SCHWINGUNG
Während des Ritts zurück ins Lager klärte Alton sie über Theanduris Silberholz’ Buch auf, aber Estral wusste bereits darüber Bescheid. Dann erinnerte er sich, dass Karigan nach Selium gereist war, um danach zu suchen. Estral bestätigte das.
»Nachdem Karigan weg war«, sagte sie, »haben wir auf der Suche nach diesem Buch die Archive völlig auseinandergenommen, obwohl wir sicher waren, dass es nicht dort war. Später schickte der König uns die Nachricht, dass es anderswo gefunden worden war.« Sie seufzte schwer. »Dann mussten wir alle Archive wieder neu ordnen.«
Alton entnahm ihrem Ton und Gesichtsausdruck, dass dies nicht gerade die angenehmste Erfahrung gewesen war. Als er sie ansah, konnte er nicht umhin zu bemerken, wie die Morgensonne, die durch die Äste fiel, auf ihrem Haar funkelte, sodass goldene Strähnen in dem dunkleren, sandfarbenen Haar schimmerten.
Er räusperte sich und erklärte ihr, wie Theanduris den Bau des Walls und die erforderlichen Blutopfer dokumentiert hat. Estral nickte, als würde dies alles ihren Verdacht bestätigen.
»Viel Blut floss in jenen Tagen«, sagte sie, »auch nach dem Ende des Krieges. Aber die eigentliche Baumethode des Walls wurde geheim gehalten, sogar vor dem Goldenen Hüter … oder vielleicht in erster Linie vor ihm.« Sie versank in tiefes Nachdenken, während ihre Pferde langsam weitertrabten, und sagte schließlich: »Das ist nicht gerade eine Geschichte, über die man Bänkelsänger gern singen hört. Ich vermute, König Jonaeus hat damals dafür gesorgt, dass Gerlrand, der erste Goldene Hüter, sehr beschäftigt war und ihm nicht ins Gehege kam. Schließlich war er gerade dabei, die Schule in Selium zu gründen.«
»Vielleicht wusste er sogar darüber Bescheid«, überlegte Alton, »aber er schwieg sich aus.« Als Estral ihn anfunkelte, fügte er hinzu: »Meine Vorfahren wussten bestimmt Bescheid, ob sie es wollten oder nicht, und sie schafften es, die Baumethode des Walls geheim zu halten. Ich glaube, sie wollten nicht, dass sich solche Totenmagie wiederholt, und vielleicht dachte Gerlrand genauso.«
Die Wut verschwand aus Estrals Gesicht so schnell, wie sie gekommen war. »Ich glaube nicht, das Gerlrand ein solches Geheimnis hätte für sich behalten können. Das ist nicht unsere Art.«
Sie ritten schweigend weiter, und Alton spürte, dass seine Worte sie beunruhigt hatten und dass sie nun nicht mehr ganz so sicher war.
»Also, wie kann ich Eurer Meinung nach dabei helfen, den Wall zu retten?«, fragte sie. »Ihr habt doch nicht etwa vor, mich ihm zu opfern, oder?«
»Dazu bräuchte ich mehr Opfer als Euch«, antwortete Alton.
»Ich weiß nicht, ob ich deshalb erleichtert oder beleidigt sein soll.«
Obwohl sie bei den Worten gelächelt hatte, entschied Alton, es sei besser, nicht direkt darauf zu antworten, um keine weiteren Dispute mit Karigans Freundin zu riskieren, aber er konnte dennoch nicht umhin, seinerseits zu lächeln. »Es geht um einen Takt Musik«, sagte er. »Mitten in Theanduris’ Geschwafel darüber, wie klug er war, zeichnete er einen Takt Musik auf. Es gibt keine Erklärung, was es ist oder warum es da ist.«
»Und Ihr glaubt, dass dieser Musiktakt dem Wall helfen wird?«
Alton zuckte die Achseln. »Wer weiß? Vielleicht hatte Theanduris vor, ein großes musikalisches Werk zu seinen eigenen Ehren zu komponieren. Aber ich glaube, es steckt mehr dahinter. Schließlich ist es ein Lied, das die Wallhüter vereint.«
Estral spielte mit der Mähne ihres Pferdes, während sie weiterritt. »Das ist eine interessante Kombination«, sagte sie. »Blut und ein Lied, um den Wall stark zu machen.«
»Und gute Handwerksarbeit.« Alton konnte es nicht lassen, das hinzuzufügen. »Auf jeden Fall dachte ich, Ihr könntet Euch vielleicht diese Noten anschauen und sehen, was Ihr davon haltet.«
Alton musste sich schwer beherrschen, nicht beide Pferde zum Galopp anzutreiben. Er tat es nicht, weil Estral damit zufrieden schien, in einer langsamen Gangart gedankenvoll weiterzureiten. Er verfiel seinerseits in Grübeleien, die zwar mit dem Wall begannen, aber bald zu der Frage führten, wie viel er von Estral über Karigan erfahren konnte. Seltsamerweise gab es einige grundsätzliche Dinge, die er nicht über sie wusste. Was, zum Beispiel, war ihre Lieblingsfarbe? Das war schwer zu erraten, da alles, was die Reiter trugen, grün war. Anscheinend hatte ständig irgendetwas die kleinen Einzelheiten verdrängt – Botenritte, Schlachten, der Wall. Nicht zuletzt Altons schlechtes Verhalten …
Er würde Estral gegenüber das Thema Karigan mit Vorsicht anschneiden müssen. Die Bänkelsängergesellin, erkannte er, war klug und würde ihre Freundin beschützen, egal wie unschuldig seine Fragen waren.
Schließlich erreichten sie das Hauptlager an der Bresche. Alton lenkte Nachtfalke nach Osten, um zum Turmlager zu reiten, aber jemand rief nach ihm. Es war Leese, die oberste Heilerin. Als sie sich näherte, fiel ihm auf, wie ausgemergelt sie aussah; sie hatte Ringe unter den Augen, und ihre Schultern sackten nach unten. Er hatte das unbehagliche Gefühl, dass sie keine gute Nachricht brachte.
»Mein Herr«, sagte sie und blieb vor ihnen stehen, »ich dachte, Ihr sollt wissen, dass Gefreiter Tomsen nicht überlebt hat.«
Tomsen. Der Mann, der während des Angriffs gestern Nacht verletzt worden war. Alton senkte den Kopf.
»Er hatte zu viel Blut verloren«, fuhr Leese fort. »Und das, was von ihm übrig war, hat der Biss dieser Kreatur vergiftet. Wir haben die ganze Nacht durchgearbeitet, um ihn zu retten, aber es war vergeblich.«
»Sie haben getan, was Sie konnten«, sagte Alton.
Die Heilerin nickte. »Ich fürchte, unsere Künste reichen gegen die Gefahren, die der Wald birgt, nicht aus.«
Bevor Alton etwas erwidern konnte, drehte sich Leese um und ging langsam ins Lager zurück, das Ebenbild einer Niederlage. Er sah Estral Andovian an und fragte sich, ob seine Entscheidung, sie zurückzuholen, richtig gewesen war.
»Wagt es ja nicht, Eure Meinung zu ändern«, sagte sie, als könnte sie seine Gedanken lesen. »Ich nehme das Risiko aus freien Stücken auf mich.«
Alton fragte sich, ob ihr Vater und Karigan das auch so sehen würden, falls ihr etwas Schlimmes zustieß. Er schüttelte den Kopf und trieb Nachtfalke sanft vorwärts, und Estral folgte.
Alton verließ den Turm mit der einen Seite des Manuskripts, die die Musiknoten enthielt. Als er sie Estral gab, studierte sie sie einige Augenblicke lang sehr intensiv.
»Die Notenschrift ist sehr altmodisch«, sagte sie, »aber das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, wann Theanduris gelebt hat. Der Kopist scheint eine sehr getreue Übertragung des Originals angefertigt zu haben. Und falls das stimmt …« Sie fiel in Schweigen.
»Falls das stimmt, was dann?«, drängte Alton
»Falls das stimmt, wurde der Originaltakt der Musik von Gerlrand geschrieben. Ich würde seine Handschrift überall erkennen.« Sie runzelte die Stirn.
Alton hielt es für unangebracht zu erwähnen, dass er ihr das ja gleich gesagt hatte, und hielt den Mund.
»Fünf einfache Töne«, murmelte sie. Dann summte sie fast unhörbar.
Die kurze Melodie enthielt nichts Außergewöhnliches, soweit Alton das erkennen konnte, aber Estrals Stimme klang fast, als würde sie in einen Luftstrom gehüllt gen Himmel getragen.
Sie summte die Melodie erneut, diesmal lauter, und nun gab es eine minimale Schwingung – keine hörbare Resonanz, aber Alton spürte ein Prickeln im Nacken. Vielleicht lag es nur an der Süße ihrer Stimme.
»Es hört sich nicht besonders spannend an«, sagte Estral. »Ich verstehe nicht, was es mit dem Wall zu tun haben soll. Und Ihr?«
»Ich weiß es nicht.«
»Es fühlt sich unvollendet an«, überlegte Estral, »als würde die letzte Note eine Antwort erwarten.«
Antworten, dachte Alton. Immer brauchen wir Antworten, und immer bekommen wir stattdessen nur Fragen.
»Wenn es Euch nichts ausmacht«, fuhr Estral fort, »möchte ich es behalten und damit herumspielen. Vielleicht bewirkt es nichts am Wall, aber auch als ein Artefakt von Gerlrand ist es interessant.«
»Es wäre mir lieber, Ihr würdet eine Kopie machen und mir dieses zurückgeben.«
»Natürlich.« Estral eilte davon, vermutlich zu Dales Zelt, um das sofort zu tun.
Alton blieb mit dem Gesicht zum Wall stehen und überlegte, ob er die Resonanz, die er gespürt hatte, hätte erwähnen sollen. Sie war so subtil gewesen, dass er sie fast nicht wahrgenommen hätte. Vorerst würde er es verschweigen und abwarten, ob Estral mehr entdeckte, wenn sie die Musik untersuchte. Er wollte nicht zu viel erwarten, da er immer und immer wieder enttäuscht worden war. Allerdings konnte er nicht umhin, sich zu fragen, warum Theanduris Musik in seine Schriften hätte einfügen sollen, wenn sie nicht wichtig gewesen wäre. Der große Magier war von seiner eigenen Klugheit sehr überzeugt gewesen, und Alton zweifelte nicht daran, dass es ihm Spaß gemacht hatte, jeden zu verwirren, der versuchte, sein Rätsel zu lösen.
Ob seine und Theanduris’ Vorfahren je auf den Gedanken gekommen waren, dass ihr großartiger Wall eines Tages zerstört werden würde? Wussten sie, dass die Bedrohung durch Mornhavon so viele Jahrhunderte überstehen würde?
Alton nahm an, dass sie es gewusst haben mussten, und dass sie sich darauf vorbereitet hatten, so gut sie konnten, indem sie Wächter am Wall stationierten und für ständige Patrouillen sorgten. Womit sie nicht gerechnet hatten, waren die Schwäche des menschlichen Gedächtnisses sowie die menschlichen Bedürfnisse und Prioritäten. Eine Zeit war gekommen, in der andere Prioritäten wichtiger erschienen waren als die Aufrechterhaltung des Walls. Die Wächter verschwanden, die Turmmagier schliefen, und der Wall wurde sich selbst überlassen, unbewacht und ohne Wartung.
Was sie nun brauchten, war eine permanente Lösung. Trotz allen handwerklichen Könnens, trotz aller Magie hatte sich der Wall als verwundbar erwiesen. Fast fühlte sich dieser Gedanke wie ein Verrat an Altons Vorfahren an, aber allmählich begriff er, dass der Wall nicht die endgültige Lösung war. Karigan hatte Mornhavon in die Gegenwart gebracht, und ebenso diente auch der Wall ihnen nur dazu, Zeit zu gewinnen. Er vermutete, dass König Zacharias vor einer Weile zu dem gleichen Schluss gekommen war und deshalb Sacorider zusammen mit den Eletern in den Schwarzschleierwald schicken wollte.
Als Alton den Brief des Königs mit der Information über die Expedition gelesen hatte, war er zuerst der Meinung gewesen, dass dabei nur sinnlos Menschenleben vergeudet würden. Er selbst hatte den Schwarzschleier nur mit knapper Not überlebt und lange gebraucht, um sich von seinen Erlebnissen dort zu erholen. Doch dank dieser neuen Einsicht erkannte er nun, wie wichtig die Expedition war, denn sie war Teil der Suche nach einer dauerhaften Lösung des Problems, das Mornhavon der Schwarze darstellte.
Aber obwohl er dies nun wusste, war Altons Drang, den Wall zu reparieren, nicht geringer geworden. Wenn er ihn wieder instand setzte, sodass er weitere tausend Jahre intakt blieb, war sein Volk vielleicht geschützt und hatte Zeit, eine Möglichkeit zu finden, um Mornhavon ein für allemal zu besiegen.
Alton konnte nur seinen Teil dazu beitragen.
Er seufzte. Langeweile brauchte er jedenfalls nicht zu befürchten, da er nun außer den Geheimnissen des Walls, die er lösen musste, auch noch eine Bänkelsängergesellin beaufsichtigen musste.