ENMORIAL
Als sie im östlichen Blatt ankamen, war der Hain nicht mehr zu übersehen. Nadelbäume erhoben sich so hoch, als wären sie ebenfalls Türme; ihre Stämme waren so dick wie kleine Häuser, ihre Äste länger als die meisten Baumstämme, die Karigan je gesehen hatte. Wurzeln schlängelten sich aus dem Boden und bildeten Bögen wie Brücken. Die Reisegefährten hatten nun das Schloss im Rücken und legten die Köpfe in den Nacken, um die Baumwipfel zu erkennen, aber genau wie die Türme verschwanden auch sie im Nebel.
»Aus dem Holz könnte man eine Menge Häuser bauen«, brummte Ard.
Trotz Karigans Erregung, diese lebendigen Riesen, in denen die Eleter ruhten, wahrhaftig vor sich zu sehen, waren die Auswirkungen des Schwarzschleierwaldes nicht zu übersehen. Die Baumstämme waren verrottet. Schwarze, bärtige Flechten baumelten von den Ästen. Einige Bäume waren umgestürzt, gewaltige, verwesende Leichen, die allmählich zu Erde wurden. Die dichten Wipfel des Haines sperrten die Dunkelheit darunter ein, und die Luft roch abgestanden.
Graelalea wollte ihren Mondstein hervorholen, aber Lynx berührte ihr Handgelenk. »Vorsichtig«, sagte er.
»Was ist los?«
Seine Stirn zog sich in Falten, als hätte er Kopfschmerzen. »Wir sind nicht allein hier. Ich spüre … dass der Wald auch andere hier wahrnimmt.«
»Können Sie feststellen, wen oder was?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nur sagen, dass sie hauptsächlich am anderen Ende des Haines sind. Aber es gibt auch Störungen, die nicht allzu weit entfernt sind.«
»Gut, bleiben Sie wachsam«, sagte sie. Hände griffen nach Waffen, um zu allem bereit zu sein, und Karigan fragte sich, wer im Namen aller Höllen außer ihnen hier im Wald war. »Ich muss den Hain im Licht sehen«, sagte Graelalea, »ob es nun gefährlich ist oder nicht.«
Zunächst wurde Karigan vom Licht des Mondsteins geblendet, das in der Dunkelheit des Hains aufloderte und die Fäulnis, die die großen Bäume ihrer Rinde beraubte, in scharfem Relief hervorhob. Wie Blut träufelte das Harz aus den Wunden der Bäume. Teilweise waren sie so knorrig und knotig, dass Karigan sich einbildete, Gesichter zu sehen, die sie angafften, genau wie in ihrer Vision der Masken vom königlichen Maskenball, der inzwischen unendlich lang zurückzuliegen schien. Zahllose Spinnwebschichten hingen zwischen den Bäumen und bewegten sich sanft in den Luftströmungen. Viele glitzernde Facettenaugen beobachteten die Gruppe aus den Schatten.
Auf den vom Licht erhellten Gesichtern der Eleter zeichneten sich Ehrfurcht und Bestürzung ab, aber Karigan fand, dass sich in Ealdaens Zügen nur Trauer spiegelte.
»Wir müssen…«, begann Graelalea, aber sie wurde von Gebrüll unterbrochen, von Geheul, Kreischen und Geschrei. Pfeile zischten in der Dunkelheit. »Zum Schloss!«, schrie sie, aber als sie sich umwandte, um die anderen wegzuführen, durchdrang ein Pfeil den Spalt ihrer Rüstung unter den Achselhöhlen, und sie fiel zu Boden.
Die Eleter reagierten schneller, als Karigans Augen ihnen zu folgen vermochten, und weiße Pfeile flogen in die Schatten. Lynx stieß Yates auf Karigan zu und hob Graelalea in seinen Armen auf.
»Erdriesen!«, schrie er. »Wir brauchen Deckung!«
»Hier entlang.« Ealdaen drehte sich hastig um und rannte auf das Schloss zu. Telagioth, Solan und Lhean ließen weiterhin ihre Pfeile fliegen.
Karigan rannte hinter Lynx her, zerrte Yates mit und schrie ihm Anweisungen zu, während die Pfeile der Erdriesen ringsum niederprasselten.
Sie mussten über einen riesigen umgestürzten Baumstamm klettern und tasteten verzweifelt nach Höhlungen, um ihre Finger und Zehen zu verankern. Es war, als müsste man im Gebirge eine Felswand überwinden. Borke zerbröselte unter Karigans Fuß, und sie wäre fast gestürzt. Neben ihr schlug ein Pfeil ins Holz. Ard schob Yates von unten hinauf, und dann waren sie oben, ließen sich auf der anderen Seite hinunter und rannten weiter. Zum Glück war der Boden relativ eben, und Karigan merkte, dass unter dem Unrat des Waldes Pflastersteine lagen. Sie rannten auf das Schloss zu und als Karigan aufblickte, sah sie breite, geschwungene Stufen, die zu einer Terrasse emporführten, und riesige, von Statuen flankierte Türflügel. Die Statuen stellten junge Eleterinnen dar, die auf den Hain deuteten, aber einer der Arme lag auf dem Boden und war schon halb in der Erde versunken. Sie rasten die Treppe hinauf und erreichten die Terrasse. Ealdaen befahl ihnen, sich hinter den Statuen zu verschanzen.
Karigan spähte hinter den Beinen der Statue hervor und sah Telagioth, Lhean und Solan noch immer auf dem umgestürzten Baumstamm hocken und sorgfältig zielen, bevor sie ihre Pfeile abschossen. Pfeile der Erdriesen flogen über sie hinweg und schlugen um sie herum ein. Offenbar war es nicht Zielsicherheit, sondern reiner Zufall gewesen, dass Graelalea getroffen worden war. Sie sah zu der Eleterin hinüber, die in Lynx’ Armen lag. Blut rann über ihre weiße Rüstung und tropfte auf den Steinboden zu ihren Füßen.
»Ohne richtige Deckung kann ich ihr nicht helfen«, knurrte Lynx.
Graelaleas flatternde Augenlider öffneten sich. An diesem dunklen Ort war ihr smaragdgrünes Funkeln fast erschreckend. »Galad …«, begann sie.
»Schsch«, zischte Lynx. »Schont Eure Kräfte.«
»Arodoa imitre!«, donnerte Ealdaen, sodass Karigan zusammenfuhr.
Er stand vor den Türflügeln und murmelte etwas, und wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie geschworen, dass er auf Eletisch fluchte.
»Sie brauchen den Mond«, sagte er ernüchtert. Er ignorierte die Pfeile, die rings um ihn herum auf die Steine prasselten, und holte seinen Mondstein hervor. Sein Licht enthüllte schimmernde, wirbelnde Abbildungen, darunter einen Baum, Sterne und den Mond, ähnlich wie auf der Monduhr, die sie in Telavalieth gesehen hatten.
»Arodoa imitre en muna!«, befahl Ealdaen.
Es folgte das hörbare Klicken eines Mechanismus, der irgendwo tief im Inneren des Portals lag, und darauf ein Ächzen, aber die Türen öffneten sich immer noch nicht.
Ealdaen bewegte sich nicht und zuckte nicht einmal zusammen, als ein Pfeil vom Rücken seiner Rüstung abprallte, sondern brach in eine weitere Flut von Worten aus, die Karigan für noch wüstere eletische Flüche hielt. Er trat sogar gegen die Türen. Und sie öffneten sich – nur einen Spalt, aber sie öffneten sich. Er, Grant und Ard warfen sich dagegen und drückten mit aller Kraft, und sie glitten gerade weit genug auseinander, dass sie eintreten konnten.
Ealdaen bedeutete ihnen mit einer Geste hineinzugehen, und Karigan hoffte, dass ihnen drinnen nicht etwas noch Schlimmeres bevorstand als das, was draußen hinter ihnen lag. Ealdaen verharrte auf der Terrasse. »Telagioth!«, brüllte er.
Als Karigan zurücksah, sprangen erst Solan und dann Lhean von dem Baumstamm hinunter und rannten zu ihnen. Augenblicke später folgte Telagioth. Als Karigan Yates ins Innere des Schlosses geführt hatte, drängten sich die drei Eleter bereits hinter ihr hinein und drückten die Tür wieder zu.
»Die Erdriesen werden von einem Zauber unterstützt«, sagte Telagioth. »Ich fühle ihn.«
Alle blieben im Eingangsbereich stehen, überwältigt von einer bleiernen Stille – kein tröpfelndes Wasser, keine kreischenden Waldwesen, nichts. Und es war nicht mehr dunkel. Durch die Wände drang ein stumpfer Schimmer, als würden sie sich im Inneren einer Eierschale befinden, dabei hatte das Schloss doch dicke Mauern, oder etwa nicht? Nein, keine Eierschale, dachte Karigan, sondern eine Muschel. Die Wände schimmerten wie Perlmutt, ähnlich wie die eletischen Rüstungen.
Der Raum, in den sie gekommen waren, bildete die unterste Kammer eines hohen Turmes, und wenn sie nach oben blickten, sahen sie bis in scheinbar unendlichen Höhen Treppen und Gänge, die sich an den Wänden entlangwanden, und Brücken, die verschiedene Stockwerke mit anderen Türmen verbanden. Die Wände waren gesäumt von Türen, die wer weiß wohin führen mochten. Die Entartung des Waldes war nicht in den Turm eingedrungen. Stattdessen hatte Karigan den Eindruck eines Ortes, der seit Langem vom Rest der Welt abgeschnitten gewesen war, verlassen und leblos, aber dennoch eine Festung, die der Finsternis standhielt.
Lynx hatte Graelalea auf eine Decke auf dem Boden gebettet, und er und Ealdaen versorgten ihre Wunde.
»Nein«, keuchte Graelalea, »ich brauche Galad …«
Yates stieß Karigan in die Seite. »Was siehst du? Was ist passiert? Wo sind wir?«
Aber sie antwortete ihm nicht. Sie verließ ihn und ging mit zögernden Schritten auf Graelalea zu, als würde sie von einem Willen dorthingezogen, der nicht ihr eigener war.
»Galad … Galadheon«, flüsterte Graelalea.
Karigan kniete sich neben die Eleterin. Blut befleckte die Decke, auf der sie lag, und sickerte aus ihren Mundwinkeln. Ihre Augen waren stumpf geworden.
»Ich bin hier«, sagte Karigan.
»Wie es prophezeit wurde«, sagte Graelalea, ihre Stimme kaum noch ein Flüstern. »Ich werde den Schwarzschleier nicht mehr verlassen.«
Ealdaen widersprach auf Eletisch.
»Nein, sei still, Ealdaen«, antwortete sie. »Die Wunde ist tödlich. Hört zu, ein Galadheon … ein Galadheon muss vollenden …« Sie hob die Hand zu ihrem Haar, und mit einer Bewegung, die sie ihre letzte Kraft zu kosten schien, zog sie eine Feder aus einem ihrer Zöpfe und gab sie Karigan. »Enmorial. Erinnern Sie sich. Sie müssen die Schwellen überqueren, Galadheon. Gehen Sie mit dem Mond.«
Graelaleas Körper sackte zusammen, und das Leben erlosch in ihren Augen. Ealdaen und die anderen Eleter stießen einen verzweifelten Schrei aus, der emporstieg und in allen Nischen des Turms widerhallte.
»Lebt wohl«, murmelte Karigan Graelalea zu, und noch während sie sie ansah, verblasste die Rüstung der Eleterin und wurde stumpf, als wäre auch sie gestorben.
Die Eleter betteten Graelaleas Leiche in die Mitte der runden Kammer und deckten sie mit ihrem graugrünen Umhang zu. Sie legten ihren Mondstein auf ihre Brust, der einen schwachen, sanften Schein aussandte, und saßen in einer schweigenden Totenwache um sie herum.
»Das bringt doch nichts«, brummte Ard, der nervös auf und ab ging. »Was sollen wir tun? Ewig hier herumstehen und auf sie warten?« Er wies mit dem Daumen auf die Eleter.
»Sie war ihre Prinzessin und Anführerin«, sagte Karigan, die mit gekreuzten Beinen auf dem Boden saß. Ihre Brust war schwer vor Kummer, aber sie konnte keine Tränen vergießen, denn ihre Gedanken kreisten wie hypnotisiert um die Feder. Sie ließ sie vor ihren Augen rotieren. Sie war so weiß, dass sie beinah leuchtete, abgesehen von den winzigen Blutstropfen: Purpurrot auf reinem Weiß. Sie erweckte irgendetwas in ihr.
»Das ist mir egal«, versetzte Ard. »Telagioth hat gesagt, dass diese Erdriesen einen Zauber besitzen, und vielleicht finden sie bald einen Weg hier herein.«
»Den Nythlingen gefällt es hier nicht«, sagte Grant. Er saß zusammengekrümmt an die Mauer gelehnt. Das bleiche Licht des Schlosses funkelte auf seinem schweißbedeckten Gesicht. »Es ist fast so weit, aber ihnen gefällt es hier nicht.«
»He«, sagte Yates, dessen Stimme im Gegensatz zu denen der anderen erregt klang. »Ich … ich glaube, ich kann beinah sehen. Nur Umrisse, hauptsächlich in Grau, aber …«
Karigan freute sich, blieb aber dennoch abgelenkt. Vielleicht erwachte nicht nur in ihr etwas, sondern auch in Yates. Das Schloss. Das Schloss hob offenbar den Einfluss des Waldes, der Yates’ Fähigkeit umgekehrt hatte, wieder auf, aber das erklärte nicht, was mit ihr geschah.
Dann verstand sie es plötzlich, denn sie begann sich zu erinnern. Die Erinnerung kam zu ihr wie eine sanfte Berührung ihrer Stirn, leicht wie eine Feder, wie sanft fallende Schneeflocken, die im silbernen Licht ihres Mondsteins glitzerten. Sie erinnerte sich, im Schnee gestanden zu haben, neben dem Schlitten ihres Vaters, und eine Gestalt aus Licht hatte ihr gesagt, dass sie in den Schwarzschleierwald reisen musste, um den Schläfern zu helfen, und dass diese zu einer tödlichen Waffe würden, falls »der Feind« sie zuerst weckte.
Die Gestalt hatte Karigan gesagt, dass sie irgendwelche Schwellen überqueren konnte – und dass sie »der Schlüssel« war. Und all dies sollte den Schläfern irgendwie helfen.
Durch die Feder der weißen Eule, die Graelalea ihr gegeben hatte, war ihre Erinnerung zwar wieder erwacht, aber sie nützte ihr nichts. Wie sollte sie den Schläfern helfen? Was bedeutete es, dass sie »der Schlüssel« war?
Sie fuhr auf, weil ein Dröhnen erklang. Die Erdriesen schlugen gegen die Türen. Eines war klar: »Der Feind« befand sich dort draußen, und sie musste herausbekommen, wie sie ihn daran hindern konnte, die Schläfer zu wecken.