BOTSCHAFTEN
Karigan beobachtete ihren Vater, der Hauptmann Mebstones Brief zusammenfaltete und den Falz mit seinen Fingern immer und immer wieder glättete. Sein Gesichtsausdruck war ernst. Sie hatte den Eindruck, dass er mehr Falten auf der Stirn und um die Mundwinkel hatte, und dass seine Schläfen grauer waren, als sie es in Erinnerung hatte.
Sie wusste nicht, was der Hauptmann in dem Brief geschrieben hatte, abgesehen von der Bitte um Proviant. Offensichtlich war es etwas, das ihn sehr aufwühlte, und sie rätselte darüber, was es wohl gewesen war, aber das Protokoll verlangte, dass sie nicht danach fragte, nicht einmal ihren eigenen Vater. Es war allein die Entscheidung des Empfängers, ob er mit dem Boten über den Inhalt sprach oder nicht.
Es war eine ganze Weile her, seit Karigan zuletzt einen Besuch zu Hause gemachte hatte. Abgesehen davon, dass ihr Vater etwas älter aussah, schien alles unverändert zu sein, einschließlich ihrer Tanten. Nun, auch Tante Tory hatte vielleicht etwas mehr Grau im Haar, aber in der Küche war alles an seinem Platz, die Töpfe und Pfannen hingen dort, wo sie immer gehangen hatten, ihre Hände lagen auf demselben alten Bauerntisch aus bernsteinfarbenem Holz, und die Köchin stand an der Anrichte. Auch in ihrer Schlafkammer war nichts angerührt worden, ihre alten Kleider, die schon seit einigen Jahren aus der Mode gekommen waren, hingen immer noch im Schrank. Höchstens schien das Haus ein wenig kleiner geworden zu sein, als sei es ein bisschen zusammengeschrumpft. Oder sie war gewachsen.
Vielleicht bin ich einfach an die Burg gewöhnt, dachte sie. Das Haus ihres Vaters war zwar groß, aber das Schloss war noch viel größer.
Es war tröstlich, sich in den vertrauten Räumlichkeiten des Hauses aufzuhalten, in dem sie aufgewachsen war, unter Menschen, die sie kannte und liebte – eine ganz andere Welt als das rastlose Leben in Sacor-Stadt und in der Burg, wo sie von so vielen Fremden umgeben war.
Gleichzeitig fühlte sie sich unbehaglich, zu Hause zu sein, obwohl sie hier einen Auftrag erledigen musste, denn es gab andere Angelegenheiten, über die sie mit ihrem Vater sprechen musste. Persönliche Dinge. Er hatte Heimlichkeiten vor ihr gehabt, und zwar keine erfreulichen.
Sie drehte ihre Teetasse in den Händen und betrachtete die kleinen Fetzen der Teeblätter, die in den Tiefen der Tasse herumwirbelten. Neben ihr plauderten ihre Tanten weiter, aber sie hörte nur halb zu. Es war ihr gelungen, die Reise nach Hause monatelang hinauszuschieben, dank der Winterstürme, die sie alle in der Burg eingesperrt hatten, aber plötzlich hatte Hauptmann Mebstone die Überbringung einer dringenden Botschaft befohlen und außerdem gesagt, es sei höchste Zeit, dass Karigans Vater auch die anderen Botschaften erhielt. Und welcher Bote eignete sich dazu besser als seine eigene Tochter?
Ihr Vater räusperte sich, und Karigan sah auf. »Du hast von Botschaften gesprochen«, sagte er. »Heißt das, du hast mehr als eine?«
»Oh!«, antwortete sie und schnitt eine Grimasse. Sie entnahm ihrer Tasche den kleineren der beiden Briefe, die noch übrig waren, und reichte ihn ihm. »Das ist von Lord Coutre.«
»Lord Coutre?«, wiederholte er und hob überrascht die Augenbrauen. Augenblicklich unterbrachen ihre Tanten ihr Geplauder. Er nahm den Brief und erbrach das Siegel. Er las schnell und rief: »Der Orden des Kormorans? Dir sind Ländereien in der Provinz Coutre übereignet worden?« Er las weiter, und dann starrte er sie an, die Augen weit aufgerissen und voller Fragen.
Tante Stace riss ihm den Brief aus den Händen und las ihn. Als sie damit fertig war, sah sie aus wie das Spiegelbild ihres Bruders. Als Nächste schnappte sich Tante Brini den Brief und die anderen, inklusive der Köchin, umringten sie, um ihn über ihre Schulter hinweg ebenfalls zu lesen.
»Du hast Lady Estora vor Entführern gerettet?«, fragte Stevic mit schwacher Stimme.
»Ich, ähm, habe dabei geholfen«, antwortete Karigan, deren Wangen sich röteten. Der andere Grund, warum sie nicht hatte nach Hause kommen wollen, war die Schwierigkeit, den anderen von ihren Erlebnissen zu erzählen, ohne dass sie in Ohnmacht fielen. Die bloße Erinnerung an die Gefahren, denen sie getrotzt hatte, reichte aus, um sogar sie selbst zum Zittern zu bringen.
Nachdem ihr Vater und ihre Tanten sich erholt hatten, verlangten sie von ihr, sämtliche Einzelheiten zu hören. Karigan formulierte ihre Antworten vage: »Ich war auf einem Botenritt nach Mirwellton unterwegs … und da kam ich eben zufällig dazu … Nein, Lady Estora ist nichts passiert.« Sie betonte die Rollen, die die anderen bei der Rettungsaktion gespielt hatten, und klammerte sich selbst weitgehend aus der Geschichte aus.
Sie erzählte ihnen, wie die verräterische Gruppe des Zweiten Reiches die Entführung als Ablenkungsmanöver benutzt hatte, damit der König und seine Waffen die Burg nicht so scharf bewachten wie sonst, sodass sie sie infiltrieren und dort »Informationen« sammeln konnten. Das Buch von Theanduris Silberholz erwähnte sie nicht, und es gelang ihr sogar, die Erwähnung jeglicher übernatürlicher oder magischer Elemente zu vermeiden, denn sie kannte die ablehnende Einstellung ihres Vaters solchen Dingen gegenüber.
Ebenso wenig sprach sie über ihre Abenteuer in den königlichen Grabkammern unter der Burg. Alles, was mit diesen Gräbern zusammenhing, war zwar nicht direkt ein Geheimnis, aber es war auch nicht gerade etwas, worüber man leichthin plauderte.
Ihre Erklärungen schienen alle zufriedenzustellen: ein hinterlistiges Komplott, eine Entführung, eine Infiltration der Burg – all das war verhindert worden, und Karigan hatte dabei geholfen! Sie fürchtete jedoch, dass ihre dritte Botschaft weitere Fragen provozieren würde, und zog sie mit einem Seufzer aus ihrer Tasche. Der Brief trug das königliche Siegel des Feuerbrands und des Sichelmondes. Ihr Vater starrte ungläubig darauf.
»Mehr? Das Siegel des Königs?«
Karigan nickte und wartete angespannt, während er las.
Als er fertig war, sah er sie mit ratlosem Gesicht an und reichte den Brief wortlos an Tante Stace weiter. Karigans Tanten und die Köchin schnappten nach Luft, als sie ihn lasen, und betrachteten Karigan, als sähen sie sie jetzt mit ganz anderen Augen.
Dann lachte ihr Vater. Es war ein freudiges Gelächter, das die ganze Küche mit Wärme erfüllte. Eine solche Reaktion hatte Karigan eher nicht erwartet.
»Ich finde das nicht komisch«, sagte Tante Tory mit einem Schnaufen. »Es ist eine große Ehre für Karigan und unseren Klan.«
Stevic G’ladheon lachte immer noch, er wischte sich sogar Lachtränen aus den Augen, und Karigan konnte nur ungläubig den Kopf schütteln.
»Eine große Ehre, ja«, sagte er. »Ich bin immer sehr stolz auf meine Tochter gewesen, egal welch seltsame Wege sie im Leben eingeschlagen hat. Aber nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir je vorgestellt, dass ein G’ladheon zum Ritter geschlagen würde. Und nicht nur das, sondern es ist auch noch eine Ehre, mit der seit Jahrhunderten niemand mehr ausgezeichnet wurde.« Karigans Vater hielt nicht allzu viel vom Adel, und sie hatte die Ironie dieser Ehrung bereits in dem Augenblick erkannt, als sie damit ausgezeichnet worden war. Nicht, dass der Ritterschlag sie tatsächlich in den Adelsstand erhob, aber immerhin …
»Meine Tochter, Reiterin Sir Karigan G’ladheon!«, grinste er. Dann wurde er wieder ernst und sagte: »Karigan, ich verstehe die Belohnung aus Coutre, aber dies hier geht darüber hinaus. Was verschweigst du uns? Hast du etwa wieder das ganze Königreich gerettet?«
Karigan wand sich auf ihrem Stuhl. »Na ja, Lady Estora ist nun mal die Verlobte des Königs …« Als sie erkannte, dass ihn das nicht zufriedenstellen würde, fügte sie hinzu: »Ich habe auch geholfen, diese Kämpfer vom Zweiten Reich in der Burg zurückzuschlagen. Der König war sehr erfreut.«
Ihr Vater lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Der Wind jagte den Kamin hinunter, verstreute Asche und ließ das Feuer aufflackern. Der Saft der bratenden Gans zischte.
»Und das ist alles? Du willst uns nicht erzählen, wie das genau vonstatten ging? Ist es ein Geheimnis?«
Fast hätte sie gesagt: Na ja, nachdem ich geholfen hatte, Lady Estora zu retten, kam das Pferd des Todesgottes zu mir und führte mich durch die »weiße Welt«, wo wir uns über Zeit und Raum hinwegsetzten, um die Burg zu erreichen. Dort wurde ich zu einer Ehrenwaffe gemacht und durfte Schwarz tragen, damit ich die Grabkammern betreten durfte, ohne dafür extra ein Grabhüter werden zu müssen und den Rest meines Lebens damit zu verbringen, die Toten abzustauben. Ich jagte die Schläger durch die königlichen Gräber und tat so, als wäre ich ein Gespenst. Ich kämpfte mit ihnen und rettete ein magisches Buch, das uns vielleicht dabei helfen kann, die Bresche im D’Yer-Wall zu reparieren. Falls uns das gelingt, wären wir alle gerettet!
Dann habe ich ein Schläfchen auf dem zukünftigen Sarkophag unserer zukünftigen Könige gemacht, weil ich müde war und alles vollblutete – oh, habe ich erwähnt, dass mir einige Zeit davor fast die Hand abgehackt worden wäre? Aber das ist eine ganz andere Geschichte! Auf jeden Fall träumte ich, dass die Toten auferstanden. Das ist das Einzige, woran ich mich erinnere, und ist das etwa ein Wunder, in Anbetracht dessen, wo ich war? Als ich aufwachte, hielt das magische Buch so mancherlei für uns bereit.
Und das, dachte sie, war noch nicht einmal die Hälfte ihres Abenteuers. Aber statt ihre wahren Gedanken preiszugeben, fragte sie fast bettelnd: »Könnt ihr euch nicht einfach für mich freuen?«
»Das tu ich ja, das tu ich ja«, antwortete Stevic. »Ich mache mir lediglich Sorgen um dich, und du erzählst nie viel über deine Arbeit.«
»Mit dem Ritterschlag hat sie noch mehr Ländereien bekommen«, unterbrach Tante Brini, die den Brief des Königs überflog. »Sie kann sich sogar aussuchen wo, überall im ganzen Reich.«
Karigan sah das Licht in den Augen ihres Vaters aufblitzen, und das subtile Lächeln, als kalkulierte er bereits, wie er ihre Landzuteilungen zum Vorteil der Klan-Geschäfte nutzen konnte. Es grenzte an ein Wunder, dass er sich nicht die Hände rieb. Diese Ablenkung war allerdings nur von kurzer Dauer.
»Willst du uns nicht erzählen, wie es kommt, dass der König dir so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat?«, fragte er.
Wenn ihr Vater nur gewusst hätte, was alles hinter dieser Frage steckte und wie gern sie ihren Kopf auf die Tischplatte geschlagen hätte. »Da gibt es nicht viel zu erzählen.« Sie fand sogar selbst, dass diese Lüge allzu schwach war.
»Ich glaube dir kein Wort«, sagte ihr Vater. »Du verheimlichst uns einiges.«
Karigan wand sich auf ihrem Stuhl. Warum konnte er es nicht dabei belassen? Schließlich hatte auch er seine Geheimnisse. Mit welchem Recht verlangte er also, dass sie die ihren verriet?
»So wie du, weil du es zum Beispiel nie für nötig gehalten hast, uns zu erzählen, dass du zur Mannschaft eines Piratenschiffs gehört hast?«, entfuhr es ihr.
Ein unheilschwangeres Schweigen folgte.
Oh weh!, dachte sie. Sie hatte nicht vorgehabt, dieses Thema so abrupt anzuschneiden, aber jetzt war es geschehen. Ohne Vorrede, ohne sanftes Ermuntern, und es gab kein Zurück mehr.
Die Köchin hastete zur Anrichte und zu ihren Pastinaken zurück, und die Tanten stoben auseinander und machten sich überall in der Küche zu schaffen, aber sie blieben alle in Hörweite, auch wenn sie so taten, als hörten sie nicht zu.
»Ich hatte vor, dir davon zu erzählen«, sagte ihr Vater einige Momente später.
»Wann?«
»Nun, ich … bald. Ich wollte warten, bis du alt genug wärst.«
»Wie alt denn? Achtzig, zum Beispiel?«
»Nein, natürlich nicht. Ich … wie hast du das erfahren?« Er sah seine Schwestern anklagend an, doch sie wiesen die Anschuldigung lautstark zurück und unterstrichen die Beteuerung ihrer Unschuld mit Löffeln und Messern.
Bevor sich jemand durch ein unkontrolliertes Küchenwerkzeug verletzen konnte, sagte Karigan: »Dir ist nicht einmal klar, wie knapp der Klan an einer Katastrophe vorbeigeschliddert ist. Fast wäre diese Information bekannt geworden. Der König weiß es.«
Darauf verstummten alle.
»Was? Woher denn?«
»Die Mirweller haben die Mannschaftsliste eines bekannten Piratenschiffes ausgegraben, der Goldjäger. Timas – Lord Mirwell – schickte sie dem König.«
»Aber warum? Warum sollte er das tun?«
»Ich bin nicht sicher«, sagte Karigan. »Abgesehen davon, dass Timas Mirwell mich hasst, und zwar schon seit der Schulzeit. Wahrscheinlich wollte er sich an mir rächen, indem er versuchte, Schande über den Klan zu bringen.« Er war sogar derjenige gewesen, der sie damit beauftragt hatte, dem König die Botschaft zu überbringen. Sie hatte damals natürlich keine Ahnung gehabt, was sie da in ihrer Tasche trug. Erst nach der Zeremonie, bei der sie zum Ritter geschlagen wurde, hatte sie es von einem der Ratgeber des Königs erfahren.
»Verdammt«, murmelte ihr Vater. »Aristokraten. Aristokraten und ihre Intrigenspiele.«
»Wir haben Glück, dass der König deine Dienste am Reich so hoch schätzt und deshalb die ganze Angelegenheit unter den Tisch fallen ließ«, sagte Karigan. »Aber wenn Mirwell oder sonst jemand beschließt, öffentlich Anklage zu erheben, könnte das sehr peinlich werden. Ich habe die Mannschaftsliste vernichtet, aber es würde auch ohne Beweis einen schlechten Eindruck machen.«
»Ich verstehe.« Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musstest. Ich hätte es dir sagen sollen.«
»Ich wünsche, du hättest es getan«, murmelte Karigan.
»Zumindest weißt du es jetzt«, meinte er.
»Ja, aber nicht die Einzelheiten.«
»Das war vor langer Zeit.«
»Dann dürfte es dir nicht schwerfallen, mir jetzt alles zu erzählen.«
Er hob eine Augenbraue. »Ich sehe, dass auch der Ritterstand deine hartnäckige Neugierde nicht gebändigt hat.«
»Vater.«
»Sag mal, reden sie dich bei Hofe mit Sir Karigan an? Sollte es nicht Madam Karigan oder so etwas Ähnliches sein? Vielleicht Madam Sir Karigan?«
»Vater.« Ihre Neugierde mochte hartnäckig sein, aber er brachte sie schier zur Verzweifelung. »Mir ist es ernst.«
»Ja, ja, natürlich. Nun gut. Es ist wohl unvermeidlich.« Er machte eine Pause, wurde nachdenklicher und faltete seine Hände locker auf der Tischplatte. »Wie gesagt, das mit der Goldjäger ist lange her. Ich war noch ein unwissender, grüner Junge, frisch von der Insel, als Kapitän Ifiors Männer mich aus einer Kneipe entführten und in ihren Dienst zwangen.«
»Du wurdest also zwangsrekrutiert«, murmelte Karigan etwas versöhnt, weil ihr Vater gegen seinen Willen an Bord gegangen war.
»Ich muss zugeben, ich habe mich nicht gewehrt.«
»Was? Warum nicht?«
»Ich habe es als gute Gelegenheit betrachtet.«
»Eine gute Gelegenheit? Ein Piratenschiff?« Offenbar war er wirklich ein sehr grüner Junge gewesen.
»Reg dich nicht gleich auf«, sagte ihr Vater. »Die Goldjäger war anfangs gar kein Piratenschiff, sondern ein Freibeuter mit der verbrieften Erlaubnis, Schiffe zu kapern, die die Blockade des Unteren Reiches verletzten.«
»Wie wurde sie zum Piratenschiff?«
»Das Embargo wurde aufgehoben«, antwortete er, »und Kapitän Ifior beschloss, weiterhin Schiffe zu kapern. Es war sehr einträglich.«
»Zweifellos.« Karigans Kopf pochte, und sie rieb sich die Schläfen. Sie war von ihrer langen Reise durch den Sturm erschöpft, und es war nicht leicht, aus dem Mund des eigenen Vaters zu hören, dass er zu einer Piratenmannschaft gehört hatte. Das Einzige, was sie über Piraten wusste, war, dass sie undisziplinierte, blutrüstige Halsabschneider waren, und sie wollte nicht glauben, dass ihr Vater auch so gewesen war, egal, wie lange das alles auch zurückliegen mochte.
»Kari …«
»Du bist also geblieben, obwohl der Kapitän sich der Piraterie schuldig gemacht hat«, sagte sie.
»Ja. Kapitän Ifior war ein gewiefter Geschäftsmann, und ich habe von ihm viel gelernt.«
»Die Räuberei, zum Beispiel? Mord?« Karigan zuckte zusammen, als die Worte aus ihrem Munde kamen. Sie hatte sich nicht so barsch ausdrücken wollen, aber sie musste es einfach wissen. Sie musste wissen, wer ihr Vater in Wirklichkeit war.
Er antwortete nicht, sondern saß ganz still da, sein Gesichtsausdruck steinern, hart und bleich. Karigan holte tief Luft, um sich gegen den Sturm zu wappnen, der nun bestimmt kommen würde, aber ihr Vater stand abrupt auf und verließ die Küche ohne ein weiteres Wort.
Sein Schweigen, dachte Karigan, war viel schrecklicher, als der schlimmste Wutanfall je hätte sein können.
Eine nach der anderen wandten ihre Tanten sich ihr zu. Die Köchin ignorierte die Szene und tat so, als sei sie an der Anrichte sehr beschäftigt. Tja, nun hatte Karigan es geschafft: Sie hatte das Wiedersehen mit ihrer Familie in eine Katastrophe verwandelt.
»Was ist?«, fauchte sie ihre schweigenden und böse blickenden Tanten an. »Ich habe ein Recht, das zu wissen.«
Tante Staces Mund verwandelte sich in einen grimmigen Strich, bevor sie sprach. »Dein Vater spricht kaum über die Vergangenheit, auch mit uns nicht, aber wir wissen, dass er damals in eine unglückselige Verkettung von Umständen geraten ist, die er nicht verursacht hatte.«
Das konnte Karigan verstehen, aber bestimmt hatte ihr Vater mehr Entscheidungsfreiheit gehabt, als sie bei ihrer Berufung zur Reiterin. »Er hätte fliehen können, als das Schiff irgendwo anlegte.«
»Richtig«, sagte Tante Brini, »aber er hatte gute Gründe zu bleiben. Weißt du, Kapitän Ifior war ihm ein besserer Vater, als unser eigener Vater es je gewesen ist. Er war sein Mentor und Lehrer.«
»Der ihm beigebracht hat, zu töten und zu rauben.«
»Ach, Kind, du kannst einfach nicht wissen …«
»Ich bin kein Kind«, sagte Karigan. Nein, nicht nach all der Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht hatte, seit sie eine Grüne Reiterin geworden war, aber das würden die Tanten nie verstehen, selbst wenn sie ihnen jede Einzelheit ihrer Abenteuer erzählt hätte. Egal, was sie aus ihrem Leben machte – sie würden sie immer als ihre kleine Nichte betrachten, die nicht die nötige Reife besaß, um sich mit den Angelegenheiten der Erwachsenen, zum Beispiel der Vergangenheit ihres Vaters, zu befassen.
»Das stimmt wahrscheinlich«, sagte Tante Stace, »aber du benimmst dich wie ein Kind.«
Karigan fiel die Kinnlade herunter.
»Nur ein Kind platzt mit allem heraus, was ihm gerade in den Sinn kommt, ohne zuerst darüber nachzudenken. Ich hätte gedacht, dass du im Dienst des Königs reifer geworden wärst.«
Karigan saß ganz benommen da, weil ihre Tanten ihren Vater in dieser Angelegenheit verteidigten. Es war doch nicht ihre Schuld, dass er Pirat gewesen war.
Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie nahm ihre Botentasche auf, verließ die Küche und ging zur Treppe. Sie nahm zwei Stufen auf einmal, und als sie ihre Schlafkammer erreichte, warf sie die Tür mit Wucht hinter sich zu.
Wenn ihre Tanten schon nicht ertrugen, dass Karigan Fragen über das Piratenschiff stellte, würden alle fünf Höllen sich öffnen, sobald sie das Bordell zur Sprache brachte.