HAURRIS

e9783641094324_i0075.jpgZurück im Himmelsturm, legte Alton Merdigens Tempesstein vorsichtig wieder auf seinen Sockel. Augenblicklich materialisierte sich der Magier neben ihm.

»Ah«, sagte Merdigen, »wie angenehm, wieder zu Hause zu sein, und noch dazu unversehrt.« Er schlenderte herum, schwang die Arme und reckte sich.

Merdigen mochte unversehrt geblieben sein, aber Alton war während seiner Begegnung mit dem Wesen im Erdturm übel zugerichtet worden. Irgendwie hatte das Wesen seine Abschirmung durchdrungen und auf seiner Brust die Striemen seiner Krallen hinterlassen; sein ganzer Körper fühlte sich von dem Gerangel zerschlagen und wund an. Estrals Fürsorge und Anteilnahme hatten ihn eine Weile von seinen Verletzungen abgelenkt, aber nun tat ihm alles weh.

»Möchten Sie, dass ich Haurris’ Stein heraushole?«, fragte er.

Merdigen antwortete nicht. Er starrte zum Dach des Turms hinauf.

»Was ist?«, fragte Alton.

»Fällt Euch nicht auf, dass irgendetwas anders ist?«

Alton sah sich um. Nun, da Merdigen es erwähnte, merkte er ebenfalls, dass sich irgendetwas verändert hatte, aber er hätte nicht sagen können, was. Er blickte zu Merdigen auf. Tageslicht fiel durch das Loch über ihm herein, und auf einmal begriff er.

»Das Loch«, sagte er. »Ist es kleiner geworden?«

»Ja, ich glaube schon«, antwortete Merdigen. »Und nicht nur das. Anscheinend werden auch andere Schäden wieder heil.«

Er hatte recht. Die Turmkammer sah ordentlicher aus, der Schutt und Steinstaub, den Alton bisher liegengelassen hatte, war verschwunden, als hätte jemand sauber gemacht. Der schlimmste Schaden war jedoch noch da: die umgefallene Säule lag noch immer inmitten verschiedener Bruchstücke auf dem Boden.

»Wie ist das möglich?«, wollte Alton wissen.

»Die Hüter sind glücklicher als vorher«, antwortete Merdigen. »Sie sind wieder im Einklang miteinander und im selben Rhythmus. Wer hat ihnen das Ihrer Meinung nach ermöglicht?«

»Estral«, murmelte Alton, und in seine freudige Überraschung mischte sich ein wenig Eifersucht, weil nicht er es gewesen war, der diese Dinge bewirkt hatte. Seit so langer Zeit galt sein ganzes Bestreben der Heilung des D’Yer-Walles, und nun hatte sie das erreicht, worin er gescheitert war. Er fragte sich, ob sich ihre Musik auch auf die Schäden an der Bresche ausgewirkt hatte. Er würde wieder hingehen und es sich genauer ansehen müssen.

»Ihr müsst ihr sagen, sie soll weiterhin singen und das Lied der Hüter spielen«, sagte Merdigen, »dann werden die Schäden rückgängig gemacht. Die Bresche selbst kann dadurch nicht wieder geschlossen werden, aber zumindest wird das geheilt, was noch steht.«

»Und was ist mit der Melodie aus Theanduris’ Buch?«

»Daran muss sie auch arbeiten. Vielleicht kann man damit die Bresche reparieren.«

Alton war drauf und dran, augenblicklich aus dem Turm zu rennen, Estral zu packen und ihr das alles zu sagen.

»Aber trotzdem«, fuhr Merdigen fort, »selbst wenn der Wall wieder in Ordnung gebracht werden kann, gibt es noch ein Problem, das Theanduris anscheinend übersehen hat.«

Alton hielt mit wild klopfendem Herzen inne. »Das Wesen«, sagte er.

»Ja«, antwortete Merdigen. »Eleter können sich in den Türmen frei bewegen. Ich nehme an, das liegt daran, dass sie während des Langen Krieges so standhafte Verbündete waren, und sie wollten ungehindert in das Gebiet reisen können, das einst Argenthyne gewesen ist. Oder sie wollten einen Fluchtweg für die Schläfer offen lassen, falls sie irgendwann aufwachen. Oder vielleicht beides. Das sind allerdings nur Vermutungen.«

Alton fand einen Stuhl und ließ sich darauffallen. »›Hüte dich vor dem Schläfer.‹ Das hat Haurris gesagt. Dieses Wesen war doch ein eletischer Schläfer, oder? Wieso hat es sich so verwandelt?«

»Auch darüber habe ich nur Mutmaßungen. Ich kann Euch sagen, dass die Schläfer Eleter sind, die in ihrem unendlichen Leben eine Ruhepause einlegen. Sie werden zu einem Teil des Waldes, zu einem Teil eines Hains, den andere, die wach geblieben sind, hegen und pflegen. Ich kann nur vermuten, dass der Einfluss des Schwarzschleierwaldes in den Hain eingedrungen ist und diesen Schläfer aus Argenthyne korrumpiert hat.«

»Wie viele gibt es?«, fragte Alton, dessen Herz wieder zu rasen begann. »Es muss mehr als einen geben. Wie viele gibt es noch, glauben Sie?«

Merdigen zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Hunderte, Tausende. Der größte Hain befand sich wohl am Schloss Argenthyne.«

»Oh ihr Götter«, sagte Alton erschüttert. Vor seinem inneren Auge sah er Tausende korrumpierter Schläfer, die sich auf den Himmelsturm stürzten. »Eine Armee dieser Wesen könnte einfach durch die Türme hindurchgehen …«

»Wir wissen nicht, ob sie alle korrumpiert worden sind wie der in Haurris’ Turm, und ob man sie überhaupt alle wecken könnte. Wir wollen mal sehen, ob wir von Haurris noch etwas erfahren können.«

Mit einem unguten Vorgefühl kehrte Alton in die Mitte der Kammer zurück und schälte Haurris’ Tempesstein behutsam aus seiner Satteltasche und der schützenden Decke. Als das Wesen ihn ihm aus der Hand geschlagen hatte, war der Stein angeschlagen worden und hatte Risse bekommen. Die Turmalinfarbe war nach wie vor stumpf, tot.

Alton formte aus der Decke neben dem Sockel ein Nest und legte den Stein hinein. Anfangs erschien Haurris nicht, erst nach ein paar bangen Momenten materialisierte sich seine bleiche Gestalt, doch sein Abbild war verzerrt und zersplittert.

»Hüte dich vor dem Schläfer«, intonierte er.

»Haurris«, sagte Merdigen, der vor ihm stand, »Haurris, hörst du mich? Siehst du mich?«

»Wo bin ich?«

»Im Himmelsturm«, antwortete Merdigen.

»Ich bin vorbei, ich bin vorbei …«

»Sieh mich an, Haurris, ich bin’s, Merdigen.«

»Brücken. Ich habe Brücken zerstört. Es tut mir leid. Ich habe den Turm gestärkt, zum Schutz …« Haurris sprach nicht direkt zu Merdigen, sondern schien sich am äußersten Rand der Wahrnehmung zu bewegen, wie ein Gespenst.

»Du hast es gut gemacht, Haurris«, sagte Merdigen. »Der Schläfer ist tot.«

»Schläfer … Schläfer …«

»Wie ist er in deinen Turm gekommen?«

»Sie hat mich gebeten.«

»Wer ist sie?«, fragte Merdigen eindringlich.

»Sie brauchten Hilfe. Sie hat mich gebeten …«

»Haurris«, sagte Merdigen einschmeichelnd. »Wer war das? Worum hat sie dich gebeten?«

Haurris’ Umriss verschwamm und wurde dann wieder deutlicher. »Sie brauchten Hilfe. Die Königin, sie hat mich gebeten.«

»Die Königin?«, mischte sich Alton ein. »Welche Königin?«

Merdigen befahl ihm mit einer Geste, still zu sein, aber Haurris wandte den Kopf und starrte Alton an. Seine Augen waren dunkle Höhlen, seine Wangen eingesunken wie die einer Leiche. Seine Robe hing ihm zerfetzt und morsch von den Schultern. Sein Abbild verlosch, und es vergingen einige atemlose Augenblicke, in denen sie fürchteten, ihn endgültig verloren zu haben, doch dann erschien er wieder.

»Die Königin von Argenthyne«, sagte Haurris mit ferner Stimme.

»Laurelyn«, flüsterte Merdigen.

»Ich habe versagt. Ich …«

Haurris verschwand erneut, und diesmal verging noch mehr Zeit, bevor sein fahles Abbild wieder erschien. Es flackerte und wurde immer schwächer, wie eine sterbende Kerzenflamme.

»… den Schläfer geweckt. Habe versucht … tut mir leid. Hat mich gefunden … wollte ihn einsperren. Drinnen.«

Die Flamme, die Haurris war, erstarb. Er erschien nicht mehr, und ein Krachen dröhnte durch die Kammer. Sein Tempesstein spaltete sich in zwei Hälften, und der Turmalin wurde schwarz.

Merdigen seufzte, und seine Schultern sackten nach vorn. »Mir tut es auch leid, alter Freund.«

Alton bedeckte die beiden Hälften von Haurris’ Tempesstein mit der Decke und stand auf. »Die Königin von Argenthyne? Laurelyn? Wie hat sie denn mit ihm gesprochen?«

»Das werden wir wahrscheinlich nie herausfinden«, antwortete Merdigen. »Haurris war länger wach und körperlich als wir anderen, aber es ergibt trotzdem keinen Sinn, denn Laurelyn verschwand schon, als Mornhavon vor so langer Zeit das Schloss Argenthyne eroberte.«

»Er meinte anscheinend, sie hätte ihn bei irgendetwas, das die Schläfer betraf, um Hilfe gebeten. Er muss diesen einen Schläfer irgendwie aufgeweckt haben.«

»Aber er konnte den Turm nicht verlassen«, entgegnete Merdigen. »Keiner von uns konnte das, nicht einmal in körperlicher Form.«

»Sie haben den Turm häufig verlassen«, erinnerte Alton ihn. »Damals, als Sie auf der anderen Seite der Bresche nach den Magiern gesucht haben, oder um mit Booreemadhe und den anderen in ihren Türmen zu sprechen.«

»Aber…«

»Und ich habe Sie aus Ihrem Turm gebracht, damit Sie Haurris’ Turm aufsuchen konnten.«

Bei den letzten Worten überzog ein entsetzter Ausdruck Merdigens Gesicht. »Ja, das stimmt, aber die anderen Male davor habe ich den Turm nicht auf die übliche Weise verlassen, und mein Tempesstein ist hiergeblieben. Ich muss darüber nachdenken, was da vielleicht geschehen ist, aber nachdem Haurris fort ist, werden wir es wahrscheinlich nie genau wissen. Das Wichtigste ist, dass der Einfluss des Schwarzschleiers die Schläfer von Argenthyne korrumpiert hat, und wenn sie geweckt werden … tja, wir haben das Ergebnis ja gesehen.«

Alton schauderte, als er sich an das Wesen mit den spinnenhaften Gliedern erinnerte, das sich auf ihn gestürzt hatte.

»Sie können durch die Türme gehen, auch durch meinen Turm«, fuhr Merdigen fort, »und ich habe nicht mehr genug Magie, um sie einzusperren, wie Haurris es getan hat.«

»Karigan ist mit Yates und Lynx und den Eletern im Schwarzschleierwald«, warf Alton ein und dachte, dass diese Expedition in einer noch viel größeren Gefahr schwebte, falls auch nur ein einziges derartiges Wesen frei im Wald herumlief.

»Ja.« Merdigen strich sich den Bart. »Ich frage mich …«

»Was?«

»Ich frage mich, warum es den Eletern so wichtig war, ausgerechnet jetzt dort einzudringen. Ich hoffe, dass sie nicht planen, die Schläfer zu wecken.«

Alton fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht sackte, und selbst Merdigen sah bleich aus.

»Mein Junge«, sagte Merdigen, »wir müssen einen Weg finden, die Türme gegen sie zu befestigen.«

Pfad der Schatten reiter4
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