EINDRINGLINGE
Das Blut zischte, als es auf eine alte Schneefläche floss. Der Kreis der Laternen enthüllte den von Pfeilen gespickten Kadaver des Wesens, übersät von Schwerthieben, aus denen es scharlachrot tropfte. Es war eine Ratte von der Größe eines Ponys, und ihre Augen glänzten im Licht der Laternen wie Kupfer. Aus ihren Kiefern ragten Reihen von Schneidezähnen, die einem Mann fast das Bein abgerissen hatten, aber es waren die Klauen, die das Leben eines anderen gefordert hatten. Es waren auch die Klauen gewesen, die es der Ratte ermöglicht hatten, über die Reparaturstelle in der Bresche zu klettern.
»Verflucht«, flüsterte Alton D’Yer.
Es war keineswegs so, dass sie nicht wachsam gewesen waren. Die Bresche wurde sorgsam bewacht, und das war auch gut so. Alton wollte sich nicht vorstellen, welchen Schaden das Wesen hätte anrichten können, wenn sie nicht so wachsam gewesen wären.
Und doch waren sie nicht vorsichtig genug gewesen. Vielleicht hatten sie sich ein bisschen entspannt, ein bisschen zu sehr, da es im Schwarzschleierwald relativ ruhig war und die Reparatur der Bresche Fortschritte machte.
Tssss zischte es, als noch mehr Blut in den Schnee tropfte.
»Wir werden die Wache verstärken«, informierte Alton Hauptmann Wallace, der das Lager an der Bresche befehligte. »Ich werde von meinem Vater Verstärkung anfordern. Inzwischen gebe ich Ihnen so viele Männer vom Turmlager, wie Sie brauchen.«
»Sehr wohl, Herr«, sagte Hauptmann Wallace. »Ich danke Euch.«
Als Sohn und Erbe des Lordstatthalters der Provinz D’Yer war Alton am Wall der Ranghöchste, und die Offiziere erwarteten von ihm, die wichtigsten Entscheidungen zu treffen. Alton war aber außerdem ein Grüner Reiter, dessen Aufgabe es war, die Geheimnisse des Walls zu ergründen und die Bresche zu reparieren. Wäre er nicht der Sohn des Lordstatthalters gewesen, wäre er einfach ein weiteres Rädchen im Getriebe des Lagers, das sowohl aus sacoridischen Soldaten als auch aus Mitgliedern der Provinzmiliz von D’Yer bestand.
Normalerweise konnte Alton die Verwaltungsarbeiten dem Militär überlassen und sich auf seine eigene Tätigkeit konzentrieren. Gelegentlich erwies sich sein Rang als nützlich, weil er dadurch meistens alles bekam, was er wollte und wann er es wollte, aber in Zeiten wie diesen verkrampfte sich sein Magen, und er wünschte sich, überhaupt keinen Rang zu bekleiden.
Tsssss.
»Bringen Sie dieses Ding vom Lager weg«, befahl Alton dem Hauptmann. »Verbrennen Sie es. Hüten Sie sich aber vor dem Blut.«
»Ja, mein Herr.« Hauptmann Wallace drehte sich um und begann, seinen Untergebenen Befehle zu erteilen.
Dale Littlepage, eine Grüne Reiterkameradin, die Alton seit dem Herbst am Wall zur Seite stand, erschien an seiner Seite. »Grauenhaft«, sagte sie, als sie auf die Kreatur hinabblickte.
Die beiden Reiter zogen sich einige Schritte zurück, um den Soldaten Platz zu machen, die den Kadaver zum Abtransport vorbereiteten.
»Leese glaubt, dass sie den einen Mann retten kann, wenn sich seine Wunde nicht entzündet«, sagte Dale und meinte damit die Hauptheilerin des Lagers. »Aber er wird das Bein verlieren.«
Alton seufzte. Beide Männer waren sacoridische Kavalleristen. Er würde dem König einen Bericht schreiben müssen. Die Witwe des Mannes würde eine Entschädigung bekommen, und der verwundete Mann ebenfalls. Das Militär hatte jedoch nicht viel Verwendung für einen Mann mit nur einem Bein, und er würde andere Möglichkeiten finden müssen, seine Familie zu ernähren, falls er eine hatte. Es würde kein leichtes Leben werden.
Alton warf einen Blick auf den Wall. Abgesehen von der Stelle, die von den Laternen beleuchtet wurde, verschwamm er in der Nacht und verdeckte die Sicht auf die Sterne. Der eigentliche Steinwall war kaum mehr als drei Meter hoch, aber die Magie ließ ihn scheinbar bis zum Himmel aufragen. Er war ein Bollwerk, das die Kreaturen des Waldes nicht überwinden konnten, und schützte Sacoridien und seine Nachbarn.
Bis die Bresche aufgetreten war.
Alton und seine Leute hatten wiederholt versucht, die Bresche zu reparieren, sie hatten sogar die Steinbrüche wieder aktiviert, die vor Jahrhunderten benutzt worden waren, um den Wall zu bauen, aber auch dort gab es nur gewöhnlichen Stein. Die Macht des Walls beruhte auf vielen anderen Dingen. Tausende von Seelen waren darin eingewoben, und ihr Lied, ein Lied, dessen Schwingungen er inzwischen in seinen Knochen fühlte, erzeugte die Magie und die Kraft, die den D’Yer-Wall zu dem machten, was er war.
Ein Meisterwerk. Eine Schöpfung der Magie. Das Ergebnis eines ungeheuerlichen Blutbades.
Er sah zu, wie die Soldaten Seile um das tote Rattenwesen wickelten. Bis er dahintergekommen war, wie man die Magie in das neue Mauerwerk der Bresche einbinden konnte, mussten sie mit weiteren derartigen Überfällen aus dem Schwarzschleierwald rechnen. Seine einzige Hoffnung war das Buch von Theanduris Silberholz gewesen, und dieses bestätigte lediglich, dass die Magie, die zur Verstärkung des Walls benutzt worden war, die Opferung Tausender magisch begabter Menschen verlangte.
Seit Daro Cooper, eine neue Reiterin, die Alton noch nicht gekannt hatte, ihm vor Tagen das übersetzte Manuskript des Buches gebracht hatte, hatte er es wieder und immer wieder studiert. Daro hatte ihm auch von dem Mord an Osric M’Grew durch die Schergen des Zweiten Reiches berichtet, und Alton hatte gemeinsam mit Dale um ihn getrauert. Sie trauerten immer noch.
Nun verstärkte seine Trauer jedoch seine Entschlossenheit, das Problem der Bresche zu lösen.
Ein Soldat rannte auf sie zu, seine Schnallen und sein Kettenpanzer blitzten im Licht der Laternen und im Feuerschein.
»Ihr Herren, unsere Peripheriewächter haben gerade eine unbefugte Person gefangen, die auf unser Lager zuhielt.«
Alton und Dale tauschten einen Blick. Erst dieses Wesen, und nun ein Eindringling? Es würde eine lange Nacht werden.
Der Eindringling saß neben einem der Wachfeuer. Es handelte sich um eine Frau, und die Soldaten, die sie bewachten, waren zu allem bereit, denn ihre Hände lagen auf den Schwertgriffen. Sie sah nicht besonders gefährlich aus, aber nach dem Eindringen der Kreatur konnte er den Soldaten ihre Anspannung nicht übel nehmen. Und in diesen unsicheren Tagen konnte man nie wissen, welche Gestalt die Gefahr annahm.
Sie stand auf, als sie sich näherten, aber man konnte nicht allzu viele Einzelheiten erkennen, außer, dass sie etwa im selben Alter war wie Alton und Dale. Sie trug einen einfachen Umhang. Falls sie irgendwelche Waffen bei sich getragen hatte, hätten die Soldaten sie konfisziert.
Zunächst sprach niemand, und sie sahen einander über das Feuer hinweg an.
»Seid gegrüßt«, sagte die Frau mit angenehmer Stimme und brach damit endlich das Schweigen.
»Wer ist das?«, fragte der Hauptmann seine Soldaten.
Alle fingen gleichzeitig an zu reden, aber keiner schien es zu wissen.
Die Stimme der Frau übertönte das Durcheinander. »Wenn mich jemand direkt fragen würde, wäre es mir ein Vergnügen, mich vorzustellen.«
»Bitte tun Sie das«, sagte Alton.
Sie heftete ihren Blick auf ihn, und Alton spürte ihr Lächeln. »Ihr seid Lord Alton D’Yer, nehme ich an«, sagte sie.
»Sie kennen mich also.«
Sie nickte. »Ich habe viel über Euch gehört.«
Jetzt runzelte Alton die Stirn. »Ich fürchte, Sie bringen mich in Verlegenheit. Ich kenne Sie nämlich nicht.«
»Nein? Ich bin eine Bänkelsängerin aus Selium.« Sie legte ihre Hand an die Schläfe und verbeugte sich.
Die Hand an der Schläfe? Eine hochgeborene Bänkelsängerin?
»Mein Name«, sagte sie, »ist Estral Andovian, Tochter von Aaron Fiori, dem Goldenen Hüter.« Sie streckte ihre Hand aus, damit er ihren Ring mit dem Siegel der goldenen Harfe sehen konnte.
Estral Andovian – Karigans beste Freundin. Als Tochter des Goldenen Hüters war sie tatsächlich von hoher Geburt. Und als Karigans beste Freundin hatte sie zweifellos allerlei über ihn erfahren, und er hätte gern gewusst, was das im Einzelnen gewesen war. Beim Gedanken an Karigan runzelte er wieder die Stirn. In dem Paket, das Daro aus Sacor-Stadt gebracht hatte, war kein Brief von ihr gewesen. Dafür kamen viele Gründe infrage. Vielleicht war sie auf einem Botenritt unterwegs, oder sie hatte keine Zeit zum Schreiben gehabt, oder er war einfach zu aufdringlich gewesen und hatte sie damit zur Distanz gezwungen.
»Meine Dame«, sagte Hauptmann Wallace, »Ihr müsstet doch wissen, dass der Wall für Zivilisten nicht zugänglich ist. Er ist gefährlich.«
»Mir sind die Gefahren bekannt«, antwortete Estral Andovian. »Ich weiß auch, dass Zivilisten nicht zugelassen sind.«
»Was führt Euch dann hierher, meine Dame?«, fragte Alton.
Sie sah ihn an, und nun bemerkte er im Feuerschein, dass ihre Augen von einer transparenten grünen Farbe waren, wie die Färbung des Meers, wenn der Mond auf den Wellen leuchtet.
»Ich kam als Bänkelsängerin«, sagte Estral. »Ich bin Gesellin, und in dieser Phase meiner Ausbildung muss ich reisen und meine Dienste anbieten, wo immer ich auch hingehe, wenn ich Meisterin werden will.«
»Dies ist allerdings ein merkwürdiges Reiseziel für Euch«, bemerkte Hauptmann Wallace.
»Das finde ich nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass die Leute hier ein bisschen Unterhaltung zu schätzen wissen, weil sie die Eintönigkeit unterbricht und ihre Gedanken von anderen Problemen ablenkt.«
»Das stimmt allerdings«, antwortete Hauptmann Wallace. »Aber die Gefahr für Euch …«
»Es gibt noch mehr Gründe für mein Kommen«, sagte Estral. »Ich komme als Vertreterin des Goldenen Hüters, als Zeugin, wenn ihr so wollt. Hier«, sie deutete Richtung Wall, »findet Geschichte statt. Alles muss aufgezeichnet und in der Erinnerung bewahrt werden, und auch dies ist die Pflicht des Goldenen Hüters und seiner Bänkelsänger.«
»Geschichte, meine Dame?« Altons Stimme war scharf. »Die Gefahren hier sind durchaus real, nicht nur eine Fußnote in irgendeinem staubigen, alten Wälzer. Menschen sind hier gestorben. Heute Nacht. Ich zeige Euch diese ›Geschichte‹.«
Er nahm ihren Ellbogen und führte sie zum Wall, wo die Soldaten versuchten, ein Pferd vor das Rattenwesen zu schirren, aber das Pferd wollte nichts davon wissen, bäumte sich auf und wieherte.
»Das Pferd ist klug, dass es sich diesem Kadaver nicht nähern will«, sagte Alton.
Als sie die Kreatur sah, stolperte Estral trotz seines Griffs mit einem kleinen Aufschrei zurück.
»Das«, sagte Alton, »kam aus dem Schwarzschleierwald. Es tötete einen Mann und richtete einen anderen übel zu. Darum muss ich darauf bestehen, dass Ihr uns verlasst und Euer Gesellentraining anderswo fortsetzt. Dies ist kein Ort für … für eine Musikerin, ob sie nun die Tochter des Goldenen Hüters ist oder nicht.«
»Ich … es tut mir leid wegen Eurer Männer«, sagte Estral.
Sie war nach dem ersten Schreck nicht weggelaufen und sammelte sich schneller als so mancher Soldat. Hatten die meisten Frauen nicht schreckliche Angst vor Ratten? Und dies war nicht einmal eine Ratte von normaler Größe. Abgesehen von den Grünen Reiterinnen hatten seine Erfahrungen ihn gelehrt, dass alle Frauen zimperlich waren. Estral jedoch studierte die Bestie intensiv, als wollte sie sich ihr Aussehen für immer einprägen.
»Du wirst sie doch wohl nicht heute Nacht noch hinauswerfen«, sagte Dale, die sie begleitet hatte.
Hauptmann Wallace und seine Soldaten waren ihnen ebenfalls gefolgt. »Es ist stockdunkel. Kein Mond.«
»Was?«, sagte Alton. »Ich …«
»Sie kann in meinem Zelt schlafen«, sagte Dale. »Sicher steht irgendwo im Lager noch eine Pritsche.«
»Aber …«
»Es ist riskant hier«, sagte Dale, »aber es wäre weder besonders gastfreundlich noch ganz ungefährlich, sie nachts in den Wald hinauszuschicken.«
Alton sah Hauptmann Wallace Unterstützung heischend an.
»Ich stimme Reiterin Littlepage zu«, sagte der Hauptmann. »Ich bin sicher, dass es ausreicht, wenn Lady Estral erst morgen früh aufbricht.«
»Ja, ja, selbstverständlich.« Alton fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Sie musste ihn für einen Vollidioten halten, weil er darauf bestanden hatte, dass sie augenblicklich ging. Er bemerkte ein Glimmen in ihren meergrünen Augen und sah weg. »Morgen früh wird angemessen sein.«
»Sehr wohl«, sagte Estral. »Ich danke Ihnen, Reiterin Littlepage.«
»Nennt mich Dale.«
»Gut, Dale. Und ich möchte bitte von niemandem mehr ›Lady dies und Lady das‹ hören.«
Dale und Estral spazierten Arm in Arm davon und plauderten wie alte Schulfreundinnen.
»Ich werde heute Nacht aufspielen«, hörte er Estral sagen.
»Ein bisschen Unterhaltung würde uns helfen, die Geschehnisse der heutigen Nacht zu vergessen«, sagte Hauptmann Wallace zu Alton.
Estral sang tatsächlich in dieser Nacht und begleitete sich auf einer kleinen Reiselaute; ihre Stimme war klar und fest. Sie sang tröstliche Lieder, die die Menschen im Lager nicht traurig machten. Sie sang auch Lieder über die Kraft und die Heldentaten großer Krieger aus vergangenen Epochen.
Alton fand ihren Gesang und ihr Spiel ermutigend und merkte, dass es viel zu lange her war, seit er Musik von solcher Qualität gehört hatte. Auch musste er zugeben, dass es interessant war, jemanden aus Karigans »anderem Leben« kennenzulernen, jemanden, den sie gekannt hatte, lange bevor sie eine Grüne Reiterin geworden war. Wie war sie in jenen Tagen wohl gewesen? Oh ja, er hatte mitbekommen, dass sie nicht die beste oder fügsamste Schülerin in Selium gewesen war, aber welche Einzelheiten würde Estral erzählen können, wenn man sie darum bat? Welche Einzelheiten, die nur ihre beste Freundin wissen konnte?
Die Versuchung war groß, Estral zu erlauben zu bleiben. Die Götter wussten, dass sie alle ein bisschen musikalische Unterhaltung brauchen konnten, und auch die Geschichten, die sie ihnen würde erzählen können, aber er durfte nicht zulassen, dass diese Wünsche seine Vernunft trübten. Nein, Estral musste gehen. Der Wall war kein Ort für Zivilisten, ob sie nun Musiker waren oder nicht.
Mitten in ihrer Darbietung holte Alton sein Pferd Nachtfalke, um zum zweiten Lager am Himmelsturm zu reiten. Als er aufstieg, hätte er nicht sagen können, welche Ballade Estral gerade sang, aber der Klang ihrer Laute in Verbindung mit dem Ton ihrer Stimme erweckte etwas in ihm. Brachte etwas zum Mitschwingen. Nicht nur das, sondern ihm schien fast, dass die Stimmen im Wall die Melodie mitsummten.
Er schüttelte den Eindruck ab und ritt auf Nachtfalke davon, und die Musik verklang hinter ihm.