DROHUNGEN

e9783641094324_i0077.jpgIn der undurchdringlichen Dunkelheit schlug eine Glocke. Ihr durchdringender Klang kratzte Larens Seele wund, und sie nahm an, dies müsse die Totenglocke sein, die die Nachricht verkündete. Die Nachricht vom …

Sie war so verstrickt in die Gezeiten der Finsternis, dass sie sich zunächst an nichts erinnern konnte. Während sie sich unter ihren Decken hin und her warf, wurde der Horizont zwar etwas heller und färbte sich grau, doch dann verdunkelte er sich wieder, als sie von Pfeilen träumte, Pfeile, die den kleinen Jungen durchbohrten, den sie so liebte.

Die Glocke schlug einen letzten Ton, der in der Luft hängen blieb.

»Zacharias!« Sie setzte sich auf, vom Licht geblendet, verwirrt. Wo war sie? Dies war nicht ihr Bett.

Jemand drückte ihre Schulter mit der Hand zurück, und sie sank wieder in ihre Kissen. »Ganz ruhig, Red.«

Beim Klang von Elgins Stimme seufzte Laren und rieb sich die Augen. Auch als sie sich an das Licht gewöhnt hatte, war ihr Blick immer noch unscharf, und ihr Kopf schmerzte pochend. »Ein schrecklicher Traum«, murmelte sie. Ihr Mund war ausgetrocknet. »Ein schrecklicher Traum von Zacharias.« Sie versuchte vergeblich, nach einem Glas Wasser zu greifen, das auf ihrem Nachttisch stand. Elgin sah, was sie wollte, und half ihr beim Trinken. Als sie das Glas ausgetrunken hatte, füllte er es wieder aus einem Krug. Diesmal trank sie langsamer.

»Was ist passiert?«, fragte sie. »Wo bin ich?«

»Destarion sagte, du wärst vorgestern Abend krank geworden«, antwortete Elgin. »Du bist im Lazarettflügel.«

»Davon weiß ich gar nichts …« Ihr Kopf tat so weh, und sie fühlte sich so zerschlagen, dass sie sich nicht an die Ereignisse dieses Abends erinnern konnte. »Ich habe die Totenglocke gehört.«

»Die Totenglocke? Jetzt eben? Ach wo, das war nur die Mittagsglocke.«

»Dann war es alles ein Traum«, flüsterte sie erleichtert. »Zacharias geht es gut.«

Es entstand eine schmerzhafte Pause, bevor Elgin erneut sprach. »Ich weiß nicht, was du geträumt hast, und es war keine Totenglocke, aber dem Prinzen … dem König geht es gar nicht gut. Aber er lebt. Noch.«

»Oh ihr Götter.« Unwillkürlich liefen ihr Tränen über die Wangen, als sie die Bruchstücke ihrer Erinnerungen zusammenfügte. Der wahnsinnige Ritt mit Ben über den Kurvenweg, der Wagen, der ihnen entgegenraste und in dem Zacharias lag, von einem Pfeil durchbohrt, und Lord Coutre, der sterbend neben ihm ruhte. »Sag mir, sag mir, was mit ihm ist.«

»Nun ja«, sagte Elgin, »Ich weiß nicht viel mehr, als dass er bereits zwei Nächte überlebt hat.«

Laren schöpfte Hoffnung. Wenn Zacharias schon zwei Nächte überlebt hatte … Dann musste er sich jetzt unbedingt weiterhin an sein Leben klammern. Er musste einfach!

»Deine Reiter haben sich Sorgen um dich gemacht«, sagte Elgin leise.

Sie blinzelte ihn an und erkannte unscharf seine Gestalt auf einem Stuhl neben ihrem Bett. »Ich glaube nicht, dass ich krank war. Ich weiß es nicht.« Sie durchwühlte ihr Gehirn auf der Suche nach Erinnerungen an jenen Tag. Sie wusste noch, dass sie in Zacharias’ Gemächern gewesen war und mit Colin gesprochen hatte. Sie erinnerte sich, dass Lady Estora gekommen war, um nach Zacharias zu sehen.

»Destarion sagte, deine Krankheit sei ganz plötzlich aufgetreten. Er dachte, der Auslöser sei vielleicht die Belastung gewesen.«

Das könnte natürlich sein, dachte sie. Dennoch … allmählich konnte sie klarer sehen, und der Kopfschmerz ging zurück. Elgin war nicht mehr so verschwommen. Sie konnte sogar dunkle Schatten unter seinen Augen erkennen, und er erschien ihr ergraut, was sie bei ihm noch nie gesehen hatte.

»Es gibt noch etwas über den Zustand des Königs, das du wissen musst«, sagte er. »Er ist inzwischen verheiratet. Wir haben eine Königin.«

»Was?« Laren setzte sich kerzengerade auf, und die Welt verdunkelte sich erneut, sodass sie meinte, sie würde wieder ohnmächtig werden.

»Ganz ruhig, Red«, sagte Elgin. »Die Heiler haben mir ans Herz gelegt, dass du dich noch schonen musst.«

Seine Stimme gab ihr Halt, und sie zwinkerte die Finsternis fort. »Sie haben es also getan«, flüsterte sie, während eine Unmenge Erinnerungen gleichzeitig auf sie einstürmten: ihre hitzige Diskussion mit Colin, der Tee. »Diese Bastarde. Sie haben es getan.«

»Äh, du nennst doch wohl den König und seine neue Königin nicht …«

»Nein, ich meine Colin und die anderen. Seine Mitverschwörer. Sie haben Zacharias verheiratet. Sag, sind die Reiter schon mit dieser Nachricht ausgeritten?«

Trotz ihrer offensichtlichen Verwirrung und ihrer wilden Gefühlswallungen blieb Elgin ruhig und bedächtig und diente ihr als Anker. »Rat Dovekey gab ihnen heute Morgen den Befehl, die frohe Botschaft zu verkünden.«

Laren krallte ihre Faust in die Decke und knüllte sie zusammen. Zweifellos hatten sie Zacharias’ Verletzung verharmlost, falls diese überhaupt ein Teil der Botschaft war. Ja, natürlich hatte sie selbst getan, was sie konnte, um Zacharias’ und Estoras bevorstehende Hochzeit zu fördern, aber sie hatte nicht gewollt, dass sie unter solchen Umständen stattfand. Absolut nicht. Nicht durch Intrigen. Es gab einige Leute, die diese Intrige durchschauen würden, egal wie perfekt sie auch verbrämt war, und dann würde alles noch viel schlimmer sein.

Sie warf ihre Decke ab und schwang ihre Beine über den Bettrand. Man hatte ihr ein Nachthemd angezogen, aber zu ihrer Erleichterung sah sie ihre Uniform an einem Haken hängen. Sie sprang auf die Füße.

Das Zimmer kippte, und ihr Blickfeld wurde grau.

»Langsam, Mädchen!«, rief Elgin. »Schön langsam. Vergiss nicht, dass du dich schonen musst.«

Sie sank aufs Bett zurück und starrte Elgin zornig an. Ihre Hände zitterten. »Sie haben mich mit irgendetwas betäubt, Meister«, sagte sie. »Sie haben etwas in meinen Tee getan. Sie wollten nicht, dass ich ihren erbärmlichen Plan hintertreibe.« Sie vermutete, dass er nun wahrscheinlich dachte, sie habe Fieberfantasien und sei im Delirium. Er bewegte sich nicht und reagierte nicht auf ihre Worte, sondern rieb sich nachdenklich das Kinn, als überlegte er, ob sie bei Verstand war oder nicht.

»Nun«, sagte er schließlich. »Wer steckt alles dahinter?«

Laren schloss die Augen und sandte ein kurzes Dankgebet gen Himmel. Er glaubte ihr. Colin und die anderen legten es wahrscheinlich darauf an, dass man an ihrer Zurechnungsfähigkeit zweifelte, damit sie ihren Plan ungestört ausführen konnten. Wenn sie ihnen widersprach, konnten sie ihre Autorität untergraben, bis niemand ihr mehr glauben würde. Man würde ihre Behauptungen einfach als die Wahnvorstellungen einer Frau abtun, die verzweifelt war, weil sie jemanden verloren hatte, der ihr so nahe stand. Sie würden sagen, dass die Trauer sie überwältigt hatte und dass ihr Verstand durch die Krankheit getrübt war.

Aber sie hatten nicht mit Elgin gerechnet. Und auch nicht mit ihren Reitern. Elgin glaubte ihr. Ihre Reiter würden ihr glauben. Sie würde sehr vorsichtig sein müssen, um zu verhindern, dass die Verschwörer sie in Misskredit brachten.

»Spane«, sagte Laren. »Er hat damit angefangen, und dann war Colin auch dafür. Destarion hat etwas in meinen Tee gemischt. Und Colin sagte, dass auch Harborough dafür war und die Armee hinter ihm stand. Ich werde sie alle umbringen.«

»Die ganze Armee?«

»Du weißt doch, wen ich meine. Die Verschwörer. Sie haben sich über das Protokoll hinweggesetzt, und über das königliche Gesetz, und sie wollten nicht, dass ich die Lordstatthalter darüber informiere.«

»Ich verstehe«, antwortete Elgin. »Aber der König wollte Lady Estora sowieso heiraten, und auf diese Weise wird ein gefahrloser Übergang der Macht gewährleistet.«

»Oh Meister, bitte, nicht du auch noch.«

»Ich sage nicht, dass sie recht haben, zumindest nicht im juristischen Sinn. Ich bin sicher, dass Zacharias das eine oder andere dazu sagen wird, falls uns die Götter mit seiner Genesung segnen. Und selbstverständlich war es ein Unrecht, dass sie dich auf diese Weise außer Gefecht gesetzt haben. Aber was willst du da machen? Pah, Politik und Intrigen. Genau deshalb wollte ich nicht wieder hierherkommen.«

Larens Schultern sanken herab. »Ich glaube nicht, dass ich allzu viel tun kann, aber vielleicht gibt es eine Chance, bevor sie gekrönt wird …«

Elgin räusperte sich und sah aus dem Fenster. »Zu spät. Ist heute Morgen passiert.«

»Was? Sie haben bereits die Krönung gefeiert?«

»Jawohl. Bevor sie deine Reiter ausgesandt haben.«

»Diese Bastarde. Ich bringe sie alle um, wirklich. Wahrscheinlich bleibt mir jetzt nur noch übrig, der Königin meinen offiziellen Protest zu überbringen. Jetzt hat sie das Gesetz in der Hand.«

»Das könnte gefährlich sein«, gab Elgin zu bedenken.

»Estora war bisher immer vernünftig, aber die Menschen neigen dazu, sich zu verändern, wenn sie plötzlich mächtig werden. Trotzdem bin ich bereit, das Risiko auf mich zu nehmen.«

»Ich schlage vor, dass Sie zuerst etwas essen.« Meister Destarion erschien in der Tür und trug ein Tablett mit Speisen und Getränken. »Sie haben einige Mahlzeiten ausgelassen, und das trägt zu Ihrer Schwäche bei.«

Elgin schnupperte die feinen Düfte, die vom Tablett aufstiegen. Larens Magen knurrte.

»Ich nehme an, in den Speisen ist dasselbe, das Sie mir neulich Abend in den Tee gemischt haben«, sagte Laren giftig.

»Ich bedaure die Notwendigkeit unseres Vorgehens«, versicherte Destarion. Er stellte das Tablett auf einen Tisch. Laren war versucht, es umzuschmeißen und ihn mit den Tellern zu bewerfen, aber sie vermutete, dass sie ihm dadurch nur einen weiteren Vorwand liefern würde, sie endgültig zum Schweigen zu bringen.

»Abgesehen von den Gewürzen, die die Köche zur Geschmacksverfeinerung benutzen, ist weder Ihren Speisen noch Ihren Getränken irgendetwas beigemischt«, sagte Destarion.

Sie starrte ihn wütend an.

»Sie besitzen die Fähigkeit, die Wahrheit meiner Worte zu überprüfen«, erinnerte er sie.

Um das zu tun, tastete sie an die Stelle, an der sie normalerweise ihre Brosche trug, aber sie steckte nicht an ihrem Nachthemd. Elgin wusste, was sie wollte und brachte ihr ihre Jacke, aber offenbar waren ihre Emotionen so stark, dass sie nicht einmal die Brosche zu berühren brauchte, um ihre Antwort zu bekommen. Wahr, verkündete ihre Gabe. Destarion hatte sie wegen der Speisen und Getränke nicht belogen. Sie nahm Elgin ihre Jacke ab und berührte die Brosche, um die erste Antwort zu bestätigen.

Die Sachen auf dem Tablett stellten also keine Gefahr dar. Dieses Wissen verminderte jedoch keineswegs ihre Wut auf Destarion. So bitter es auch war, dass sie auf ihn angewiesen war, um zu erfahren, wie es um Zacharias und Ben stand – ihre Sorge um die beiden war stärker als ihre persönlichen Gefühle. »Wie geht es Zacharias?«

»Er hat Fieber. Heute ist ein schwerer Tag für ihn.«

»Und Ben?«

»Noch immer bewusstlos.«

»Er hat seine Fähigkeit überstrapaziert«, sagte Laren. »Er hätte sich umbringen können.«

»Das glauben wir auch, aber wir haben mit solchen Dingen keine Erfahrung – zumindest nicht innerhalb unserer Lebensspanne. Ich habe zwei Assistenten beauftragt, die Archive zu durchkämmen, um herauszufinden, ob in der Vergangenheit ein ähnlicher Fall auftrat, der darin verzeichnet ist.«

»Sobald sich an Bens Zustand irgendetwas ändert, werden Sie es mir sagen.« Sie formulierte es nicht als Frage, sondern als Feststellung. Sie war neugierig, was die Dokumente der Heiler wohl über die Reiter enthielten, da nur ein Bruchteil der Geschichte der Reiter die Zeitalter überdauert hatte. Sie war bisher nie auf die Idee gekommen, die Archive zu durchstöbern. »Es könnte allen Reitern helfen.«

Destarion verbeugte sich. »Selbstverständlich. Nun schlage ich vor, dass Sie etwas essen, denn unsere Königin verlangt danach, mit Ihnen zu sprechen, und es müssen Entscheidungen getroffen werden.«

»Entscheidungen?«, murmelte sie, aber Destarion war schon gegangen.

»Ich dachte, er ist einer von denen, die du umbringen wolltest«, bemerkte Elgin.

»Das war er auch. Das ist er noch. Aber erst wenn ich herausgefunden habe, was mit Ben los ist.«

 

Nachdem Laren etwas gegessen und sich angezogen hatte, hinderte niemand sie daran, den Lazarettflügel zu verlassen. Sie sah kurz nach Ben, der friedlich im Bett lag. Er sah aus, als würde er nur schlafen, aber als sie ihn rief und an der Schulter rüttelte, wachte er nicht auf.

Sie besuchte auch Sperren, der in einem sonnigen Gemeinschaftsraum auf einem Sofa lag, wo ihm ein Heilungslehrling etwas vorlas.

»Hauptmann!«, rief er. »Ich habe eine neue Hüfte, ist das nicht wundervoll?«

So wundervoll, dass Zacharias dieser Hüfte wegen in Todesgefahr schwebte und Ben das Bewusstsein nicht wiedererlangte.

»Und wir haben eine neue Königin!«, fügte Sperren hinzu. »Welch ein außergewöhnlicher Tag!«

Laren knirschte mit den Zähnen. Als sie das Zimmer verließ, raunte sie Elgin zu: »Den werde ich auch umbringen.«

»Das wird ja ein schreckliches Blutbad.«

Elgin begleitete sie den ganzen Weg bis zu den königlichen Gemächern. Es war zwar nicht nötig, aber sie war dankbar, dass er da war. Sie hatte das Gefühl, dass sich innerhalb der letzten beiden Nächte alle anderen gegen sie gewandt hatten.

Die Waffen gestatteten ihr, in die Privaträume einzutreten, und führten sie in Zacharias’ Boudoir. Dort fand sie Colin in einer Beratung mit Zacharias’ Sekretär Cummings. Als sie hereinkam, standen die beiden auf.

»Hauptmann«, sagte Colin, »ich freue mich sehr, dass Sie sich so schnell von Ihrer Krankheit erholt haben.«

»Sie wollen also bei diesem Märchen bleiben? Damit es einfacher ist, alle davon zu überzeugen, dass ich durchgedreht bin, wenn ich Schwierigkeiten mache?«

»Es tut mir so leid, Hauptmann«, antwortete Colin. »Aber es war notwendig. Wir sind bereit, die Folgen auf uns zu nehmen, falls es dazu kommen sollte.«

»Dazu wird es kommen, das schwöre ich bei Zacharias’ Hand, oder bei meiner eigenen, falls er nicht in der Lage sein sollte, etwas zu unternehmen.«

Colins Gesicht verdüsterte sich. »Ich glaube kaum, dass es uns weiterhilft, Drohungen auszusprechen.«

»Ich spreche niemals Drohungen aus, Colin. Das wissen Sie doch.«

»Womöglich befinden Sie sich in einer Position, Hauptmann, die Ihnen nichts anderes mehr erlaubt.«

»Und wer spricht jetzt Drohungen aus?«, brummte sie.

Colin hob das Kinn, antwortete aber nichts. Cummings entschuldigte sich, zweifellos, um der Spannung im Raum zu entfliehen. Elgin blieb unerschütterlich an ihrer Seite.

»Wenn Zacharias wieder gesund wird«, sagte Laren, »dann wird er Sie zur Rechenschaft ziehen, und ich freue mich schon darauf.«

»Ich bete zu den Göttern, dass er wieder gesund wird«, sagte Colin, »ganz egal, was es mich kosten mag.«

Seine Haltung war sehr demütig geworden, sogar reumütig, und es klang, als sagte er die Wahrheit, selbst ohne dass sie erst ihre Gabe befragen musste. Sie würde die Mentalität der Waffen, deren Wahlspruch Tod ist Ehre war, nie begreifen. Noch unverständlicher war ihr, dass dieser Mann, der sein ganzes Leben dem Dienst an Zacharias, Zacharias’ Vater König Amigast und seiner Großmutter Königin Isen geweiht hatte, Zacharias auf diese Weise hintergehen konnte. Aber die Waffen gehorchten geheimnisvollen Gesetzen, und obwohl dies niemals laut ausgesprochen wurde, waren sie nicht nur die Beschützer der königlichen Familie und der königlichen Toten, sondern ihre allererste Loyalität galt dem Königreich selbst, und nicht der Person, die gerade herrschte. Ob sie diese Weisung wohl dahingehend auslegten, einen Coup zu initiieren, falls es ihnen nötig erschien? Wenn Zacharias sich erholt hatte, musste sie dringend ein ernstes Gespräch mit ihm führen.

»Destarion sagte mir«, sagte Laren, »dass Lady … Königin Estora mich zu sehen wünscht.«

»Ja, Hauptmann, aber ich will Ihnen nichts verheimlichen und muss Sie warnen. Es hat Ihretwegen hitzige Diskussionen gegeben.«

»Tatsächlich.«

Colin nickte. »Es wird erwogen, Sie vom Dienst zu suspendieren, zumindest vorübergehend.«

»Was?« Es war Elgin, der die Frage laut herausschrie. Laren war nicht überrascht.

»Zu diesem delikaten Zeitpunkt«, erklärte Colin, »müssen wir alle einmütig sein, was unsere neue Königin angeht. Wir sind uns Ihrer unbedingten Loyalität nicht ganz sicher, und leider sind wir Ihnen gegenüber im Nachteil, denn wir besitzen Ihre besondere Fähigkeit nicht, um zu beurteilen, wie ehrlich Sie tatsächlich sind. Uns ist jedoch klar, dass Sie aufgrund der Eigenschaften Ihrer Brosche den Dienst weder freiwillig noch unter Zwang quittieren können. Deshalb erschien uns eine zeitweilige Dienstenthebung die beste Alternative.«

»Nach all meinen vielen Dienstjahren?«

»Das alles schmerzt mich sehr«, versicherte Colin. »Ich weiß, wie treu Sie Zacharias und dem Reich ergeben sind. All dies ist selbstverständlich nichts Persönliches.«

Selbstverständlich nicht. Es war politisches Kalkül. Laren wusste, dass es viele andere Möglichkeiten gab, sie zum Schweigen zu bringen, die wesentlich unsanfter gewesen wären als eine Dienstenthebung. Ob ihr fortgesetzter Widerstand die anderen dazu zwingen würde, härtere Maßnahmen zu ergreifen? Es würde ihnen nicht schwerfallen, alles, was sie ihr antaten, geheim zu halten. Man würde über ihren Aufenthaltsort Lügen verbreiten. Wenn jemand an ihr Interesse zeigte, würde man ihn informieren, dass sie bei der Königin in Ungnade gefallen war.

»Sie suspendieren mich vom Dienst, weil ich dem gesetzlich verankerten Protokoll folgen wollte?«, fragte sie, und ihr sanfter Tonfall machte ihre Verachtung nur noch deutlicher.

»Darüber habe ich nicht zu entscheiden«, antwortete Colin. »Die Entscheidung obliegt der Königin. Natürlich hoffen wir, dass sie Ihnen ihr Vertrauen aussprechen wird, und dass Sie das, was geschehen ist, akzeptieren werden.«

»Gute Götter«, brummte Elgin. »Es ist alles genau wie im Fall Gwyer Warhein.«

»Das war eine andere Zeit und eine andere Situation«, widersprach Colin.

Laren fragte sich, ob es wirklich so anders gewesen war. Gwyer Warhein war vor zweihundert Jahren Hauptmann der Reiter gewesen, und sein König, der paranoide Agates Seeländer, hatte ihn aufgrund des abscheuliches Verbrechens seiner Ehrlichkeit zum Schurken abgestempelt, nur weil Gwyer die Wahrheit über den König und seine Regierung gesagt hatte, die dieser nicht hatte hören wollen. Warhein war ein Ehrlichkeitsleser gewesen, genau wie Laren – sie trug seine Brosche. Sie war nach vielen Reitergenerationen zu ihr gekommen, sie hatte sie erwählt. Jetzt betastete sie sie, das glatte Gold, das sich unter ihren Fingern kühl anfühlte. Sie legte den Kopf schief und betrachtete Colin.

Sie hatte lange genug mit ihm zusammengearbeitet, um zu wissen, dass er kein Idiot war, ganz im Gegenteil, und dass er in der Geschichte des Reiches sehr bewandert war. Auch wenn er es noch so vehement abstritt, war er sich der Parallelen mit der Vergangenheit bewusst – nicht nur, weil Laren Tatsachen aussprach, die er geheim halten wollte, sondern er wusste auch, wie Warheins treue Reiter zu ihm gehalten und ihn trotz der Androhung königlicher Vergeltungsmaßnahmen ins Exil begleitet hatten. Colin und seine Mitverschwörer waren bestimmt zu dem Schluss gekommen, dass Larens Reiter sich ihr gegenüber genauso verhalten würden. Würde man sie in irgendeiner Form zum Schweigen bringen, die drastischer war als eine vorübergehende Dienstenthebung, würde der Zorn ihrer Reiter geweckt und die Verschwörer konnten es sich nicht leisten, sie zu verlieren, denn ohne sie konnten sie nicht funktionieren.

Das alles bedeutete jedoch nicht, dass die Verschwörer nicht ohne zu zögern alles tun würden, was nötig und zweckdienlich war, um sie zum Schweigen zu bringen, falls sie zu viele Schwierigkeiten machte, überlegte Laren.

Trotz der potenziellen Gefahr, in der sie schwebte, konnte sie ein Lächeln nicht unterdrücken, worauf sich die Falte zwischen Colins Augenbrauen vertiefte.

»Heute gilt Gwyer Warhein als Held«, murmelte sie vor sich hin. Er hatte nicht nur einem Tyrannen die Stirn geboten, indem er die Wahrheit sagte, sondern als der alte Agates unbeweint und ohne Erben starb und das Reich im Chaos der Klankriege versank, hatten Warhein und seine Reiter Smidhe Hillander zum Sieg verholfen und dadurch Zacharias’ Blutlinie auf den Thron gebracht, worauf zwei Jahrhunderte des Friedens und der Einigkeit folgten. Colin wusste das alles ganz genau. Er konnte nicht handeln, ohne an die historischen Konsequenzen zu denken.

Laren straffte ihre Schultern und richtete sich kerzengerade auf. Nie zuvor war sie so stolz auf ihr Reitererbe und die Brosche, die sie trug, gewesen. »Gwyer Warhein unterstützte den Hillander Klan«, sagte sie. »Und ich habe das Gleiche getan. Und das werde ich auch weiterhin tun.«

»So sei es denn«, antwortete Colin. »Wir sollten die Königin nicht warten lassen.« Er ging zur Schlafzimmertür voraus und öffnete sie für Laren, stellte sich aber Elgin in den Weg.

»Es ist schon gut«, sagte sie zu ihrem alten Freund, und dann betrat sie den Raum, um ihrer neuen Königin gegenüberzutreten.

Pfad der Schatten reiter4
titlepage.xhtml
cover.html
e9783641094324_fm01.html
e9783641094324_ata01.html
e9783641094324_toc01.html
e9783641094324_ded01.html
e9783641094324_c01.html
e9783641094324_c02.html
e9783641094324_c03.html
e9783641094324_c04.html
e9783641094324_c05.html
e9783641094324_c06.html
e9783641094324_c07.html
e9783641094324_c08.html
e9783641094324_c09.html
e9783641094324_c10.html
e9783641094324_c11.html
e9783641094324_c12.html
e9783641094324_c13.html
e9783641094324_c14.html
e9783641094324_c15.html
e9783641094324_c16.html
e9783641094324_c17.html
e9783641094324_c18.html
e9783641094324_c19.html
e9783641094324_c20.html
e9783641094324_c21.html
e9783641094324_c22.html
e9783641094324_c23.html
e9783641094324_c24.html
e9783641094324_c25.html
e9783641094324_c26.html
e9783641094324_c27.html
e9783641094324_c28.html
e9783641094324_c29.html
e9783641094324_c30.html
e9783641094324_c31.html
e9783641094324_c32.html
e9783641094324_c33.html
e9783641094324_c34.html
e9783641094324_c35.html
e9783641094324_c36.html
e9783641094324_c37.html
e9783641094324_c38.html
e9783641094324_c39.html
e9783641094324_c40.html
e9783641094324_c41.html
e9783641094324_c42.html
e9783641094324_c43.html
e9783641094324_c44.html
e9783641094324_c45.html
e9783641094324_c46.html
e9783641094324_c47.html
e9783641094324_c48.html
e9783641094324_c49.html
e9783641094324_c50.html
e9783641094324_c51.html
e9783641094324_c52.html
e9783641094324_c53.html
e9783641094324_c54.html
e9783641094324_c55.html
e9783641094324_c56.html
e9783641094324_c57.html
e9783641094324_c58.html
e9783641094324_c59.html
e9783641094324_c60.html
e9783641094324_c61.html
e9783641094324_c62.html
e9783641094324_c63.html
e9783641094324_c64.html
e9783641094324_c65.html
e9783641094324_c66.html
e9783641094324_c67.html
e9783641094324_c68.html
e9783641094324_c69.html
e9783641094324_c70.html
e9783641094324_c71.html
e9783641094324_c72.html
e9783641094324_c73.html
e9783641094324_c74.html
e9783641094324_c75.html
e9783641094324_c76.html
e9783641094324_c77.html
e9783641094324_c78.html
e9783641094324_c79.html
e9783641094324_c80.html
e9783641094324_c81.html
e9783641094324_c82.html
e9783641094324_c83.html
e9783641094324_c84.html
e9783641094324_c85.html
e9783641094324_c86.html
e9783641094324_c87.html
e9783641094324_c88.html
e9783641094324_c89.html
e9783641094324_c90.html
e9783641094324_c91.html
e9783641094324_c92.html
e9783641094324_c93.html
e9783641094324_c94.html
e9783641094324_c95.html
e9783641094324_c96.html
e9783641094324_c97.html
e9783641094324_c98.html
e9783641094324_c99.html
e9783641094324_c100.html
e9783641094324_c101.html
e9783641094324_c102.html
e9783641094324_c103.html
e9783641094324_c104.html
e9783641094324_c105.html
e9783641094324_c106.html
e9783641094324_c107.html
e9783641094324_c108.html
e9783641094324_c109.html
e9783641094324_ack01.html
e9783641094324_cop01.html