AUF DEM DACH
Karigan erbleichte, aber sie sagte nichts, protestierte nicht und bat Laren auch nicht, es sich anders zu überlegen. Laren hatte keine Vorstellung davon, wie jemand reagieren sollte, der soeben erfahren hatte, dass man ihn in den Schwarzschleierwald schickte, aber mit Karigans Schweigen hatte sie nicht gerechnet.
Es war Laren wichtig gewesen, jetzt schon mit Karigan darüber zu sprechen. Die anderen Ratgeber des Königs drängten sie dazu, die Reiter, die sie in den Schwarzschleierwald abkommandieren würde, offiziell zu benennen, und sie hatte gedacht, wenn sie Karigan unter vier Augen mit der Aufgabe betraute und sie davon überzeugte, dass sie die beste Reiterin für diesen Auftrag war, würde Karigan ihre Beteiligung an der Mission vielleicht sogar selbst befürworten, und dann wäre König Zacharias weniger dazu geneigt, Einspruch zu erheben. Aber die Liebe war ein unberechenbarer, mächtiger Faktor, und vielleicht würde er trotzdem von seinem Vetorecht Gebrauch machen und Karigans Teilnahme verbieten.
Angesicht des Schweigens ihrer Reiterin blieb Laren nichts anderes übrig als weiterzureden. »Wie du sicher gehört hast, planen die Eleter eine Expedition in den Schwarzschleierwald.«
Karigan nickte.
»Der König ist entschlossen, sie nicht ohne sacoridische Begleitung ziehen zu lassen. Wir vertrauen ihnen nicht völlig, und wir haben genauso viel Interesse daran wie die Eleter festzustellen, was auf der andern Seite des Walls liegt. Der König wünscht, dass Reiter die Gruppe begleiten. Du gehörst zu meinen erfahrensten Reitern, und du bist bereits im Schwarzschleierwald gewesen und hast es überlebt.«
»Ich war damals nicht ganz bei mir …« Karigan fuhr sich mit der Hand über die Augen.
Laren wusste, dass dies eine Untertreibung war. Karigan war zuerst vom Geist Mornhavons des Schwarzen und dann von dem des Ersten Reiters besessen gewesen.
Karigan zitterte. »Er war … er wusste alles über mich.«
Mornhavon, meinte sie damit. Laren konnte sich nicht vorstellen, wie es war, wenn jemand anders die eigenen Handlungen kontrollierte und man lediglich Zuschauer im eigenen Körper war. Zu welchen Bereichen von Karigans Wesen hatte er Zugang gehabt? Was für eine schreckliche Vergewaltigung musste das gewesen sein! Laren begriff jetzt erst, was sie von Karigan verlangte. Ja, Mornhavon mochte dank Karigans Einmischung momentan aus dem Schwarzschleier vertrieben worden sein, aber was würde geschehen, wenn er wieder auftauchte, während die Gruppe der Eleter und Sacorider noch dort war?
Das spielte keine Rolle. Karigan war trotzdem am besten geeignet, und Laren war ihre Kommandantin. Sie konnte es sich nicht leisten, ihre professionelle Meinung aus persönlichen Gründen zu ändern. Karigan würde tun, wie ihr befohlen wurde. Das war ihre Pflicht.
Falls Karigan irgendwelche Zweifel hegte, sagte Laren: »Ich weiß, wir haben in der Vergangenheit viel von dir verlangt, und ich weiß von keinem Reiter, der mehr ertragen hätte als du. Wenn du mir jetzt sagst, dass ich lieber jemand anderen schicken soll, dann werde ich einen andern auswählen. Aber ehrlich gesagt fällt mir kein Reiter ein, der größere Chancen hat als du, lebend aus dem Schwarzschleierwald zurückzukehren. « Damit deutete sie an, dass jeder andere Reiter, der an Karigans Stelle ging, nicht zurückkommen würde, und dass Karigan die Schuld daran tragen würde.
Karigan blickte auf ihre Knie, als sie die Andeutung begriff. »Ich werde selbstverständlich gehen.«
Laren nickte. Ihre eigene Manipulation widerte sie an, aber dennoch hatte sie nur die Wahrheit gesagt. »Vielleicht könnt ihr dort Antworten finden, die uns helfen, sowohl mit dem Schwarzschleierwald als auch mit Mornhavon fertig zu werden. Und natürlich müssen wir auch wissen, warum die Eleter so darauf erpicht sind, den Schwarzschleierwald zu erforschen. Wir glauben, dass sie hauptsächlich von dem Wunsch getrieben sind zu erfahren, was aus Argenthyne geworden ist.«
Karigan schwieg immer noch, aber bei der Erwähnung des uralten, verlorenen Landes der Eleter sah Laren etwas in ihren Augen aufflackern, etwas Unerforschliches, das sie schon einmal darin gesehen hatte. Geheimnisse, Zeitlosigkeit. Karigan schien so fern, als hätte sie das dunkle Land bereits betreten. Und dann verschwand das Rätsel so schnell, wie es gekommen war.
»Wer sonst?«, fragte Karigan.
»Wie?«
»Sie sprachen von mehreren Reitern. Wen werden Sie außerdem schicken?«
»Ich habe noch keine endgültige Wahl getroffen.« Und das war die Wahrheit. Es war nicht leicht zu entscheiden, welche Reiter sie für eine so gefährliche Mission auswählen sollte. »Hast du irgendwelche Vorschläge?«
Karigan schüttelte den Kopf. »Wann?«
»Ihr sollt zur Tagundnachtgleiche am Wall sein. Die Eleter legen Wert darauf, dass die Tage allmählich länger als die Nächte werden, wenn sie den Wald betreten.«
Karigan starrte durch die Schießscharte nach draußen. Fahles Licht fiel über ihr Gesicht und schimmerte in ihren Haaren. Ihr Schweigen beunruhigte Laren. Es wäre leichter gewesen, wenn Karigan protestiert und geschrien und ihren Stuhl quer durchs Zimmer geschleudert hätte … irgendetwas.
»Hast du noch Fragen an mich?«, fragte Laren.
Karigan schüttelte den Kopf, und das Licht wurde von ihrem lang herabfallenden Haar zurückgeworfen.
Larens Herz war schwer, weil sie Karigans Reaktion nur als Resignation deuten konnte. »Falls dir doch noch Fragen einfallen, oder wenn du einfach nur darüber sprechen willst, dann komm zu mir.«
Dieser Versuch, irgendeine Reaktion bei Karigan hervorzurufen, schlug fehl, also entließ Laren sie. Als sich die Tür hinter Karigan geschlossen hatte, stand Laren einige Augenblicke lang still da und empfand tiefes Bedauern. Sie wusste, dass sie noch mehr zu bedauern haben würde, wenn sie endlich beschlossen hatte, welche Reiter Karigan in den Schwarzschleierwald begleiten sollten. Sie musste die Erfahrung und die magischen Fähigkeiten eines jeden Reiters berücksichtigen, um zu entscheiden, wer der Expedition am meisten nützen würde und wer die besten Überlebenschancen besaß. Sie seufzte und ging um ihren Schreibtisch herum, um ihre Arbeit fortzusetzen, aber sie stellte fest, dass sie sich nicht konzentrieren konnte.
Stattdessen beschloss sie, Zacharias aufzusuchen. Sie mussten nochmals über Karigan sprechen, da diese nun ihren Auftrag angenommen hatte. Laren verließ ihr Quartier, um Zacharias’ Sekretär Cummings zu suchen, der ihr sagen konnte, wann der König abkömmlich war. Sie war sicher, dass dies eine weitere schwierige Konfrontation bedeutete. Seit ihrem letzten Gespräch über Karigan hatte sich Zacharias ihr gegenüber entschieden kühler verhalten, und sie ahnte, dass dies ihre Beziehung nicht gerade verbessern würde.
Laut Cummings sah Zacharias’ Tagesplan für den Rest des Nachmittags nichts Besonderes vor. Das bedeutete, dass er fast überall sein und sich mit allem Möglichen beschäftigen konnte. Laren brauchte lange, um ihn aufzuspüren, und als sie ihn endlich fand, war er an einem Ort, an dem sie seit dem vergangenen Sommer nicht gewesen war. Als sie durch die schwere Tür auf das Dach der Burg hinaustrat, musste sie in der gleißenden Sonne die Augen zusammenkneifen, und sie zitterte. Im Sommer war das Dach ein angenehmer Aufenthaltsort. Aber jetzt? Sie beneidete die Soldaten nicht, die hier auch im Winter jeden Tag Wache halten mussten. Natürlich waren sie entsprechend gekleidet, aber sie trug lediglich ihren kurzen Mantel zum Schutz gegen die Kälte.
Ein Soldat grüßte sie und wies ihr den Weg zum König. Sie überquerte das Dach mit seinen vielen Wachtürmen, auf dem zu dieser Jahreszeit außerdem einige Wärmehütten errichtet worden waren. Soldaten marschierten entlang der Zinnen auf und ab, spähten über die Landschaft Sacoridiens und hielten Ausschau nach irgendetwas, das den König und sein Reich bedrohen könnte.
Auf einer Fußgängerbrücke überquerte sie eine breite Rinne, in der das Schmelzwasser des Schnees unter einer Eiskruste rauschte. Sie entdeckte Zacharias, der an einer Zinne lehnte und südwärts auf die Stadt hinunterblickte. Donal hielt einige Schritte von ihm entfernt Wache. Aus dieser Höhe erschienen Laren die Gebäude, Menschen und Tiere der Stadt wie das Spielzeug eines Prinzen.
Sie gesellte sich zu ihm und hielt sich im Windschatten einer Zinne, um sich vor dem Wind zu schützen und die Wärme der Sonne zu spüren. Zacharias trug einen pelzgefütterten Umhang, und die Kälte schien ihm nicht das Geringste auszumachen.
»Was seht Ihr?«, fragte sie ihn.
Falls ihre Ankunft ihn überraschte, zeigte er es nicht. »Ich sehe zu meinen Füßen eine geschäftige, blühende Stadt. Vorhin flog ein Gänseschwarm über meinen Kopf nach Norden, und eine Schneeeule hockte in den Bäumen.« Er hielt inne, und seine Augen schienen in weite Ferne zu blicken, als er hinzufügte: »Und vor nicht allzu langer Zeit sah ich eine Grüne Reiterin aus der Burganlage reiten. Es war Karigan.« Als wollte er beweisen, dass er sich nicht geirrt hatte, zeigte er ihr sein Fernglas.
Nach der Ungeheuerlichkeit dessen, was Laren Karigan gerade mitgeteilt hatte, war sie nicht überrascht, dass die jung Frau ausgeritten war. Die meisten Reiter fanden bei ihren Pferden Trost. Laren selbst hatte ihren Sperling auch oft aufgesucht, wenn sie dringend Trost brauchte.
Zacharias hatte Laren soeben die Gelegenheit gegeben, das leidige Thema anzuschneiden. »Da wir gerade von Karigan sprechen«, sagte sie. »Ich dachte, Ihr sollt wissen, dass sie den Auftrag angenommen hat, in den Schwarzschleierwald zu gehen.«
Laren dachte, es wäre der Wahrheit vielleicht näher gekommen, wenn sie gesagt hätte, dass sie Karigan dahingehend manipuliert hatte, die Mission zu akzeptieren, aber ein anderer Teil von ihr glaubte aufrichtig daran, dass sich Karigan freiwillig gemeldet hätte, wenn sie die Wahl gehabt hätte. So etwas lag in ihrer Natur, sie wollte immer die Verantwortung für die großen Probleme übernehmen. Andererseits versuchte Laren vielleicht lediglich, ihre Handlungen sich selbst gegenüber zu rechtfertigen.
Zacharias explodierte nicht und verurteilte sie auch nicht. Er blickte einfach weiter über die Stadt. Schon als Knabe war er ernst gewesen und hatte gelernt, seine Gemütsbewegungen zu zügeln. Er wurde von allen Seiten und Fraktionen ständig beobachtet, und wenn er seine wahren Gefühle geäußert hätte, wäre seine Autorität untergraben worden und er hätte seinen politischen Feinden eine Blöße gegeben. Ab und zu drangen seine Gefühle an die Oberfläche, wie während ihres letzten Gesprächs über Karigan, aber das geschah äußerst selten.
Wann, fragte sich Laren, hatte er jemals die Möglichkeit gehabt, seinen Leidenschaften nachzugeben und sich so zu zeigen, wie er war? Wie konnte er das alles in seinem Inneren verschlossen halten? Waffenübungen und gelegentliche Jagdausflüge aufs Land halfen ihm sicherlich, aber bestimmt genügte das nicht.
Wann hatte er zuletzt eine Frau gehabt, mit der er seine männlichen Bedürfnisse befriedigen konnte? In der Stadt gab es elegante Kurtisanen, die solche Dienste anboten und von den Adligen, die ihre Dienste in Anspruch nahmen, auch akzeptiert wurden. Ein solches Ventil hätte ihm in vielerlei Hinsicht helfen können, nicht zuletzt dabei, seine Gedanken von Karigan abzulenken. Ja, sie würde auf jeden Fall ein paar diskrete Erkundigungen einziehen.
»Ich wusste«, sagte Zacharias, »dass sie sich nicht weigern würde. Das entspräche nicht ihrer Natur.«
»Werdet Ihr intervenieren?«
Lange Zeit antwortete er nicht. Die Brise zerzauste sein Haar, und Laren wartete angespannt.
»Ich weiß, aus welchen Gründen Sie sie ausgewählt haben«, sagte er schließlich, »und ich verstehe sie. Ja, ich verstehe alle Gründe. Wenn ich meinen Kopf und mein Herz voneinander trenne, verstehe ich es. Mein Herz will das jedoch nicht akzeptieren.« Er rieb sich das Kinn, den Blick auf die Wolken gerichtet. »Aber ich bin König und muss mehr mit dem Kopf als mit dem Herzen regieren.«
Larens Schultern entspannten sich vor Erleichterung. »Ich dachte mir, dass Ihr es letzten Endes einsehen würdet.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte er. »Ich werde nicht eingreifen, aber es gefällt mir nicht.«
»Natürlich nicht. Mir gefällt es auch nicht, überhaupt irgendeinen meiner Reiter ausschicken zu müssen.«
»Dann nehme ich an«, antwortete er scharf, »dass ich mir selbst die Schuld geben muss, wenn Karigan in den Schwarzschleier geht. Letzten Endes habe ich die Entscheidung getroffen, dass Reiter an der Expedition teilnehmen sollen.«
Laren wagte nichts zu erwidern. Es gab keine gute Antwort darauf.
»Sie tadeln mich mit Ihrem Schweigen.«
»Aber nein. Ich …«
»Es ist wahr«, unterbrach er, »dass alles auf mich zurückfällt. Die Gefahren, die unser Land bedrohen, werden immer größer, mit Birch im Norden und der Ungewissheit im Süden, und ich weiß, dass viele schwierige Entscheidungen vor mir liegen und diese Entscheidungen viele Opfer verlangen werden, auch unter denen, die mir lieb und teuer sind.«
Laren seufzte. Wie hatte sie je an ihm zweifeln können?
»Es gibt Zeiten«, fuhr er fort, »in denen ich mich frage, wie mein Leben gewesen wäre, wenn ich als Sohn eines Fischers oder Bauern statt als König geboren worden wäre.«
»Sacoridien wäre dadurch ärmer gewesen«, antwortete Laren.
»Das können wir unmöglich wissen. Aber ich glaube, es hätte mir gefallen, Bauer zu sein. Ich glaube, ich hätte einen guten Bauern abgegeben.«
Es fiel Laren nicht schwer, ihn sich auf einem Salzwasserhof in Hillander vorzustellen, wie er Ernten einbrachte und Vieh züchtete. Vielleicht fand er die Idee nicht nur deshalb verlockend, weil dies ihm die wichtigen Entscheidungen erspart hätte, die er fällen musste, um das Reich zu retten, sondern auch, weil er dann mit der Frau seiner Wahl hätte zusammen sein können.
»Ihr seid ein guter König«, sagte Laren fest. »Wir brauchen Euch.«
»Vielleicht wird der Tag kommen, an dem Sacoridien überhaupt keine Könige und Königinnen mehr brauchen wird.«
»Wie? Das ist Unsinn! Das ist eine Rhetorik, die direkt aus den Mündern dieser verrückten Antimonarchisten stammt, die früher Flugblätter vor den Burgtoren verteilt haben. Was hätten wir denn ohne unseren Monarchen? Chaos, nichts anderes.«
»Nicht Chaos, sondern irgendein anderes Regierungssystem. Unser gegenwärtiges System funktioniert, solange wir, wie Sie sagen, einen guten König haben, aber was ist mit den anderen, die mir folgen werden? Die Geschichte hat uns gelehrt, dass der Thron oft Tyrannei bedeutet.«
Laren sah Zacharias intensiv an. Er war immer ein tiefgründiger Denker gewesen, aber noch nie zuvor hatte sie diese radikalen Gedanken von ihm gehört. Er war sich immer seines Platzes und seiner Rolle in der Monarchie sicher gewesen. Sie hoffte, dass niemand anders ihn so reden hörte.
Das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war, dass er ein vorzüglicher König war, dem das Wohl seines Landes wichtiger war als sein eigenes. Angesichts der ernsten Gefahr, die das Land nun bedrohte, brauchten sie ihn mehr denn je.