflocken segelten in langsamen Wirbeln vom Himmel herab, kein Vergleich mit dem wütenden Schneesturm zuvor.

Sie folgte dem Pfad, den ihr Vater zwischen dem Stall und dem Haus gebahnt hatte, und dachte, dass sie das alles ausdiskutieren sollten, statt einander aus dem Weg zu gehen. Deshalb entzündete sie eine Lampe, als sie das Haus betrat, und suchte ihn zuerst in der Küche und dann in seinem Büro, dann ging sie von Zimmer zu Zimmer, fand aber überall nur Dunkelheit und Stille. Oben drang Schnarchen durch die Zimmertüren ihrer Tanten. Sie blieb vor der Tür ihres Vaters stehen, die angelehnt war. Kein Licht war drinnen zu sehen, kein Laut zu hören.

Zögernd schob sie die Tür auf, hob die Lampe und spähte hinein. Die Decken auf seinem Bett waren zerwühlt, aber er lag nicht darin. Wo konnte er nur sein?

Sie trat ein und das Licht der Lampe durchflutete den Raum. Die Schlafkammer ihres Vaters war schlicht und ordentlich, genauso wie sie sie in Erinnerung hatte. An den Wänden hingen ein paar Gemälde mit Meeresmotiven, und auf dem Kaminsims stand ein Schiffsmodell. Es war nicht die Goldjäger, sondern ein Flussschiff namens Wagnis, das erste Schiff, das er als Unternehmer hatte bauen lassen.

Einige Kohlen glühten schwach im Kamin, und Karigan warf etwas Zunder darauf und fächelte der Glut Luft zu, bis das Feuer wieder aufflammte. Als es hell genug loderte, sah sie sich erneut im Zimmer um.

War es immer so kahl gewesen? War es so gewesen, als ihr Mutter noch lebte? Sie stellte fest, das sie sich nicht erinnern konnte.

Ihr Blick fiel auf die Truhe, die an der gegenüberliegenden Wand unter dem Fenster stand. Die Mitgifttruhe ihrer Mutter.  In Wirklichkeit hatte es gar keine Mitgift gegeben, denn Karinys Vater war nicht mit Stevic G’ladheon als Ehemann für seine Tochter einverstanden gewesen, und deshalb war das Paar bald nach Stevics Zeit auf der Goldjäger durchgebrannt .

Ihr Vater hatte die Truhe in Auftrag gegeben, damit ihre Mutter zumindest das Gefühl hatte, für ihre Ehe mit allem gerüstet zu sein, was eine Braut brauchte, um einen eigenen Haushalt zu gründen. Karigan erinnerte sich, dass die Truhe mit feiner Bett- und Tischwäsche gefüllt gewesen war. Sie hatte nicht mehr hineingesehen, seit sie ein Kind gewesen war.

Jetzt ging sie mit zögernden Schritten darauf zu und stellte ihre Lampe auf einem Nachttisch ab. Sie kniete sich vor die Truhe und strich mit der Hand über das Mahagoniholz, und ihre Finger tasteten über die Schnitzereien von Muscheln und Schiffen. Zu beiden Seiten des Schlosses standen ein Mann und eine Frau, die einander an den Händen hielten. Seevögel kreisten über ihren Köpfen, Wolken ballten sich am Himmel, und hinter ihnen sah man die Strahlen der Sonne.

Die Truhe war nicht verschlossen. Karigan hob den Deckel und roch den starken Duft von Zedernholz.

Drinnen fand sie aber nicht nur die Wäsche, die sie erwartet hatte, sondern auch andere, überraschende Gegenstände. Da war ein großes Trompetenschneckenhaus, wie man es an den Stränden der Wolkeninseln fand. Auch Karigan besaß einige, die ihr Vater ihr von seinen Reisen mitgebracht hatte und die auf dem Kaminsims in ihrem Schlafzimmer standen. Aber dieses Exemplar war riesig. Sie nahm es heraus und legte es vorsichtig zur Seite.

Darunter lag das Kleid eines Säuglings, frisch und weiß, mit einer blau-gelben Stickerei am Saum. Die Stickerei war begonnen, aber nie zu Ende geführt worden.

»Oh, ihr Götter«, murmelte Karigan. Dieses Kleid hatte nicht ihr gehört, sondern ihre Mutter hatte es für das Kind genäht, das sie erwartet hatte, für das Baby, das nie geboren wurde.

Als sie die Truhe ihrer Mutter weiter durchstöberte, fand sie Kleider, einige für die Schwangerschaft erweitert. Darunter entdeckte sie ein elegantes Kleid aus elfenbeinfarbener Seide. Sie konnte die Gegenwart ihrer Mutter beinah neben sich spüren, als sie das Kleid an sich drückte, als würde sie ihre Mutter umarmen. Ihnen war so wenig Zeit miteinander vergönnt gewesen.

Karigan setzte sich auf das Bett ihres Vaters und versuchte, sich ihre Mutter in diesem Kleid vorzustellen, wie sie mit ihrem Vater vor dem Altar von Aeryc stand und gemeinsam mit ihm vor dem Mondpriester und den Zeugen die Gebete rezitierte.

Sie seufzte und presste ihr Gesicht in die Seide, als versuchte sie, etwas von der Essenz ihrer Mutter darin zu spüren, aber sie roch lediglich den Duft des Zedernholzes, der jedem lange in einer Truhe aufbewahrten Kleid anhaftete.

Mit dem Kleid in den Armen rollte sie sich auf dem Bett zusammen und schlief schließlich erschöpft ein.

 

Als Karigan aufwachte, fiel Tageslicht ins Zimmer. Einen Augenblick lang vergaß sie, wo sie war, setzte sich auf und schüttelte den Kopf. Sie schob ihre Decke weg. Nein, das war ja das Kleid ihrer Mutter. Dann erinnerte sie sich – sie war im Zimmer ihres Vaters. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen.

»Na«, sagte Tante Stace, die neben dem Kamin stand und Karigan aufgeweckt hatte, in bitterem Ton. Sie hielt einen Schürhaken in der Hand und war hellwach. »Guten Morgen. Die zehnte Stunde ist bereits angebrochen.«

»Es fühlt sich nicht so an«, murmelte Karigan.

»Das kann ich mir vorstellen. Es scheint, dass du und dein Vater sehr lange aufgeblieben seid.«

»Wo ist er?«, fragte Karigan, die nicht verstand, warum er sie nicht aus seinem Zimmer hinausgeworfen hatte.

»Er wirtschaftet mit seinem Schneeschuhen draußen herum. Um acht kam er kurz herein, auf einen Tee und ein Küchlein, und dann ging er gleich wieder weg.« Tante Stace schüttelte ratlos den Kopf. »Er sagte, er wolle den Zustand des Grundstücks und der Straßen prüfen.«

Karigan zog ungläubig die Augenbrauen hoch. »Warum?«

Tante Stace verdrehte die Augen. »Wenn ich darauf einen Antwort wüsste, Kari-Mädchen, dann würde ich sie dir sagen. Du weißt ja, wie er ist, wenn er sich etwas in den Kopf setzt.«

Karigan nickte. Sie wusste es nur allzu gut. Nichts konnte ihn dann aufhalten, egal wie viele Hindernisse sich vor ihm auftürmten – nicht einmal ein Schneesturm. Sie sah aus dem Fenster, als hoffte sie, ihn draußen auf seinen Schneeschuhen herumstapfen zu sehen, aber sie sah nichts als den Raureif auf dem Glas.

Wahrscheinlich prüft er, ob die Straßen frei sind, damit er mich los wird.

Tante Stace legte den Schürhaken zur Seite, kam zu Karigan und strich sich den Rock glatt, als sie sich aufs Bett setzte. »Was ist passiert?«, fragte sie leise und berührte das Kleid. »War es etwas, das dein Vater gesagt hat?«

»Nein. Ich … ich weiß es nicht. Aber Mutter … ich vermisse sie. Ich erinnere mich kaum noch an sie.« Dann schossen ihr plötzlich wie aus dem Nichts Tränen in die Augen. Tante Stace nahm sie in die Arme und hielt sie fest. Sie roch nach Seife und Zimt.

»Ich weiß, Liebling, ich weiß.« Tante Stace streichelte ihren Rücken. »Du weißt aber, dass sie dich sehr geliebt hat, nicht wahr?«

Karigan schniefte und nickte.

»Gut. Das ist das Wichtigste.«

»Ich erinnere mich, dass sie mir gern etwas vorsang.«

»Ja, das stimmt, und sie hatte eine schöne Stimme.«

»Das ist etwas, das ich nicht von ihr geerbt habe«, sagte Karigan und lachte.

»Aber du hast ihre Augen, ihre Haare und viele ihrer liebenswerten Eigenschaften«, sagte Tante Stace. »Vergiss niemals, dass sie in dir weiterlebt.«

Fast wäre Karigan erneut in Schluchzen ausgebrochen, aber sie schluckte die Tränen herunter und wischte sich die Nase mit ihrem Ärmel.

»Ich glaube«, sagte Tante Stace, »dass es dir nach einem kräftigen Frühstück viel besser gehen wird.«

Karigan nickte. Sie hatte tatsächlich Hunger.

»Gut. Dann lass mich dir helfen, dieses Kleid zusammenzufalten. « Tante Stace glättete einen der Ärmel. »Deine Mutter sah wunderschön darin aus. Sie leuchtete geradezu. Dein Vater dagegen …«Tante Stace kicherte und fing schließlich an, herzhaft zu lachen.

Karigans Tanten hatten ihr die Geschichte von der Hochzeit ihres Vaters schon so oft erzählt, dass bloß eine von ihnen das Wort Hochzeit fallen lassen musste, damit sie alle in hemmungsloses Gelächter ausbrachen. Außer ihrem Vater, der dann meistens stöhnte und das Zimmer verließ.

»Er … er wurde so weiß wie der Bauch eines Rochens, als er Kariny sah.« Tante Stace zitterte am ganzen Körper. »Er war dermaßen nervös!«

Es war tatsächlich komisch, dachte Karigan, sich ihren Vater zusammengesunken in den Armen des Mondpriesters vorzustellen, während der Lordbürgermeister von Corsa und die ganze Elite der Handelsgilde dabei zusahen. Sie konnte nicht anders, als in Tante Staces Gelächter einzufallen.

Als sie sich erholt hatten, hoben sie das Kleid auf, um es zusammenzulegen, und etwas Festes fiel heraus und landete auf dem Bett.

»Was in allen Himmeln …?« Tante Stace hob den Gegenstand auf.

»Was ist das?«, fragte Karigan, nachdem sie das Kleid gefaltet und sorgfältig wieder in die Truhe gelegt hatte.

»Eine Art Kristall.« Tante Stace öffnete ihre Hand und zeigte ihr einen durchsichtigen, runden Kristall, der hell aufblitzte, als das Licht ihn berührte. Sie ließ ihn über ihre Handfläche rollen, und es schien, als würde er das ganze Tages- und Feuerlicht im Zimmer auffangen und in allen Regenbogenfarben schimmernd gegen die Wände und die Zimmerdecke werfen. »Ein hübsches Ding.«

»Muna’riel«, murmelte Karigan, die vor Verblüffung verstummt war.

»Was sagst du?« Etwas Seltsames flackerte in Tante Staces Augen auf.

»Muna’riel.« Karigan wusste genau, was das war, denn sie hatte ebenfalls einmal einen besessen – aber was in den Namen aller Götter hatte ein eletischer Mondstein in den Falten des Hochzeitskleides ihrer Mutter zu suchen?

»Muna-rie-ell«, murmelte Tante Stace und kratzte sich am Kopf. »Da klingelt irgendetwas aus längst vergangenen Tagen in meinem Kopf…«

»Was denn?«, fragte Karigan

»Lass mich überlegen.« Tante Stace sah zu Boden, als durchforschte sie ihre Erinnerungen. »Muna-rie-ell. Deine Mutter hat mal etwas gesagt…«

»Mutter?« Karigan zitterte und musste sich zurückhalten, um ihre Tante nicht zu schütteln, damit die Erinnerungen aus ihr herauspurzelten.

»Ahh, jetzt weiß ich«, sagte Tante Stace wie im Selbstgespräch. »Wir hatten uns gewundert, was sie wohl meinte, aber dann dachten wir, dass es das Fieber war.«

»Wie? Was meinst du?«

»Sie lag schon im Sterben«, sagte Tante Stace, setzte sich wieder aufs Bett und klopfte mit der flachen Hand neben sich auf die Matratze, damit Karigan sich ebenfalls hinsetzte.

Ein Mondstein, dachte Karigan, während sie sich setzte, meine Mutter hatte einen Mondstein.

»Deine Mutter war so schlimm krank«, fuhr Tante Stace fort. »Immer wieder verfiel sie in Fieberwahn. Sie sang Worte, die wir nicht verstanden, und sie zeigte auf tote Verwandte im Zimmer, die sonst keiner sehen konnte. Sie singt mir vor, sagte sie immer wieder. Wer?, fragten wir sie, aber sie antwortete nur: Genau wie damals, als ich mit Kari schwanger war. Sie singt mir vor.« Tante Stace zuckte die Achseln. »Wir wussten nicht, wen sie meinte, aber dann sprach sie mit ihrer Großmutter und ihrem Großvater, die natürlich längst tot waren. Vielleicht war es ihre Großmutter gewesen, die gesungen hatte?«

Karigan schauderte und fragte sich, ob sie womöglich gar nicht die Einzige in ihrer Blutlinie war, die die Gabe besaß, die Toten zu sehen.

»Dann, auf einmal«, sagte Tante Stace, »ergriff sie Stevics Handgelenk, und wir erschraken alle. Ich zittere immer noch, wenn ich nur daran denke. Stevic beugte sich ganz nah zu ihr, um zu hören, was sie sagte.«

»Und was hat sie gesagt?«, fragte Karigan fast flüsternd. Tante Stace runzelte die Stirn. »Gib Kari den Mun-rie-ell. Genau das hat sie gesagt. Gib Kari den Mun-rie-ell. Sie sagte es immer und immer wieder, bis sie vor Erschöpfung Stevics Handgelenk fallen ließ. Danach ist sie friedlich gestorben, einfach eingeschlafen. Beinahe … beinahe lächelnd.«

Karigan hatte bereits ein wenig über die letzten Augenblicke ihrer Mutter gehört, dass sie friedlich gestorben war, umgeben von den Menschen, die sie geliebt hatte. Aber noch nie hatte ihr jemand erzählt, dass ihre Mutter tote Familienmitglieder gesehen hatte, und dass es ihr letzter Wunsch gewesen war, Karigan den Mondstein zu geben.

»Ich denke, er gehört dir«, sagte Tante Stace und hielt den Kristall gegen das Licht, wie hypnotisiert von seiner Schönheit. »Er gehört dir, nach all den Jahren ist er zu dir gekommen. Wir hatten damals keine Ahnung, wovon deine Mutter sprach, wir wussten nicht einmal, dass dieser Kristall überhaupt existierte, also konnten wir ihn dir auch nicht geben, wie sie es gewünscht hatte, und wir dachten … Wir hielten es für besser, dir nichts über ihre letzten Worte zu sagen, denn wir glaubten, dass sie im Fieber gesprochen hatte, und wollten dich nicht mit einer Geschichte über ihren verwirrten Geisteszustand traurig machen.«

Noch mehr Geheimnisse, dachte Karigan, aber sie war nicht wütend. Nur benommen. Benommen und fassungslos.

»Hier hast du ihn, Liebling.« Ein wenig zögernd ließ Tante Stace den Mondstein auf Karigans ausgestreckte Hand rollen.

In dem Augenblick, in dem er ihre Haut berührte, leuchtete der Stein mit einer solchen Helligkeit, dass beide Frauen ihre Augen zusammenkneifen mussten.

»Gütige Himmel!«, stieß Tante Stace hervor. »Wie ist das geschehen?«

»Er ist eletisch«, antwortete Karigan. »Ein Muna’riel ist ein Mondstein. Er enthält einen Mondstrahl.«

»Eletische Magie?«, fragte Tante Stace mit gedämpfter Stimme.

Karigan nickte, und das Strahlen des Mondsteins wurde zu einem weichen, silbrigen Glanz. Wärme breitete sich über Karigans Handfläche bis in ihren Arm aus. Sie war nicht sicher gewesen, ob sich der Stein für sie erhellen würde, aber er hatte es getan, genau wie der allererste Mondstein, den sie jemals berührt hatte. Dieser hatte ursprünglich einem Paar exzentrischer, älterer Schwestern gehört, die mitten im Grünmantelwald lebten. Er war einer von vielen magischen Gegenständen gewesen, die deren Vater, Professor Berry, im Laufe seines Lebens gesammelt hatte. Die Schwestern Berry waren so beeindruckt davon gewesen, dass er für Karigan aufgeleuchtet hatte, nachdem er das für sie nie getan hatte, dass sie ihn ihr geschenkt hatten.

Sie war sich niemals darüber im Klaren gewesen, warum die Magie bei ihr gewirkt hatte und bei anderen nicht, aber nachdem sie den Mondstein erhalten hatte, war sie einem Eleter namens Somial begegnet, der ihr erzählte, die Gunst des Mondsteins bedeutete, dass sie »von Laurelyn berührt« worden sei, einer Freundin des Elt-Waldes. Karigan wusste nicht genau, was das bedeuten sollte, zumal einige Eleter sie eher als Feindin behandelt hatten.

Laurelyn, die Mondträumerin, war eine mythische, eletische Königin des legendären verlorenen Reiches von Argenthyne. Sie war eine Legende gewesen, bis Karigan erfahren hatte, dass sowohl Laurelyn als auch ihr Reich tatsächlich existiert hatten. Argenthyne war von Mornhavon dem Schwarzen erobert und in Kanmorhan Vane, den Schwarzschleierwald verwandelt worden. Niemand wusste, was mit Laurelyn geschehen war, nicht einmal die Eleter.

Im Moment war Karigan allerdings mehr von der Vorstellung überwältigt, dass dieser Mondstein ihrer Mutter gehört hatte. Wie? Warum? Und Kariny hatte gewollt, dass er Karigan übergeben werden sollte, eine Tatsache, die noch mehr Fragen aufwarf.

Als sie aufblickte, lag in den Augen ihrer Tante wieder der sonderbare Ausdruck. »Es ist seltsam«, sagte sie. »Seltsam, dass deine Mutter so etwas besessen haben soll. Eletisch, um Himmels willen! Und doch … und doch finde ich es andererseits gar nicht so seltsam.«

Karigan wartete und wagte es nicht, sie zu unterbrechen.

»So vernünftig deine Mutter auch war, sie hatte außerdem noch eine andere Seite. Etwas Träumerisches. Das kam zweifellos von der mütterlichen Seite ihrer Familie.« Ohne die letzte Bemerkung zu erläutern, fuhr Tante Stace fort: »Von dieser träumerischen Seite ihrer Natur stammten all die Lieder und Geschichten. Wie sie es geliebt hat, dir diese Geschichten zu erzählen und dir vorzusingen!«

Karigans lief ein Schauer über den Nacken, als ihr einfiel, dass ihre Mutter meist von Laurelyn der Mondträumerin und von Argenthyne gesungen hatte.

»Dann gab es Zeiten«, erzählte Tante Stace, »in denen sie nachts ausritt. Um zu den Sternen zu singen, sagte sie uns immer. Stevic begleitete sie oft, und die beiden waren wie zwei Jugendliche, die ihre erste Liebe erleben, nicht wie ein Ehepaar mit Verantwortungen und einem Kind, für das sie sorgen mussten.«

»Ich erinnere mich nicht«, sagte Karigan.

»Es gibt vieles, woran sich ein Kind nicht erinnert, besonders, wenn diese Dinge nach seiner Schlafenszeit geschehen sind! Und übrigens sind sie auch schon lange vor deiner Geburt so ausgeritten. Ein junges Liebespaar. Ich wäre überhaupt nicht überrascht, wenn du während eines dieser Ausflüge gezeugt worden wärst.«

Draußen im Wald? Ihre Eltern? Umgeben von Bäumen, Farnen und wilden Tieren? Karigans Wangen röteten sich. Es war gut und schön zu wissen, wer die eigenen Eltern waren – aber der Gedanke an die Dinge, die sie zu ihren Eltern gemacht hatten, war etwas ganz anderes. Sie rieb sich die Augen mit den Handballen, als könnte sie damit das neue Bild ausradieren, das sie nun im Kopf hatte, das Bild ihrer Eltern, die einander auf dem moosbedeckten Boden irgendeiner Waldlichtung umarmten, während das Mondlicht auf sie fiel …

Tante Stace lächelte amüsiert, als hätte sie Karigans Gedanken genau erraten, aber dann wurde sie wieder ernst und fuhr mit ihrer Erzählung fort. »Auch wenn Stevic fort war, ritt Kariny nachts allein aus. Sevano war immer ganz außer sich vor Sorge, weil sie sich so in Gefahr begab, aber sie lehnte seine Begleitung ab und kehrte immer wohlbehalten und glücklich zurück. Besonders liebte sie den Vollmond. Das gibt mir zu denken…«

»Meinst du etwa, dass sie eine Affäre hatte?«, fuhr Karigan hoch, mir ihren Gedanken immer noch auf der mondbeschienenen Waldlichtung.

»Nein«, antwortete Tante Stace nachdenklich. »Ich glaube nicht, dass sie dazu fähig gewesen wäre. Sie liebte deinen Vater von ganzem Herzen, sie lebte nur für ihn. Aber ich frage mich, ob sie da draußen auf ihren Ausflügen vielleicht Eletern begegnet ist.« Sie deutete vage in die Richtung des Umlandes. »Seit es am D’Yer-Wall Schwierigkeiten gibt, hört man öfter von Sichtungen der Eleter. Sogar in der Nähe von Corsa. Aber vielleicht sind sie schon immer da draußen gewesen und haben sich einfach nicht gezeigt. Vielleicht haben sie sich mit deiner Mutter angefreundet, und so ist der Kristall in ihren Besitz gekommen.«

Das war eine ebenso gute Erklärung wie jede andere, dachte Karigan. Die Eleter pflegten zu wandern und waren, wie ihre Tante angedeutet hatte, ganz bestimmt schon immer »da draußen« gewesen, obwohl sie für die meisten Sacorider nur in Legenden lebten. Seit der Bresche im D’Yer-Wall waren sie wieder ins Bewusstsein gerückt, nicht mehr nur als Gestalten aus Märchen und Liedern, sondern durchaus lebendig und vollkommen wirklich.

Sie schloss ihre Finger enger um den Mondstein, und Lichtstrahlen drangen zwischen ihnen hervor wie Klingen. Ihre Mutter hatte gewollt, dass er auf Karigan überging. Ihre Mutter hatte ihn bei seinem eletischen Namen genannt, Muna’riel.

Und Karigan hatte gedacht, ihr Vater sei derjenige, der Geheimnisse hatte!

Pfad der Schatten reiter4
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