RITUS UND ERWACHEN
Natürlich waren die fünf Zeugen, darunter auch Richmont, alles Männer, falls sie die Größen und Körperformen, die unter Kapuzen und Umhängen verborgen waren, richtig einschätzte. Sie setzten sich in eine Sesselreihe am Fußende des Bettes.
Zacharias lag da und hatte keine Ahnung, was um ihn herum alles geschah.
»Wir geht es ihm?«, fragte sie Destarion.
»Ziemlich unverändert, aber das ist positiver, als es klingt. Er ist nicht schwächer geworden, seine Wunde eitert nicht und heilt weiterhin gut, und vielleicht werden wir bald eine Besserung erleben. Ich glaube, dass er sich vor allem aufgrund des Gifts noch nicht wieder erholt hat. Es war zwar keine große Dosis, aber dennoch sehr schädlich.«
Estora nickte. »Danke.«
Nun trat Destarion näher und senkte seine Stimme. »Herrin, möglicherweise wird Eure Anwesenheit heute Nacht ihm sogar Erleichterung verschaffen. Falls er reagiert, sollten Sie keine Angst davor haben, seine Bedürfnisse zu erfüllen. Ich habe ihm sogar einen Trank gegeben, der seine … körperlichen Reaktionen stimulieren könnte. Ich kann jedoch nicht voraussehen, ob dieser anregende Trank auch sein Bewusstsein beeinflussen wird.« Damit verneigte Destarion sich und ersuchte sie, ihn zu entschuldigen.
Die Waffe Ellen kam zu ihr und sagte: »Ich werde direkt vor der Tür Wache stehen, Herrin. Falls Ihr irgendetwas benötigt, braucht Ihr mich nur zu rufen.«
»Danke«, antwortete Estora. Ellen verbeugte sich erneut und verließ sie. Estora wünschte, sie hätte ihr aus dem Zimmer folgen können. Stattdessen beobachteten die Zeugen sie gespannt, und ihre Zofe wartete neugierig. Estora betrachtete einen der Männer in der Mitte mit zusammengekniffenen Augen, denn sie meinte, in ihm den Priester zu erkennen, der die Hochzeitszeremonie durchgeführt hatte. Die Mondpriester lebten im Zölibat, aber wahrscheinlich ergriffen sie jede sich bietende Gelegenheit, einen Blick auf das ihnen Verbotene zu erhaschen.
Ihre Zofe half ihr dabei, ihr Abendgewand abzulegen und dann, wie der Ritus es vorschrieb, auch ihr Nachthemd und die Unterwäsche. Sie hätte hastig unter die Decken huschen können, um ihre Nacktheit zu verbergen, wie es einer keuschen jungen Frau geziemte, aber sie war zu wütend. Wütend über Richmonts Drohungen, wütend über diese absurde Tradition. Statt sich zu verstecken, stellte sie sich vor die Zeugen hin, damit sie sie genau betrachten konnten.
»Deshalb sind Sie doch hier, oder?«, fragte sie sie. »Um Ihre Königin in ihrem verletzlichsten Zustand zu sehen? Gefällt Ihnen der Anblick?«
»Herrin, bitte…« Mit Sicherheit der Priester. Er sah weg, aber nicht lange.
Sie entschied sich, dass es nichts gab, wofür sie sich schämen musste. Sie wusste, dass viele Männer ihren Körper begehrten. Diese fünf mussten sich äußerst privilegiert vorkommen. Würden sie vor ihren Freunden damit angeben? Vor ihren Priesterkollegen? Würden sie ausschmücken, was sie gesehen hatten? Sollten sie ruhig glotzen. F’ryan hatte ihren Körper schön gefunden, und es gab ihr ein Gefühl der Macht, diese Männer zu zwingen, sie anzustarren.
Andererseits war es jedoch sehr kalt. Als sie das Gefühl hatte, ihnen genug gezeigt zu haben, kletterte sie neben Zacharias ins Bett und ihre Zofe half ihr, die Decken ordentlich auszubreiten. »Ich bin draußen vor der Tür, falls Ihr mich braucht, Herrin.«
»Danke, Jaid.«
Jaid machte einen Hofknicks, dämpfte das Licht der Nachttischlampe zu einem sanften Glühen und ging, wobei sie Estoras Kleider mitnahm. Es war ein Teil des Rituals, ihr keinen Zugriff auf ihre Kleider zu gestatten, angeblich, damit sie das Schlafgemach nicht verlassen konnte.
Richmont stand auf, kam um das Bett herum und reichte ihr ein Glas Wein. »Euer Hochzeitsbecher«, sagte er. »Trinkt ihn aus.«
Stirnrunzelnd nahm sie ihm das Glas ab. Ein weiterer Teil des Rituals. Häufig war der Wein mit einem Aphrodisiakum vermischt, oder mit Kräutern, die die Fruchtbarkeit fördern sollten. Sie nahm an, dass man Zacharias seinen rituellen Wein in Form von Medizin verabreicht hatte. Sie seufzte und trank. Falls der Wein irgendwelche Drogen enthielt, war die Mischung sehr subtil. Richmont blieb bei ihr stehen, bis sie den Becher geleert hatte, und nahm ihn ihr dann wieder ab.
Sie sank auf die Matratze und starrte auf die dunkle Zimmerdecke über ihr. Zumindest war das Licht so schwach, dass die Zeugen nur sehr wenige Einzelheiten wahrnehmen würden, falls es überhaupt etwas für sie zu sehen gab. Allmählich entspannte sich ihr Körper, sie fühlte sich sehr gelöst, nahm aber dennoch die verschiedenen Materialien, die ihre Haut berührten, genau wahr. Sie spürte, wie die Bewegungen der Bettlaken ihre Nervenenden in Schwingungen versetzten. Die Eindrücke erregten ihren Körper, und sie fragte sich, wie sie wohl auf Zacharias’ Berührung reagieren würde. Ja, der Wein war eindeutig mit Drogen versetzt gewesen.
Zacharias lag als warme, bewegungslose Präsenz neben ihr. Sie streckte ihre Hand aus und strich mit den Fingerspitzen über seinen Arm, und dieser einfache Hautkontakt erfüllte sie mit so intensiven, erotischen Gefühlen, dass sie beinah aufgeschrien hätte. Danach berührte sie ihn nicht mehr. Sie würde nicht zulassen, dass sie zum Ergötzen der Zeugen die Beherrschung verlor, und bisher deutete nichts darauf hin, dass Zacharias in der Lage war, auf sie zu reagieren. Sie blieb still liegen und hoffte, sie würde einschlafen, aber unter diesen Umständen war das schwierig, und die Entlarvung ihres Vetters machte sie wütend.
Schließlich nickte sie doch ein und träumte irgendetwas von ihrem Vater, der an der Reling eines Schiffes stand und versuchte, durch eine Nebelbank zu spähen.
»Pfeile«, sagte er.
Ja, ein Pfeil hatte ihn getötet. Sie tauchte wieder ins Wachbewusstsein auf, Tränen brannten auf ihren Wangen, und sie war zunächst ganz verwirrt. Dies war weder ihr altes Bett noch das neue Bett in den Gemächern der Königin. Sie zwinkerte im Dunkeln und sah dorthin, wo die Zeugen sitzen mussten, aber in dem schummrigen Licht konnte sie ihre Umrisse nicht ausmachen. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber wahrscheinlich war es ihnen zu langweilig geworden, Leute beim Schlafen zu beobachten, und sie waren in ihre eigenen Betten gegangen.
»Pfeile«, murmelte Zacharias.
Verblüfft wandte Estora ihm ihr Gesicht zu. Anscheinend war er es gewesen, der sie geweckt hatte. Seine Augen waren geöffnet und wach. »Zacharias?«, flüsterte sie. Sie streichelte seine feuchte Wange und bei jeder Berührung seiner Haut durchliefen Schauer ihren Körper. Die Droge, die man ihr verabreicht hatte, wirkte immer noch.
»Pfeile«, sagte er wieder und sah sie an.
Sie hätte Ellen rufen sollen, um Meister Destarion zu informieren, aber Destarion hatte ja gesagt, dass Zacharias möglicherweise aufwachen würde und dass das nicht schlimm sei.
Stattdessen sagte sie: »Ja, es war ein Pfeil, der Euch verwundet hat.«
Ein Muskel in seiner Wange zuckte. »Nein … Schlacht. Die Pfeile …« Er sah sie an, und das schwache Licht schimmerte in seinen vom Fieber glänzenden Augen.
»Was für eine Schlacht, Zacharias?«
»Ich … ich weiß nicht. War sie schon?«
»Es gab keine Schlacht.«
Er begann sich aufzusetzen, aber sie befürchtete, dass er versuchen würde, das Bett zu verlassen und aufzustehen, und ihrer Meinung nach war er dazu zu schwach. Sie drückte seine Schulter hinunter in die Kissen. Er entspannte sich, aber sie stellte fest, dass sie das nicht konnte, und dass sie ihre Hand nicht von seiner Schulter nehmen wollte, sondern stattdessen über seine kräftige Brust strich und über die Konturen seines Bauchs; seine Muskeln zuckten unter ihrer Berührung. Die verschiedenen Strukturen seiner Haut, jede Höhlung und Erhebung in der Landschaft seines Körpers, steigerten ihr Verlangen.
Als er darauf reagierte und sie ebenfalls zärtlich berührte, überrollte sie ihre verzweifelte Bedürftigkeit wie eine glühende Welle. Sie spürte, dass die gleiche Welle ihn erfasste.
»Liebst du mich?«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Sie war verblüfft und brauchte einen Moment, um zu antworten. »Ja. Ich glaube schon. Ja.«
Er schob sich über sie. »Gut. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.«
Bei der samtenen Berührung von Zacharias’ Lippen auf ihrer Kehle meinte Estora, sie sei diejenige, die im Delirium lag, aber diese Berührungen und Empfindungen waren real und gegenwärtig, und sie wurde gierig und ungeduldig und wollte mehr. Sie wollte alles, und er bewies ihr, dass er genauso begierig darauf war, ihr das zu geben, was sie brauchte. Sein Mund erforschte ihre Haut, ihre Brüste, die intimen Teile ihres Körpers. Sie reagierte mit wilder Entschlossenheit, setzte sich auf ihn, schamlos und fordernd, und mit einem Schrei der Triumphes nahm sie ihn in sich auf.
Nichts konnte die Reise aufhalten, auf der sie sich befanden, und trotz seiner Verwundung und Schwäche war er voller Kraft. Er brannte und drängte wild, und ihr war, als würde ihre Haut ein loderndes Feuer berühren.
Doch als ihre gemeinsame Ekstase den Höhepunkt erreichte, gerade, als sie ihn zur strahlenden Klimax ritt, war der Name, den er aussprach, nicht der ihre.
Sie ließen einander los, keuchend lag sie wieder auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit, und während ihr Körper noch immer vibrierte und mehr wollte, war ein Teil ihres Gemüts in hellem Aufruhr, weil sie nun wusste, wen Zacharias in Wahrheit liebte.
Als das Dunkel der Nacht schließlich zum sanften Grau der Morgendämmerung abstumpfte, lag er zusammengesackt und tief erschöpft an ihrer Seite, einen Arm um ihren Bauch geschlungen. Sie küsste seine Stirn, doch er reagierte nicht. Auch sie war erschöpft, aber tief befriedigt. Die Berührungen entfachten keine Flammen mehr, und sie begriff, dass die Wirkung der Droge, die Destarion benutzt hatte, was immer sie auch gewesen sein mochte, nun vorbei war. Es war Zeit, sich auszuruhen.
Jemand applaudierte. Estora setzte sich halb auf, ihr Herz raste, und plötzlich war sie hellwach. Sie hielt die Decke über ihren Brüsten fest. Zacharias lag weiterhin besinnungslos da.
»Wer ist hier?«, fragte sie zornig.
»Ich nehme an, es fällt Euch nicht schwer, das zu erraten«, antwortete Richmont, der aus der dunkelsten Ecke des Zimmers auftauchte und dicht an ihre Seite des Bettes trat. Er zupfte an ihrer Decke. »Warum seid Ihr denn auf einmal so schamhaft, meine teure Cousine? Eure Darbietung in der Nacht war ein ganz anderes Kaliber.«
»Ich dachte …«
»Dass wir alle fort wären? Nein, ich bin als Einziger geblieben, als einziger Zeuge. Ich hatte mehr Geduld als die anderen, und es hat sich ausgezahlt. Meine brave kleine Cousine hat den Ritus vollzogen. Es war mir ein Hochgenuss.« Mit einer Hand hob er ihr Kinn, und als sie sie wegschlug, gluckste er. »Nach all dem habt Ihr immer noch genug Energie, um aufmüpfig zu sein. Und den König habt Ihr völlig fertiggemacht. Die betroffenen Fraktionen werden mit den Ergebnissen der heutigen Nacht zufrieden sein. Apropos …« Er zog etwas, ein winziges Fläschchen, aus einer Tasche. »Hier ist ein bisschen Schweineblut für das Bett. Ich möchte nicht, dass die Diener sich fragen, warum kein jungfräuliches Blut die Laken befleckt, wenn sie das Bett frisch beziehen, und Ihr wisst ja, wie versessen manche Leute im Hofstaat auf solche … Ungesetzlichkeiten sind, falls sie Wind davon bekommen.« Er stellte das Fläschchen auf ihren Nachttisch.
Estora hörte, wie seine Schritte das Zimmer durchmaßen. Bevor er die Tür öffnete, blieb er stehen und lachte erneut. »Macht Euch keine Sorgen wegen der anderen Frau. Ihr werdet keine Rivalin haben.«
Sie wollte ihm nicht die Genugtuung geben, ihn danach zu fragen, aber sie konnte nicht anders. »Was meint Ihr damit?«
»Eine Tote ist keine Konkurrenz mehr. Vergesst nicht: Alles, was ich tue, tue ich für Euch.« Damit ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Estora fiel auf ihr Kissen zurück. Ihr war kalt nach all den Anstrengungen, und sie fror noch mehr bei dem Gedanken an das widerliche Ungeheuer, als das Richmont sich entpuppt hatte. Welchen zusätzlichen Todesgefahren hatte Richmont Karigan wohl ausgesetzt, die ohnehin schutzlos dem Schwarzschleierwald die Stirn bot? Plötzlich hatte sie Angst um ihre Freundin, aber ein sehr menschlicher Teil ihrer selbst hoffte dennoch beinah darauf, dass Richmonts Drohung wahr werden möge, damit Zacharias nur ihr und ihr ganz allein gehörte.
Sie schauderte und schmiegte sich an seinen Körper.