ÄQUINOKTIUM
Laren bemühte sich, mit Zacharias Schritt zu halten, ebenso wie sein Sekretär Cummings und seine anderen Adjutanten. Der König stürmte von einer Ratssitzung in die andere. Während der Sitzungen selbst war er kurz angebunden und rastlos und traf rasche Entscheidungen. Wenn er genug hatte, kürzte er die Beratungen ab, eilte weiter und ließ fassungslose Würdenträger, Botschafter und Höflinge zurück.
Laren fand die abgekürzten Sitzungen zwar erfrischend, aber sie war sich nicht sicher, ob dies gut für die Diplomatie war.
Wenn Zacharias unterwegs zu seinem nächsten Termin die Flure entlangstürmte, musste Laren fast rennen, um seinen langen Schritten zu folgen. Selbst Colin hatte rosarote Bäckchen und sah aufgrund der Stimmung seines Lehnsherrn ganz bestürzt aus. Sperren hätte keine Chance gehabt. Der alte Mann lag mit einer gebrochenen Hüfte im Lazarettflügel, denn er war gestürzt, als er heute Morgen aus dem Bett aufgestanden war. Sie wusste, dass Ben sich unter Einsatz seiner besonderen Fähigkeit um den alten Kastellan bemühte. Inzwischen hatte Colin Sperrens Pflichten übernommen.
»Meinen Sie nicht, dass Sie mit ihm reden sollten?«, fragte Colin, der neben ihr hereilte. »Glauben Sie, dass er wegen Sperren aufgebracht ist?«
»Ich nehme an, es ist mehr als das«, antwortete Laren. In Wirklichkeit konnte sie ziemlich genau erraten, was in den König gefahren war. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Colin wirkte erleichtert.
Laren drängte sich durch die verschiedenen Adjutanten und Höflinge nach vorn und hastete an Zacharias’ Seite. Sie ergriff seinen Ärmel und sagte: »Darf ich ein Wort mit Euch reden?«
Er blieb so abrupt stehen, dass alle, die ihm folgten, beinah ausrutschten. Laren fand sich mehrere Schritte vor ihm.
Sein Gesicht war grimmig, gefährlich, zum Zorn bereit. »Was gibt es?«
»Ein privates Wort, Eure Hoheit«, sagte sie.
»Na gut.« Er riss die nächste Tür auf, sodass die Kopisten, die in dem Raum arbeiteten, erschreckt zusammenfuhren; er befahl ihnen zu gehen. Hastig gehorchten sie ihm. Laren folgte ihm in die Kammer, und er schloss die Tür mit einem nicht allzu sensiblen Knall. In der Kammer roch es intensiv nach Papier, und die Tinte auf den unvollendeten Dokumenten, die die Kopisten auf ihren Pulten liegen gelassen hatten, war noch nass.
»Nun?«, herrschte er sie an.
Laren verschränkte die Arme und sah ihm aus gleicher Höhe in die Augen, was nicht einfach war, da er so groß und seine Haltung so königlich war. Sie konnte in ihm kaum noch eine Spur des kleinen Jungen entdecken, den sie einst gekannt hatte. Der silberne Stirnreif, den er trug, wog zwar nicht viel, aber umso schwerer wog die Verantwortung, die er symbolisierte. Sein Träger war ein Mann, in dem große Kraft wohnte. Seine Körperkraft war nicht zu übersehen – sie hatte ihn beim Training mit Waffenmeister Drent beobachtet und zugesehen, wie er auch die störrischsten Hengste seinem Willen unterwarf. Man brauchte nur zu beobachten, wie er die Korridore durchschritt, um seine Kraft zu erkennen.
Doch es war die Kraft seines Verstandes, gepaart mit seinem Mitgefühl, das ihn zu einem guten König machte. Er war nicht nur ein Kriegerkönig, stets bereit, in die Schlacht zu reiten, sondern ein König, der sich Gedanken darüber machte, was für sein Volk am besten war.
Letzteres hatte ihm die Falten in die Stirn gegraben. Auch bei Königin Isen hatte sie beobachtet, wie schwer die Sorgen und die Verantwortung für ihr Reich auf ihr lasteten.
»Ich weiß, welcher Tag heute ist«, sagte Laren.
»Na und?«
»Falls Ihr darüber zu sprechen wünscht, bin ich für Euch da. Falls nicht … vergebt mir meine Offenheit, aber Euer Verhalten ist einfach zu viel für Eure Adjutanten, und alle anderen fragen sich, wodurch diese Unausgeglichenheit ihres Königs entstanden ist. Sie fürchten, dass etwas vorgeht, von dem sie nichts wissen.«
»Soll das etwa heißen, dass mein Verhalten launenhaft ist?«
»So könnte man das nennen, ja.« Sie lächelte, um ihren Worten den Stachel zu nehmen. Mit einem anderen König hätte sie niemals so offen reden können, aber ihre enge Verbundenheit mit Zacharias erlaubte es ihr.
Er ging nicht in die Luft, sondern entspannte sich sogar. »Ich glaube kaum, dass es noch irgendetwas bisher Unausgesprochenes zu sagen gäbe. Heute ist das Äquinoktium, der Tag, an dem unsere Leute auf meinen Befehl in den Schwarzschleierwald eindringen müssen.«
»Der Tag, an dem Karigan in den Schwarzschleierwald eindringen muss«, sagte Laren.
»Ja.« Sein Blick verlor sich in der Ferne. »Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte und wenn mein Rang es zugelassen hätte, dann hätte ich sie angefleht, diesen Auftrag nicht zu übernehmen, weil er so gefährlich ist, und weil ich den Gedanken nicht ertragen kann, sie …«
»Sie zu verlieren?«
Er nickte.
»Ich glaube, Karigan wird heil und ganz aus dem Schwarzschleierwald zurückkommen. Ich glaube eher, dass es der Wald ist, der diese Begegnung nicht überleben wird.«
Zacharias lächelte sogar. »Ja, ich bezweifle, dass der Wald nach ihrem Besuch noch derselbe sein wird wie vorher.« Hinter dem Lächeln lagen jedoch die Sorgenfalten, die ihr nun schon allzu vertraut waren. »Sie wollen also, dass ich etwas behutsamer vorgehe, wie? Dass ich mich nicht so … launenhaft verhalte?«
»Das wäre für alle Beteiligten eine Hilfe.«
»Es tut mir leid, Laren, aber ich habe das dringende Bedürfnis, weiterzukommen und möglichst viel zu erledigen.«
»Dann solltet Ihr vielleicht eine kleine Ablenkung erwägen.«
»Eine Ablenkung«, murmelte er. »Woran haben Sie gedacht? Ich will Drents Unterrichtsplan nicht durcheinanderbringen.«
»Ich, äh, hatte an etwas anderes gedacht.« Sie holte tief Luft und nahm allen Mut zusammen, um ihren Vorschlag zu unterbreiten. Als ihr der Einfall gekommen war, hatte sie ihn für sinnvoll gehalten, aber jetzt war sie nicht mehr so sicher. Zacharias verschenkte seine Gefühle nicht leichtfertig, aber andererseits war es auch nicht so, dass er noch nie ein Liebesabenteuer gehabt hätte.
»Nun?«, fragte Zacharias.
Sie räusperte sich. »Es wäre eine Möglichkeit für Euch, sowohl Eure Gedanken als auch Euren Körper zu beschäftigen.« Sie zögerte. Wäre es nicht besser, wenn ein anderer Mann so etwas zur Sprache brächte? Colin vielleicht? Aber sie hatte nun einmal damit angefangen, und Zacharias erwartete, dass sie zu Ende sprach. Sie konnte sich nicht mehr herauswinden. Sie atmete tief ein und sprudelte den Rest hervor. »Es ist mir gelungen, eine Liste akzeptabler Kurtisanen zusammenzustellen, die …«
»Kurtisanen?« Wieder überzogen Sturmwolken seine Miene und verzogen sich dann wieder. »Oh Laren, ich dachte, Sie würden mich verstehen.«
»Ich verstehe, dass Ihr ein erwachsener Mann seid, der Bedürfnisse hat. Ich dachte, eine solche Ablenkung würde Euch vielleicht helfen, zu vergessen, dass …«
»Karigan zu vergessen?« Er blieb vor einem Pult stehen und studierte das Dokument, das darauflag. »Wir haben über Ihre Besorgnis gesprochen, und ich bin mir meiner Pflicht dem Reich gegenüber sehr wohl bewusst. Aber der Gedanke, dass eine Kurtisane mir dabei helfen könnte, zu vergessen? Alle Kurtisanen der Welt mit all ihren Künsten könnten nicht ändern, was in meinem Herzen vorgeht, und wenn ich dennoch annehmen würde, was sie mir zu bieten haben, würde ich lediglich meine Wertschätzung für sie entehren. Für Karigan.«
»Es tut mir leid«, antwortete Laren. »Ich glaube nicht, dass ich Eure Gefühle unterschätze, aber Ihr habt dennoch Bedürfnisse.«
»Jeder Mensch hat Bedürfnisse, Laren, sogar Sie. Haben Sie für sich auch eine Liste von Kurtisanen zusammengestellt? Oder soll ich eine für Sie in Auftrag geben? Wie ich höre, gibt es einige durchaus annehmbare männliche Vertreter dieses Standes.«
»Was?«
»Eben.« Er warf ihr ein triumphierendes Lächeln zu. »Ich weiß zu schätzen, dass Ihnen mein Wohlergehen auch in diesem Bereich am Herzen liegt, und ich finde Ihre Anregung, mich abzulenken, gut – aber anders, als Sie es vorgeschlagen haben.« Er stürmte durch den Raum, und hinter ihm flatterten Dokumente von den Pulten. Er riss die Tür auf und rief: »Cummings! Streichen Sie den Rest meiner Termine für heute Nachmittag.«
Nur zwei Stunden später beobachtete Laren, als sie zu den Ställen der Reiter unterwegs war, dass Zacharias auf einem seiner Lieblingspferde ausritt, einem großen, gefleckten Hengst mit prächtigen Muskeln, der schwer zu beherrschen war. Aber Zacharias ritt ihn völlig mühelos, er war ein geborener Reiter. Sie freute sich, Lady Estora neben ihm auf einem schmalgliedrigen kastanienbraunen Jagdpferd reiten zu sehen, und außerdem waren Lordstatthalter Coutre und einige andere Höflinge dabei. Waffen folgten ihnen auf ihren geschmeidigen Rappen, dazu einige Mitglieder der Garde, Diener und die königlichen Falkner. Ein König begab sich selten ohne großes Gefolge irgendwohin, aber sie nahm an, dass er, sobald sie die Weite des Umlandes erreicht hatten, den Hengst durch sämtliche Gangarten treiben und dabei frei sein würde, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, frei zu denken, an wen und was er wollte, ohne dass ihn jemand unterbrach oder irgendetwas von ihm erwartet wurde.
»Hauptmann?«
Laren wandte sich um und entdeckte Ben Simeon, der auf sie zukam. Er hatte seinen Heilerkittel ausgezogen und trug wieder Reiterkleidung.
»Hallo Ben, hast du heute Nachmittag eine Reitstunde?« Nicht, dass es ihm je gelungen wäre, tatsächlich ein Pferd zu besteigen. Pferdemeisterin Riggs stand vor einem Rätsel und wusste nicht, wie er je seine Angst überwinden sollte.
»Ja«, sagte er bedrückt. Er sah müde aus, und seine Wangen waren bleich.
Sie erriet den Grund und fragte: »Wie geht es dem Kastellan?«
Bens Gesicht hellte sich auf. »Er ruht sich aus. Ich glaube, ich habe den Bruch wieder zusammengefügt. Die restliche Heilung hängt nun von ihm ab, aber er hat jetzt die Hüfte eines Zwanzigjährigen.«
»Du meine Güte!« Als sie zusammen zu den Reiterställen gingen, dachte Laren, dass die Gabe der wahren Heilung von allen Reiterfähigkeiten die wunderbarste war. Bevor er den Ruf der Reiter vernommen hatte, war Ben zum Heiler ausgebildet worden, und sie nahm an, dass seine frühere Schulung seine magische Fähigkeit steigerte, und dass umgekehrt seine frühere Ausbildung durch seine magische Fähigkeit vertieft wurde.
Natürlich war Ben im Lazarettflügel sehr gefragt, und Meister Destarion freute sich bestimmt, dass Ben mit Pferden nichts anfangen konnte. Laren befürchtete, dass Ben sich allzu sehr verausgabte. Wenn man seine Fähigkeit einsetzte, hatte das immer seinen Preis – einen Preis, den sie täglich in ihren Gelenken spürte. Sie nahm an, dass Ben wahrscheinlich einen noch höheren Preis bezahlte. Aus seinem ausgemergelten Äußeren schloss sie, dass er zu viel von sich selbst, von seiner eigenen Essenz hergab, um andere zu heilen. Sie musste später unbedingt mit Destarion darüber sprechen und inzwischen hoffen, dass es unter ihren neuen Reitern noch einen weiteren wahren Heiler geben würde.
Galen Miller kaute das Kraut, das ihm der Kräuterhändler gegeben hatte, und die Wundbläschen, die sich in seinem Mund gebildet hatten, brannten. Er brauchte immer mehr Kraut, um sein Zittern halbwegs zu beherrschen, aber oft bekam er davon fiebrige Schweißausbrüche, und er nahm die Wirklichkeit nur noch verschwommen wahr.
Manchmal wachte er morgens auf und sah den König vor sich, ganz in Schwarz gekleidet, genau wie seine Wachsfigur, die im Kriegsmuseum von Sacor-Stadt stand. Er hatte diese Wachsfigur genau studiert, um den echten König zu erkennen, sobald er ihn sah.
Doch in seiner Vision überragte ihn der König turmhoch, und neben ihm hing unbewegt und fest eine Henkersschlinge, deren Schatten sich pechschwarz von der Wand im Hintergrund abhob.
Hast einen Verräter großgezogen, was?, erklangen die plumpen Worte, die aus dem Mund des Königs kamen, aber nicht zu ihm zu gehören schienen.
»N-nein«, stotterte Galen dann, »einen guten Jungen. Clay war ein guter Junge.«
Dann schwebte der König vor ihm, und Galen wand sich vor Entsetzen auf seiner Pritsche, bis er wieder zu sich kam. Er durfte nicht mehr so viel von dem Kraut nehmen, nur genug, um seine Hände ruhig zu halten.
Anhand der Kerben, die er in die Deckenbalken seiner Dachstube geschnitzt hatte, wusste er, dass heute die Tagundnachtgleiche war. Allmählich fragte er sich, ob nicht alle seine Pläne sinnlos waren und sein Junge womöglich nie gerächt werden würde. Selbst mit den zusätzlichen Münzen, die ihm der Fremde vor Wochen geschenkt hatte, reichte sein Geld vielleicht nicht einmal, um sein Zimmer im Gasthof so lange zu behalten, bis der König endlich geruhte, seine Burg zu verlassen.
Mit zitternden Händen ergriff Galen seinen Becher, schlürfte das abgestandene Wasser und bemerkte gar nicht, dass er seine Brust bekleckerte. Als er fertig war, stellte er den Becher neben sein kostbares Kräuterbündel und ein kleines Fläschchen, das er ebenfalls dem Kräuterhändler für ein hübsches Sümmchen abgekauft hatte. Es enthielt den Abschluss seines langen Wartens.
Einer Eingebung folgend hatte er vor zwei Tagen einen winzigen Teil der kostbaren Flüssigkeit auf die mit Widerhaken versehenen Spitzen der beiden Pfeile geträufelt, die neben dem Fenster bereitlagen. Jeweils nur einen einzigen Tropfen. Der Kräuterkundige hatte behauptet, dass das Gift wochenlang wirksam bleiben würde. Er wollte das Überleben seiner Beute absolut ausschließen. Er würde nur einen Pfeil brauchen, der zweite war lediglich eine Sicherheitsvorkehrung. Ja, sein Junge würde seine Rache bekommen.
Er stand von seiner Pritsche auf, durchquerte den Raum und setzte sich auf das Fensterbrett, wobei er sich an den Fensterflügel lehnte. Er starrte auf die Straße hinunter und setzte die Wache fort, die er vor so vielen Wochen begonnen hatte.
Er war eingedöst, als ihn das Hufgetrappel mehrerer Pferde weckte, die die Straße herunterkamen. Als die Reiter in Sicht kamen, schlug Galens Herz schneller.
Sein langes Warten war vorbei.