DAS KNOCHENHOLZ

e9783641094324_i0034.jpg»Au weia«, murmelte Yates neben Karigan.

Karigan konnte Yates’ Reaktion gut verstehen. Eine Waffe allein war schon imponierend genug, aber eine ganze Gruppe war absolut überwältigend. Sie fragte sich, was sie in den Reiterflügel geführt hatte.

Sie musste nicht lang warten, um zu erfahren, dass sie selbst der Grund gewesen war.

Fastion, an den sie immer als »Granitgesicht« dachte, trat vor. »Sir Karigan, wenn Sie uns bitte begleiten würden.« Es war mehr ein Befehl als eine Bitte.

»Warum …« begann sie, aber schon umringten sie sie alle, wobei sie um Yates einen höflichen Bogen machten. Bevor sie sich dessen bewusst geworden war, marschierten sie schon aus dem Reiterflügel hinaus, Karigan in der Mitte der Formation und Fastion an der Spitze.

»Karigan?«, rief Yates aus einiger Entfernung hinter ihr her.

»Ist schon in Ordnung«, antwortete sie, obwohl sie durchaus ihre Zweifel hatte.

Sie kannte alle Waffen um sie herum, oder zumindest kannte sie ihre Namen, aber viel mehr wusste sie nicht über sie. Es war nicht leicht, mit ihnen und ihrer Welt vertraut zu werden, obwohl Karigan ihnen nähergekommen war als die meisten. Sie betrachteten sie als Ehrenmitglied ihres Ordens.

Unter denen, die sie umgaben, befand sich Brienne Quinn von den Grüften. Was tat sie wohl im oberirdischen Bereich? War sie versetzt worden? Nein, sie trug immer noch ihren pelzgefütterten Umhang, der sie in der unterirdischen Welt der Grüfte warm hielt, und das bedeutete, dass sie erst kürzlich an die Oberfläche gekommen war.

»Wohin gehen wir?«, fragte Karigan sie. »Was tun wir?«

»Alles wird sich bald aufklären«, antwortete Brienne.

Hatte die Waffe verstohlen gelächelt? Falls ja, beruhigte Karigan das nicht allzu sehr.

Es war schwierig, über die Mauer ihrer breitschultrigen Begleiter zu blicken, aber sie spürte, dass Leute ihnen hastig Platz machten, als die Formation durch die Korridore fegte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass sie an ihrer Stelle genauso reagiert hätte.

Schließlich betraten sie eine große Kammer und hielten an. Sie war schon einmal hier gewesen. Der Raum war mit Statuen strenger Krieger aus schwarzem Onyx und mit düsteren schwarzen Bannern an den Wänden dekoriert. Tische standen in präzisen Reihen. Als sie das erste Mal hier gewesen war, hatte sie angenommen, der Raum wäre ein Versammlungs-und Speisesaal der Waffen, und als sie ihn nun wieder sah, hatte sie denselben Eindruck.

Etwa ein Dutzend weiterer Waffen erwartete sie dort und bildete zu ihrer Beunruhigung einen großen Kreis um sie herum.

»Was …«, begann sie.

Fastion brachte sie mit einer Geste zum Schweigen, aber innerlich brüllte sie vor Wut, denn sie wollte wissen, was eigentlich los war.

Eine weitere Waffe trat zwischen Fastion und Brienne hindurch in den Kreis. Karigan schnappte erstaunt nach Luft, denn es war Colin Dovekey, der nicht nur einer der wichtigsten Ratgeber des Königs war, sondern auch der Chef der Waffen. Diesen Rang hatte er erreicht, weil er seit seiner Jungend als Waffe gedient hatte.

»Seien Sie gegrüßt, Waffenschwester«, sagte er.

So war sie schon früher von Fastion, Brienne und einigen anderen genannt worden, aber es war irgendwie schockierend, das von Colin zu hören

»Ihre bevorstehende Reise ist uns allen bekannt, und wir haben beschlossen, dass Sie diesen dunklen Ort nicht betreten sollen, ohne etwas von den Schwarzen Schilden zu besitzen. Donal?«

Die Waffe Donal betrat den Kreis und kam neben Colin zum Stehen. In seinen Händen hielt er einen Stab aus poliertem schwarzem Holz, der aussah wie ein ländlicher Spazierstock, wie man ihn bei gemütlichen Exkursionen auf Waldpfaden und in pittoresken Hügellandschaften benutzen würde. Sie war überrascht, dass sie ihr ein so unscheinbares Geschenk machten, aber vielleicht meinten sie, dass sie ohne ihr Pferd die Hilfe eines Spazierstocks brauchte, um den Wald zu durchqueren.

Colin hatte offenbar gemerkt, dass sie nicht allzu begeistert war, denn er sagte: »Lassen Sie sich nicht durch den äußeren Schein täuschen.«

Plötzlich setzte sich Donal in Bewegung, und der Stock sauste durch die Luft und zeichnete Muster, die schneller waren, als das Auge sie aufnehmen konnte, während das Holz summte. Alle anderen Waffen blieben unbeweglich, aber als der Stock unerklärlicherweise seine Länge verdoppelte, ohne dass Donal seinen Tanz unterbrach, und als die eiserne Spitze nur einige Zentimeter an Karigans Kinn, Kopf und Ohr vorbeipfiff, wollte sie am liebsten aufschreien und wegrennen.

Dann verharrte Donal plötzlich und blieb bewegungslos stehen, die Spitze des Spazierstockes, der sich in einen Kampfstab verwandelt hatte, eine Haaresbreite vor ihrer Nase. Sie musste schielen, um sie anzusehen, und klappte den Mund zu, als ihr auffiel, dass er offen stand.

Donal zog den Stab zurück und hielt ihn quer vor ihre Brust, damit sie ihn genauer betrachten konnte. »Sehen Sie«, sagte er. »Er ist wirklich klug gemacht.« Er berührte eine kaum wahrnehmbare Vorwölbung knapp unterhalb des gebogenen Griffs und machte eine kurze, scharfe Bewegung. Der Stab zog sich zu seiner ursprünglichen Größe zusammen. Er drückte erneut auf die Vorwölbung, richtete den Spazierstock nach vorn, und er wurde wieder zum Kampfstab.

»Bewegung, Gewicht und Gegengewicht erlauben es Ihnen, ihn zu verlängern und zu verkürzen«, erklärte Donal. »Die Gewichte geben ihm die nötige Balance.«

Er reichte ihn ihr. Das Holz lag glatt und kühl in ihren Händen. Donal hatte recht, die Balance war gut, und er fühlte sich stark und kräftig genug zum Kämpfen an, aber er war trotzdem nicht zu schwer, um ihn während einer Reise zu Fuß zu tragen. Der Griff schien aus einem in Leder gewickelten Stahlkern zu bestehen. Das allein konnte als verheerende Waffe gegen einen Widersacher dienen. Die einzige Verzierung war ein unterhalb des Griffs in den Stiel eingeschnitzter Schild, schwarz auf schwarz, das Symbol der Waffen.

»Mit diesem Stab«, sagte Colin, »werden Sie uns im Wald vertreten. Seit unserer Gründung haben wir gegen alles gekämpft, was aus dem Schwarzschleierwald stammt, und doch wird keiner von uns in das Herz jenes uralten Bösen reisen. Nur durch Sie, mit diesem Stab, können wir die bösen Mächte daran erinnern, dass wir immer noch da sind und auf den Tag der Abrechnung warten.«

Karigans Mund wurde trocken. Was sollte sie tun? Wen sollte sie vertreten?

»Wollen Sie ihn nicht ausprobieren?«

»Ähmm …«

»Der Mechanismus ist hier«, sagte Donal, »neben Ihrem Daumen.«

Sie drückte darauf und spürte, wie etwas ausgelöst wurde.

»Nun reißen Sie ihn scharf nach hinten«, sagte Donal.

Sie tat es, und der Stab zog sich so sanft zurück, dass sie lediglich eine subtile Veränderung des Gleichgewichts spürte und ein Klicken hörte, als er seine ursprüngliche Form wieder angenommen hatte.

Sie drückte auf den Auslöser und brachte den Stock wieder auf Stablänge. Sie war so begeistert davon, dass sie weiterhin damit spielte und dabei fast ihre strengen Zuschauer und die vor wenigen Minuten geäußerten Worte Colins vergessen hätte.

»Das ist ja wie Magie«, sagte sie.

Sie spürte, wie sich die Waffen ringsum versteiften. Oh je, dachte sie. Das Thema Magie war ihnen unangenehm.

»Keine Magie«, sagte Donal, »sondern Handwerkskunst. Er wurde von einem der Unseren angefertigt, der ein Talent dafür hat herauszufinden, wie die Dinge funktionieren. Er studiert ständig alles, was unsere Bibliotheken und Archive zu bieten haben, vom Schiffsbau bis zur Herstellung kleinerer Gegenstände; er hat auch Ihren Stab geschaffen. Aber er ist nicht lediglich aufgrund des darin enthaltenen Mechanismus etwas Besonderes, sondern auch aufgrund des Holzes. Es ist Knochenholz.«

»Knochen …?« Fast hätte Karigan ihn fallen gelassen.

»Knochenholz«, sagte Donal. »Es ist sehr selten«, erklärte Colin. »Mit der Eiche verwandt und sehr stark. Wir nennen es Knochenholz, weil der einzige Ort, an dem es unseres Wissens nach wächst, unser Friedhof an der Schmiede ist.«

»An der Schmiede?«

»Unsere Akademie auf der Brandungsinsel, oder Schwarzschildinsel, wie die Anwohner sie nennen. Die Akademie wird Schmiede genannt, weil wir Waffen aus einfachen Kriegern schmieden, falls Sie verstehen, was ich meine.«

Karigan verstand, denn das war genau die makabere Art von Wortspiel, die sie von Waffen erwartet hätte.

»Viele von uns beschließen, ihren Ruhestand dort als Lehrer zu verbringen oder andere Aufgaben zu erfüllen, wie auch Geron, der Ihren Stab angefertigt hat. Wenn sie sterben, werden sie dort begraben. Sogar diejenigen von uns, die ihre Tage nicht in der Schmiede beenden, möchten manchmal dort beerdigt werden.«

Karigan wusste, dass er ihr Einzelheiten anvertraute, die nur wenige, die keine Waffen waren, jemals erfuhren.

»Darf ich?«, fragte Colin und streckte seine Hände nach dem Stab aus. Karigan reichte ihn ihm, ohne zu zögern. Colin ließ seine Finger über den Stab gleiten und betrachtete ihn mit geschultem Auge. »Die Eichen wachsen gerade und stark, direkt aus den Gräbern. Manche glauben, dass die Knochen unserer Toten in den Wurzeln aufgehen, daher der Name Knochenholz. Die Bäume wachsen mit einer unbeugsamen Kraft, die niemals nachlässt.

Niemand weiß, woher der erste Setzling kam oder welche der ersten Waffen ihn zur Insel brachte, aber der Legende nach lässt das Holz böse Absichten abprallen. Dunkle Magie.«

Eine Art kollektives Zittern schien durch den Kreis der Waffen zu laufen.

Colin schüttelte den Stab, sodass er wieder zum Spazierstock wurde. »In jüngster Zeit, seit die Bresche im D’Yer-Wall entstanden ist, haben wir angefangen, abgefallenes Holz von den Knochenholzbäumen aufzusammeln. Dieser Stab wurde aus einem Ast gemacht, der vor zwei Wintern in einem Sturm abbrach, und er ist der erste seiner Art. Vielleicht werden wir mit der Zeit noch andere anfertigen. Vorerst tragen wir immer ein Stück Knochenholz dicht am Herzen, wie dies unsere Vorgänger vor Jahrhunderten taten.«

Donal zog sein Lederwams hoch und zeigte ihr ein Abzeichen in Form eines schwarzen Schildes, das auf seinem Hemd direkt über dem Herzen befestigt war.

»Ob die Legende über die Wirksamkeit des Knochenholzes wahr ist oder auch nicht«, fuhr Colin fort, »wir ehren die Tradition.« Er gab Karigan den Stab zurück. »Benutzen Sie ihn zum Guten, und möge er Sie beschützen.«

»Danke«, sagte sie, nun völlig überwältigt. Sie war nicht nur wegen des Geschenks so ergriffen, sondern auch wegen des ungeheuren Vertrauens, das die Waffen ihr bewiesen hatten.

Colin nickte und wandte sich um, als wollte er gehen.

»Es gibt nur ein Problem«, sagte sie.

Er hielt inne. »Ja?«

»Ich habe kaum Training im Stabkampf gehabt.«

»Oh, Donal wird sich darum kümmern.«

Pfad der Schatten reiter4
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