VISIONEN DER SPIEGELMASKE

e9783641094324_i0040.jpgKarigan schenkte dem Maskenball keine Beachtung mehr; die Musik und das Geplauder wurden zu einem vagen Brummen in ihrem Hinterkopf. Die Spiegelmaske hielt sie in ihrem Bann.

Aber bevor die tödlichen Pfeile ihr Ziel erreicht hatten, veränderte sich der Spiegel und wurde dunkler. Es war, als versuchte sie, die Schwärze der Nacht mit ihrem Blick zu durchdringen; ihr Spiegelbild war völlig verschwunden. Dann stellten sich ihre Augen allmählich um, als wäre sie wirklich irgendwo mitten in der Nacht, und sie begann, subtile Veränderungen, Gestalten und Schatten wahrzunehmen.

Die Struktur von verfaulender Baumrinde. Ein Astknoten ragte wie eine Faust aus dem Baum, und sie konzentrierte ihren Blick darauf. Der Knoten ähnelte einem Gesicht, einem Gesicht, aus dem roter Ocker tropfte. Was war das? Wo war das?

Der Ausschnitt wurde größer und gab die Sicht auf einen ganzen Hain solcher Bäume frei, manche Stämme von Knoten verunstaltet, andere nicht, aber alle von Fäulnis befallen. Die Dunkelheit schien unter den riesengroßen, ausladenden Ästen gefangen zu sein, und Nebel waberte zwischen den Baumstämmen.

Das konnte nur der Schwarzschleierwald sein, der sie nun schon heimsuchte, bevor sie seine gefährliche Grenze überschritten hatte.

Die Vision verschwand in Flammen.

Zähe, flackernde Flammen.

Es war, als würde sie in ein Lagerfeuer starren, aber durch das Feuer sah sie ein anderes Gesicht. Das Gesicht einer älteren Frau mit Tränensäcken unter den Augen, bleichen, ausgemergelten Wangen und dünnen grauen Haarsträhnen, die über ihre schweißbedeckte Stirn fielen. Karigan erkannte sie sofort: Großmutter. Die Anführerin der ehemaligen Sekte des Zweiten Reiches in Sacor-Stadt. Wie bei der vorherigen Vision konnte sie unmöglich entscheiden, ob es sich hier um die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft handelte, aber ihr kam es so vor, als sähe die alte Frau sie direkt an.

Großmutter begann zu sprechen, aber Karigan hörte keine Worte. Trotzdem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass Großmutter sie direkt ansprach.

Karigan erinnerte sich an einen Satz, den sie mehr als einmal gehört hatte: Manchmal zeigt der Spiegel in beide Richtungen.

»Nein!«, schrie sie, vom Klang ihrer eigenen Stimme überrascht, und schlug wild um sich, um der Spiegelmaske auszuweichen. Der Bann war gebrochen. Der Akrobat tanzte fort.

Karigan wankte und wäre hingefallen, wurde aber von starken Armen aufgefangen und wieder aufgerichtet. Die Klänge und die Lichter des Maskenballs kehrten zurück wie eine Welle, die über ihrem Kopf zusammenschlug. Sie atmete einige Male tief durch und fragte sich, wie lange sie wohl von der Maske gebannt gewesen war.

Als sie auf die Stelle starrte, wo der Akrobat in der Menge verschwunden war, fluchte sie innerlich. Und wenn Großmutter wirklich versucht hatte, mit ihr zu sprechen? Wäre Karigan nicht in Panik geraten, hätte sie vielleicht etwas Nützliches aus der Vision erfahren können, zum Beispiel, wo sich Großmutter aufhielt. Eine solche Information wäre für den König von unvorstellbarem Wert gewesen. Vielleicht sollte sie dem Akrobaten nachgehen und nochmals in seine Maske spähen, um herauszufinden, ob sie …

»Man sollte nie leichtfertig in die Spiegelmaske sehen«, sagte der Herr, der sie gerettet hatte.

Sie war so sehr auf den Spiegel und ihre Visionen konzentriert gewesen, dass sie den hilfsbereiten Herrn fast vergessen hatte. Sie wandte sich zu ihm. Wie alle anderen Adligen im Saal war auch er in nach der aktuellen Mode geschneiderte Gewänder aus feinster Seide und Samt gekleidet. Seine Maske bestand aus Blattgold und war mit fließenden, abstrakten Reliefmustern verziert. Zwei hellgraue Augen betrachteten sie amüsiert. Etwas an diesen Augen kam ihr sehr bekannt vor …

»Spiegelmaske?«

»Ja, sicher. Kennen Sie diese Tradition nicht?«

Karigan runzelte die Stirn. Sie kannte diesen Mann, mit seinen nach hinten gebundenen schwarzen Haaren und den eleganten Gesten. Das Aufblitzen eines roten Rubins an seinem Finger bestätigte es: Lord Amberhill.

»Nein«, antwortete sie und hoffte, dass er sie nicht ebenfalls erkannt hatte. Oh, er würde sich köstlich amüsieren, wenn er wüsste, dass sie in diesem scheußlichen Königin-Wüstina-Kostüm steckte.

»Nun ja, auf einem Maskenball findet man häufig einen Akrobaten mit einer Spiegelmaske. Heutzutage ist es wenig mehr als ein Gesellschaftsspiel, aber unsere Vorfahren nahmen diese Masken viel ernster und benutzten sie bei heiligen Zeremonien. Der Legende nach nutzten die Priester des Altertums sie für Visionen.« Lord Amberhill lachte. »Wahrscheinlich waren sie von vielen starken Getränken so betrunken und von vielen starken Kräutern so benommen, dass sie alles Mögliche sahen.«

Er hätte sich kaum gründlicher irren können, aber Karigan würde sich hüten, ausgerechnet mit ihm darüber zu sprechen.

»Ich frage mich«, sagte Lord Amberhill, »ob die edle Dame vielleicht gerne tanzen würde?«

»Wie bitte?«

Er lächelte. »Dies ist ein Ball, und auf einem Ball tanzen die Leute. Auch muss ich zugeben, dass mich die, sagen wir, wüste Kühnheit Ihres Kostüms fasziniert. Doch vielleicht haben Sie heute Abend schon einen andern Begleiter?« Er sah sich um, als suchte er ihren verloren gegangenen, nicht existenten Begleiter.

Tanzen war das Letzte, worauf Karigan im Augenblick Lust hatte. Die Magie der Maske hatte sie erschüttert. Sie wollte nichts weiter, als in ihre kleine Kammer im Reiterflügel zurückkehren und sich im Bett an Geisterkätzchen kuscheln, und keinesfalls ausgerechnet mit Lord Amberhill tanzen, der ein Talent dafür besaß, sie genau da zu reizen, wo sie am empfindlichsten war.

»Nein, danke«, sagte sie. »Entschuldigt mich.«

Sie wandte sich zum Gehen, aber er legte seine Hand fest auf ihren Arm und beugte sich herunter, um sie anzusprechen. »Sie wollen also einfach wieder verschwinden, meine Dame? Oh ja. Ich erkenne Ihre Stimme. Ihre Augen.« Seine Worte waren so leise, dass nur Karigan sie hören konnte.

Mit plötzlich aufflackernden Wut riss sie ihren Arm weg. »Ihr irrt Euch. Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.«

»Ach, wirklich nicht? In dem Theaterstück heiratet Königin Wüstina ein Pferd. Vielleicht einen schwarzen Hengst. Den kennen Sie doch bereits, oder? Den schwarzen Hengst?«

Karigan erstarrte. War es möglich, dass Lord Amberhill Salvistar gesehen hatte? Dass er in jener Nacht in den Hügeln von Teligmar den Hengst des Todesgottes bei ihr gesehen hatte, obwohl er für alle anderen unsichtbar gewesen war? Und falls das stimmte, was bedeutete es?

»Es ist nur ein Theaterstück, weiter nichts«, antwortete sie.

»Tatsächlich?«

Sie konnte nicht zulassen, dass er ihr weitere Fragen zu diesem Thema stellte. Jedes Mal, wenn er sie sah, bestand er darauf, sie wegen des »Verschwindens« zu piesacken, und sie war nicht bereit, sich auf sein Spiel einzulassen. Sie würde nichts über die Fähigkeiten der Reiter preisgeben. Dieses Geheimnis war seit langer Zeit gehütet worden, um die Reiter vor einer Bevölkerung zu schützen, die panische Angst vor Magie hatte. Sie würde weder sich noch ihre Freunde dieser Gefahr aussetzen.

Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und sagte mit der größten Arroganz, die sie aufbringen konnte: »Ich finde Eure Fragestellung in höchstem Maße unverschämt.« Sie sprach so laut, dass jeder in ihrer Nähe sie hören konnte, und einige sahen tatsächlich in ihre Richtung. »Ihr seid ein sehr ungehobelter Mann.« Mit hocherhobenem Kopf drehte sie sich auf dem Absatz um und stolzierte mit wedelndem Fächer davon. Sie lächelte vor sich hin und fragte sich, ob er nach dieser Szene wohl eine andere Frau würde überreden können, mit ihm zu tanzen.

Sie durchquerte den Saal bis zur anderen Seite und beschloss, den Menschen und der Wärme des Ballsaals zu entfliehen, indem sie sich auf einen der Balkone zurückzog. Draußen war es so kalt, dass wahrscheinlich kaum jemand dort sein würde. Ein Diener öffnete ihr die Tür, als sie sich näherte, und sie trat mit einem erleichterten Seufzer in die frische Luft hinaus, während die Musik und das Stimmengewirr hinter ihr verklangen.

Das einzige Licht fiel durch die Glastüren aus dem Ballsaal. Wolken verbargen die Sterne und den Mond. Sie trat an die Balustrade und schlang zitternd vor Kälte die Arme um sich.

Ja, es ist immer noch Winter, egal wie nah der Frühling rückt.

Trotz der Kälte fühlte sie sich in der relativen Stille und der Dunkelheit geborgen. Kein Lord Amberhill. Keine Spiegelmaske.

Und dann räusperte sich jemand.

Karigan zuckte zusammen. Sie hatte gemeint, allein zu sein.

»Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Sie spähte über die ganze Länge des Balkons hinweg, und am anderen Ende stand König Zacharias. Er hatte seine Drachenmaske abgenommen und strich sich mit der Hand durchs Haar.

Karigans Kiefer klappte nach unten, dann erinnerte sie sich, einen Hofknicks zu machen.

Er lächelte. »Ein weiterer Flüchtling vor den Festivitäten, wie ich sehe.«

Karigan wurde klar, dass er sie nicht erkannte.

»Ihr Kostüm ist das beste, das ich den ganzen Abend gesehen habe«, fuhr er fort. »Kühn, festlich und voller Metaphern. All die anderen… ich weiß nicht.« Er strich sich den Bart. »Langweilig, würde ich sagen. So völlig korrekt. Mit wem habe ich die Ehre?« Bevor sie jedoch antworten konnte, wehrte er mit einer Geste ab. »Nein, nein. Sagen Sie es mir nicht! Das würde das Rätsel verderben, und Rätsel sind schließlich der Zweck eines Maskenballs, nicht wahr? Rätsel, verborgene Identitäten, Geheimnisse.«

Karigan hob die Hand zu ihrer Maske. Ihre Finger fanden die Schnur, die sie befestigte. Sie konnte nicht so nah bei ihm stehen und sich nicht zu erkennen geben. Es war so lange her, seit sie privat miteinander gesprochen hatten. Oder überhaupt miteinander gesprochen hatten. Wie würde er sie aufnehmen? Würde er kalt und distanziert sein? Angenehm und höflich? Oder intensiv, wie … wie in einer anderen Nacht vor drei Jahren, als sie genau auf demselben Balkon gestanden hatten, unter dem Schein eines silbernen Mondes? Das war ein anderer Ball gewesen, eine andere Zeit …

Ihre Hand zitterte, als sie an der Schnur zog. Die Maske fiel nicht herunter. Sie zog fester und merkte, dass sich die Schnur verknotet hatte.

»Eure Hoheit«, sagte sie, aber gerade in diesem Moment öffnete sich die Tür auf der Seite des Balkons, auf der der König stand, Lady Estora eilte heraus, und er wandte seine Aufmerksamkeit seiner Verlobten zu.

Karigan zog sich in den Schatten zurück.

»Zacharias«, sagte Estora. »Es ist so kalt hier draußen. Ihr werdet Euch erkälten!«

»Ach, das glaube ich nicht. Die Luft ist so erfrischend.«

»Auf jeden Fall werdet Ihr vermisst, und es gibt etwas, das Ihr sehen solltet.« Sie nahm seinen Arm und führte ihn zur Tür.

»Schon gut.« Er ergriff seine Maske und hielt inne. Mit einem Blick in Karigans Richtung verbeugte er sich und lächelte ihr zu. Und dann war er fort.

Karigan rannte hinterher und sah ihnen nach, wobei ihr Atem das Glas der Tür beschlug. Das Paar schob sich Hand in Hand durch die Menge und blieb ab und zu kurz stehen, um mit den Gästen zu sprechen.

Karigan wandte sich ab und war drauf und dran, Perücke und Maske über die Balustrade zu werfen. Verdammt! Sie war ihm so nah gewesen. So nahe bei ihm, und nun war der Augenblick vorbei.

In einem Wutanfall trat sie gegen eine Säule der Balustrade.

»Au!« Die Säule war aus Granit. »Aua, aua, aua!« Sie hüpfte auf einem Fuß herum. »Verdammte, blöde Idiotin«, beschimpfte sie sich selbst und freute sich perverserweise über den Schmerz.

Nachdem sie sich beruhigt hatte, holte sie tief Luft, straffte ihre Schultern und hinkte auf ihrem schmerzenden Fuß in den Ballsaal zurück. Sie hatte genug von dem Maskenball und würde nun in ihre gemütliche Kammer im Reiterflügel zurückkehren.

Pfad der Schatten reiter4
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