DER DUNKLE ENGEL

e9783641094324_i0044.jpgGroßmutter zog sich ihren Umhang um die Schultern, obwohl sie selbst dazu fast zu schwach war. Lala war sofort an ihrer Seite, um ihr zu helfen.

»Gutes Kind«, sagte Großmutter und streichelte die Hand des Mädchens. »Gutes, gutes Kind.«

Sie waren immer noch in der Höhle, der düsteren, verfluchten Höhle, denn Großmutter war zu krank zum Reisen gewesen, sogar zu schwach, um sich zu bewegen. Vor einigen Tagen war ihre Hand angeschwollen – ein Spinnenbiss, vermutete sie  –, und darauf folgten starke Schmerzen am ganzen Körper und Fieber. Sie erinnerte sich schwach daran, dass sie Min angewiesen hatte, ihre Wunde aufzustechen und ein Zugpflaster aus Kräutern aus ihrem Reisesack aufzulegen, um das Gift herauszuziehen. Böse Träume gingen ihr durch den Kopf, Träume, in denen sie in ihrem eigenen Garn verstrickt wurde, und es brannte, brannte auf ihrer Haut, und finstere Wesen fraßen sie, während sie schrie, Fiebervisionen voller Blut und Entsetzen, die sie immer noch schaudern ließen.

Dann, eines Tages, Dank der Pflege ihres treuen Gefolges, war sie aufgewacht. Sie wachte einfach auf, schwach, hungrig und durstig. Deshalb waren sie während ihrer Genesung in der relativen Sicherheit der Höhle geblieben, und sie verfluchte ihre Schwäche und jede Minute, die sie dadurch auf ihrer Mission, die Schläfer zu wecken, verloren. Wenn sie doch nur ihre volle Kraft wiedergewinnen könnte.

Stattdessen war sie eine schwache, alte Frau, der die Haut von den Knochen hing und die sogar zu schwach war, allein ihren Umhang anzuziehen.

Deglin unterhielt das Feuer, um sie warm zu halten. Er hatte es sogar gewagt, nach draußen zu gehen, um Holz zu sammeln. Er war nicht weit gegangen und hatte die Grenze ihrer Schutzkreise nicht überschritten, die Gott sei Dank auch während ihrer Krankheit nicht versagt hatten.

»Irgendwas da draußen«, hatte er ihr einmal zugemurmelt, »behält uns im Auge.«

Ja, es gab Späher. Sie würde sich um sie kümmern, wenn es nötig wurde, aber im Moment war sie mehr daran interessiert, was sie erspähen konnte. Sie wollte ins Feuer sehen – vielleicht würde Gott wieder zu ihr sprechen und ihr Führung geben.

»Lala, Kind«, sagte sie. »Hol mir mein Garn.«

Lala rannte weg und kehrte innerhalb von Sekunden mit dem Garnkorb zurück. Mit zitternden Händen durchsuchte Großmutter die Garnknäuel. So ging es nicht.

»Kind«, sagte sie. »Du wirst mir mit den Knoten helfen müssen. Ich bin noch nicht kräftig genug.« Sie wollte nicht daran denken, zu welcher Katastrophe ein Fehler führen würde, da die ätherische Atmosphäre dieses Orts ohnehin so instabil war.

Lala hatte viel gelernt, weil sie immer aufmerksam zugesehen hatte und ständig das Fadenspiel spielte. Ihre flinken kleinen Finger flogen geradezu um jeden Knoten, den Großmutter nannte. Manchmal musste sie Lala an die Form erinnern, wenn das Mädchen zögerte, ihr junges Gesicht verwirrt. »Erinnerst du dich noch an den Knoten, wo das Häschen in das Loch hüpft?« Lala nickte dann ernst und vollendete den Knoten.

Als Lala den letzten Knoten geknüpft hatte, nahm Großmutter das verknotete rote Garn und inspizierte es genau. Ja, ihre kluge, liebe Enkelin hatte gute Arbeit geleistet. Aber würde es überhaupt gelingen, obwohl sie die Knoten nicht selbst geknüpft hatte? Sie hatte versucht, ihren Willen in die Knoten zu übertragen, als Lala daran arbeitete, aber sie war nicht sicher, ob das genügte. Deshalb riss sie sich ein paar drahtige graue Haare vom Kopf und verwob sie mit dem Garn, so gut sie konnte, wobei sie ihre Absicht erneut hineinprojizierte. Anschließend warf sie es ins Feuer und starrte und betete.

Sie musste sehr lange in die Flammen gestarrt haben, denn sie nickte dabei ein. Sie nahm ihre Leute nicht mehr wahr, und die Welt färbte sich grau, aber trotzdem war sie sich immer noch des knisternden Feuers bewusst. Formlose Träume, denen die Gewalt ihrer Fieberträume fehlte, kamen und gingen wie Tänzer, die in einem Ballsaal einen Walzer tanzten.

Ein Gesicht drängte sich in ihre Träume, gerade außerhalb der Flammen. Es war ein maskiertes Gesicht. Großmutter erwachte jäh und entdeckte, dass das Gesicht gar kein Traum war.

»Wer sind Sie?«, fragte sie herrisch.

Hinter der Maske starrten sie unheimliche Augen an. Sie starrten sie einfach an. Was hatte das zu bedeuten? Wer würde ihr in einer solchen Form erscheinen?

»Wer sind Sie?« Schweiß tropfte von Großmutters Schläfen. Die lustigen roten Pailletten und Federn der Maske verspotteten sie.

Die Gestalt antwortete nicht. Sie starrte nur.

Etwas bittender fragte Großmutter: »Was sind Sie?«

Die Flammen loderten auf, und die Maske wurde von einem geflügelten Helm mit Visier ersetzt, dessen Stahl so hell blitzte, dass es ihr fast wehtat, ihn anzusehen. Unzählige lebendige Symbole krochen über den Stahl, Symbole, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte und deshalb nicht deuten konnte.

Die Vision erweiterte sich und zeigte ihr eine Gestalt in voller Rüstung auf einem großen schwarzen Pferd. Sie kannte diesen Hengst – er war das Pferd des Todesgottes, den die heidnischen Sacorider anbeteten. Er war schwarz wie die Kohle ihres Feuers, die Brut von Dämonen. Er stolzierte und schnaubte, und sein Reiter war mit Schwert und Schild bewaffnet. Sie dachte, dass dies nicht der Todesgott selbst war, der da auf dem Hengst ritt, sondern irgendeine niedrigere Inkarnation. Trotzdem spürte Großmutter die Bedrohung, die von dem Paar ausging, und merkte, wie sich ihre Haare im Nacken sträubten.

Dann verschwand die Vision. Das Feuer war ein ganz normales Feuer, und sie nahm ihre Gefolgsleute wieder wahr, die in der Höhle herumgingen und sich unterhielten. Die Kälte kroch wieder in ihre Knochen. Lala berührte zögernd ihren Arm.

»Ja«, sagte Großmutter mit zitternder Stimme. »Ich habe etwas gesehen. Etwas Böses.« Die maskierte Gestalt, die auch der Reiter des schwarzen Hengstes war, war ein Betrüger. Ein Spion. »Ein Feind, der uns aus der Hölle geschickt wurde, um uns zu besiegen, während wir Gottes Werk tun. Ein dunkler Engel.«

Pfad der Schatten reiter4
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