DER DEMASKIERTE VETTER
Estora sank mit einer Tasse ihres Abendtees in einen Plüschsessel, der in den königlichen Gemächern stand. Ihre neuen Zimmer waren geräumig und elegant, aber unpersönlich. Im Lauf der Zeit würde sie sie nach ihrem Geschmack umgestalten, damit sie sich dort zu Hause fühlte.
Zeit, dachte sie. Woher nehmen?
Wie sollte sie über Stoffe und Farben und Materialien nachdenken, wenn in jedem wachen Augenblick Besucher erschienen, um ihr zu gratulieren oder sie um einen Gefallen zu bitten? Oder Cummings mit seinen endlosen Listen der Beratungen, Feste und Anträge? Oder die Boten, die ihr Neuigkeiten aus dem Reich überbrachten, und Briefe von Menschen, die nun ihre Vasallen waren? Oder Colin, der mit ihr über die Organisation der Burg und des Reiches konferieren wollte? Oder, oder, oder!
Sie seufzte. Die einzige friedliche Zeit, die sie für sich beanspruchen konnte, waren ihre Besuche bei Zacharias. Destarion war vorsichtig optimistisch: Der Zustand ihres Mannes hätte sich gebessert. Er schlief ruhiger, sein Fieber war gesunken, und seine Wunde verheilte gut. Er war einige Male kurz aufgewacht, und seine Lider hatten sich kurz gehoben, aber es war schwer zu sagen, wie viel er in diesen kurzen Momenten wahrnahm. Allzu schnell war er wieder weggesackt. Das lag zum Teil daran, behauptete Destarion, dass man ihm ein Schlafmittel verabreichte, damit er sich entspannte und sein Körper Zeit hatte, sich auszuruhen und zu heilen.
Abgesehen von ihren Besuchen bei Zacharias ließ man Estora nur in Frieden, wenn sie zu Bett ging. Meist war sie von den Anstrengungen des Tages so erschöpft, dass sie tief und fest schlief. Wie sollte sie auch in dem riesenhaften Baldachinbett nicht gut schlafen, dessen Matratze weicher war als alles, worauf sie je gelegen hatte?
Ellen, ihre Waffe, betrat den Salon. »Eure Hoheit?«
»Ja?«
»Lord Spane wünscht Euch zu sehen.«
Richmont. Was wollte er um diese Zeit? Sie nahm an, dass er in der ganzen Burg und im Adelsviertel der Stadt seine Intrigen gesponnen hatte, um seinen neuen, hohen Rang bei Hof zu festigen. Man hatte ihm kein offizielles Amt verliehen, aber er hatte als selbstverständlich vorausgesetzt, dass er ihr, genau wie davor ihrem Vater, als persönlicher Ratgeber und Vertrauter diente. Sie zog ihn keinem anderen vor, aber im Augenblick hatte sie sonst niemanden.
»Meine Herrin«, säuselte er schleppend, als er den Salon betrat und sich rasch verbeugte. »Können wir persönlich miteinander sprechen?« Er warf Ellen einen vielsagenden Blick zu.
Mit einem Nicken entließ Estora die Waffe, die wieder draußen Posten bezog. »Was gibt es, Richmont? Es war ein anstrengender Tag, und ich möchte zu Bett gehen.«
Er schenkte ihr ein seidiges Lächeln, das ihr nicht gefiel.
»Eure Bereitschaft, zu Bett zu gehen, ist ja gerade der Grund meines Kommens«, sagte er. »Ihr habt heute Nacht noch eine Pflicht zu erfüllen.«
»Kann das nicht warten? Morgen früh ist doch wohl noch Zeit genug. Oder handelt es sich um einen Notfall?«
Richmonts Lächeln vertiefte sich. »Aber jetzt ist es Zeit, zu Bett zu gehen. Solltet Ihr nicht das Bett Eures Mannes aufsuchen, wie es einer jungen Ehefrau ansteht?«
Sie stellte die Teetasse ab, die in der Untertasse schepperte. »Er ist verletzt, krank. Das wisst Ihr doch. Er schläft besser, wenn ich nicht da bin.«
»Dennoch verlangt die Eheschließung eines Königs und einer Königin, dass gewisse Traditionen gewahrt werden. Die Zeugen haben sich bereits versammelt.«
»Ihr könnt doch nicht ernsthaft vorschlagen, dass wir den Vollzugsritus durchführen? Er ist krank, Richmont.«
»Sämtliche Könige und Königinnen vor Euch haben das Ritual vollzogen, und ebenso auch sämtliche Lordstatthalter, darunter auch Eure Eltern, und zwar bedingungslos. Selbstverständlich ist uns allen der Zustand des Königs bekannt, deshalb wird der Akt eher … symbolisch sein. Dennoch muss er durchgeführt werden, um die Lordstatthalter zufriedenzustellen, damit Euer neuer Rang als Regentin weiterhin unanfechtbar bleibt.«
»Oh ihr Götter«, murmelte sie und schüttelte den Kopf.
Estora war sicher, dass die meisten Paare von Natur aus ihre Hochzeitsnacht und auch die folgenden Nächte gern miteinander verbringen wollten, um gemeinsam ihre Pflicht zu erfüllen, aber in der Gegenwart anderer Menschen? Sie nahm an, dass die ganze Tradition des Ehevollzuges vor Zeugen von Leuten aufrechterhalten wurde, die davon erregt wurden, ihren Herrschern beim Geschlechtsakt zuzusehen.
»Ich könnte ein neues Gesetz erlassen, das den Ritus aufhebt«, überlegte Estora, und als sie darüber nachdachte, erschien ihr die Idee nicht schlecht.
»Das könntet Ihr«, stimmte Richmont zu, »aber dann würden die Lordstatthalter ganz bestimmt Euer Recht zu herrschen anfechten.«
Sie stand auf und ging auf und ab, und ihr Gewand bauschte sich über ihren Füßen. Dann blieb sie stehen. »Zacharias ist jedenfalls nicht dazu in der Lage. Er ist nicht einmal bei Bewusstsein.«
»Destarion sagt, er sei zwischendurch einige Male kurz zu sich gekommen. Und Ihr unterschätzt die körperliche Begierde des Mannes. Wie ich bereits erwähnte, wird die heutige Nacht mit Rücksicht auf Zacharias’ Zustand rein symbolisch verlaufen. Wir ersuchen Euch lediglich, an seiner Seite zu schlafen.«
»Und das wird Ihre Zeugen zufriedenstellen?«
»Was das Ritual angeht, ja. Dass sie sich dabei allerdings ein Vergnügen erhoffen können, bezweifle ich.«
»Es ist wirklich unglaublich. Angeblich bin ich die Königin, aber dennoch sagen mir alle anderen, was ich zu tun habe. Und selbst die heiligsten und privatesten Dinge müssen vor Publikum stattfinden.«
»Ich schlage vor, Ihr gewöhnt Euch daran. Dies ist nun einmal das Leben, das Ihr nun führt. Also, werdet Ihr den Akt willig vollziehen. Oder muss ich Euch gewaltsam in sein Bett zerren?«
»Richmont, Euer Ton gefällt mir nicht. Ihr habt keinerlei Befehlsgewalt über mich, und überdies weiß ich noch gar nicht, ob ich Euch überhaupt in meinem Hofstaat behalten will.«
Er näherte sich ihr, packte ihr Handgelenk und drückte es. »Das solltet Ihr nochmals überdenken«, fauchte er.
»Ihr tut mir weh«, protestierte Estora.
Er zog sie noch näher, so nah, dass sie die Hitze seines Körpers spürte. Sein Gesicht war zu einer hässlichen Grimasse verzerrt, die sie bei ihm noch nie gesehen hatte.
»Ich habe lange und schwer gearbeitet, damit all dies geschehen konnte«, zischte er. »Ihr werdet meine Pläne nicht durchkreuzen.«
»Wovon sprecht Ihr?« Sie versuchte, ihm ihren Arm zu entreißen, aber sein Griff war so fest wie eine stählerne Handschelle.
»Ihr werdet mir nicht alles ruinieren. Ich habe mich so viele Jahre abgemüht, für Euch, für Euren Vater und für mich selbst.« Er ließ sie los, und sie entfernte sich voller Entsetzen von ihm und rieb ihr Handgelenk.
»Ich vermute stark«, fuhr er fort, »dass ich Euch dazu bringen kann, meinen Wünschen zu willfahren, sei es nun freiwillig oder unfreiwillig.«
»Wovon sprecht Ihr?«
»Ich sage, teure Cousine, dass ich gewisse Dinge über Euch weiß, die Euch und dem Rang, den Ihr sowohl innerhalb des Reiches, als auch im eigenen Klan bekleidet, irreparablen Schaden zufügen könnten. Ich weiß, was sich zwischen Euch und einem gewissen Reiter namens F’ryan Coblebay abgespielt hat.«
»Zacharias weiß bereits über F’ryan und mich Bescheid.« Richmont grinste höhnisch. »Ja, und Coblebay ist tot und begraben, aber es gibt genügend einflussreiche Personen, die immer noch nicht wissen, dass Zacharias Eure … befleckte Tugend akzeptiert hat. Und Zacharias ist momentan und womöglich auch in Zukunft nicht in der Lage, Euch zu verteidigen. Es gibt genügend konservativere Würdenträger, die über Eure Affäre mit einem Gemeinen entsetzt wären. Es wäre ihnen ein wichtiges Anliegen, Euren Ruf innerhalb des Reiches zu schädigen. Das Volk erwartet, dass der König eine reine Jungfrau heiratet, die nicht von irgendeinem niedrigen Boten entehrt wurde. Wenn Ihr meinen Wünschen nicht nachkommt, kann ich die Geschichte ausbauen, mit ein paar schlüpfrigen Einzelheiten schmücken und sie in der ganzen Welt in Umlauf bringen.«
Estora wurde es eiskalt. Er hatte recht, was die Traditionalisten und ihre Reaktion betraf. Da ihr Vater zu ihnen gehört hatte, war sie mit ihrer Denkweise vertraut. Es gab viele Leute, die sie verdammen würden, auch wenn sie ihr eben erst bei ihrer Hochzeit zugejubelt hatten. Man könnte sie zum Exil verdammen, oder noch Schlimmeres. Und was würde dann aus dem Reich werden? Es würde im Chaos versinken, dabei hatten sie das Hochzeitsritual durchgeführt, um genau das zu verhindern.
»Würde das nicht auch die Pläne durchkreuzen, die Ihr für Euch selbst geschmiedet habt?«, fragte sie ihn aufgebracht.
»Ich bin auf sämtliche Eventualitäten bestens vorbereitet«, erwiderte er und schien sich blendend zu amüsieren. »Ich kann nicht nur Euren Ruf zerstören, sondern auch den Eurer ganzen Familie. Ich könnte zum Beispiel Zweifel an Eurer Abkunft säen.«
»Meine Abkunft!«
Er sah sie abschätzend an. »Ihr ähnelt Eurer Mutter, aber von Eurem Vater sehe ich nichts in Euren Zügen. Ist Euch nie aufgefallen, dass Eure Schwestern ganz anders aussehen als Ihr?«
»Richmont!«
»Ich scheine mich zu erinnern, dass Eure Mutter vor einer bestimmten Anzahl von Jahren ein Auge auf einen gewissen Spielmann geworfen hat. Er kam und sang und spielte am Tag des Aeryon-Festes. Hmm, das wäre genau der Zeitpunkt gewesen, an dem …«
»Wie könnt Ihr es wagen!«
»Oh, das ist kein Wagnis. Ich kann nicht nur Eure Abkunft infrage stellen, sondern auch alles, was Euer Vater jemals getan hat. Beziehungsweise in diesem Fall, was er nicht getan hat.« Er lachte. »Möglicherweise sind aber Eure Schwestern die Bastarde. Ob Eure Schwester wohl stark genug ist, die Provinz Coutre zu regieren, wenn ich meine kleine Anekdote durchsickern lasse? Schon die Ahnung eines Gerüchts, schon eine versteckte Andeutung kann sie zu Fall bringen. Die Leute werden ihre eigenen Schlüsse ziehen. Und wenn ich die Blutlinie Eures Vaters in Verruf gebracht habe, werden sie sich an mich wenden, an meine Blutlinie, um die Regierung der Provinz zu übernehmen.«
Estora krallte ihre Hände in ihre Seiten, um sie daran zu hindern, ihm die Augen auszukratzen. Sie kochte innerlich. Es stimmte: Wenn die Blutlinie ihres Vaters scheiterte, fiel die Lordstatthalterschaft der Provinz Coutre an Richmont.
»Sagt mir«, sagte sie und bemühte sich, ihre Stimme zu beherrschen, »warum ich meinen Wachen nicht befehlen soll, Euch zu verhaften, weil Ihr die Königin bedroht habt? Ich könnte augenblicklich meine Waffe hereinrufen.«
»Das werdet Ihr nicht tun, denn ich bin nicht müßig gewesen und habe Freunde gewonnen, wichtige und mächtige Freunde. Diese Freunde sind mir gewogen, aber Euch nicht unbedingt, und ich habe einem zuverlässigen und treuen Leibdiener gewisse Briefe zur Aufbewahrung gegeben, die er diesen Freunden übergeben wird, falls mir irgendetwas zustoßen sollte. Diese Briefe sind voll mit meinen kleinen Anekdoten, und meine Freunde werden sie sofort weiterverbreiten.«
»Natürlich«, fügte er hinzu, als sei ihm der Gedanke gerade erst gekommen, »beruht ihre Freundschaft nicht unbedingt auf wechselseitigem Vertrauen, aber ich kenne ihre Geheimnisse ebenfalls. Ein winziges Flüstern in die Ohren der richtigen Person kann sehr wirkungsvoll sein, wie Ihr wisst. Es kann das Leben vieler Menschen ruinieren und ganze Regierungen stürzen.
Macht Euch klar, teure Cousine, dass beim kleinsten Fehltritt Eurerseits das ganze Reich nicht nur von der Verworfenheit Eurer Blutlinie erfahren, sondern dies auch glauben wird.«
Estora weigerte sich, zu weinen oder sonst irgendeine Schwäche zu zeigen. Sie hätte am liebsten geschrien, aber sie musste Ruhe bewahren. Sie hob ihr Kinn. »Mein Vater hat Euch geliebt wie seinen eigenen Sohn, der ihm versagt blieb, und Ihr habt ihn betrogen.«
»Seine Gefühle für mich machten es mir einfacher, ihn zu manipulieren. Wenn ich ihn zum Beispiel nicht davon überzeugt hätte, Euch für den König aufzubewahren, hätte er Euch mit Alton D’Yer verheiratet, oder mit diesem Welpen von einem Lordstatthalter in Penburn. Wie könnt Ihr behaupten, ich hätte ihn betrogen? In Wahrheit erfülle ich lediglich seinen Wunsch, Euch zur Königin des Reiches zu machen. Ich werde meine Taktik nur dann ändern, wenn Ihr mich betrügt und alles, was wir für Euch getan haben, ruiniert. Wenn Ihr meinen Wünschen nachkommt, profitieren wir beide davon. Und wenn Ihr dies nicht tut, dann profitiere ich trotzdem, nur auf andere Weise.
Nun ist es Zeit, Euren Gemahl zu sehen. Ich nehme an, Ihr habt mich verstanden?«
»Nur allzu gut, scheint mir.« Estora schauderte angewidert. »Ihr habt mir heute Abend über viele Dinge die Augen geöffnet, Richmont.« Tatsächlich hatte er seine Maske als liebender Vetter fallen lassen, und da sie nun wusste, was für ein Mensch er in Wirklichkeit war, konnte sie ihn scharf beobachten. Irgendwann würde seine Selbstsucht mit ihrer Sorge um das Wohlergehen des Reiches kollidieren. Hätte er ihr sein wahres Gesicht und seine Machenschaften nicht in dieser Nacht enthüllt, hätte sie keine Ahnung von seinen Plänen gehabt, bis es zu spät gewesen wäre.
Er verneigte sich spöttisch.
»Nun gut«, sagte sie. »Dann wollen wir es hinter uns bringen.«
Estora ging voraus in den Korridor, der ihre und Zacharias’ Privatgemächer miteinander verband. Dort wurde sie von Colin, Ellen und ihrer Zofe erwartet. Estora wandte sich an die Waffe.
»Ellen«, sagte sie, »bitte sorgen Sie dafür, dass Sie und die anderen Waffen, die zu meiner Bewachung eingeteilt sind, Lord Spane keinen Zugang in meine Privaträume gewähren. Wenn er mich zu sehen wünscht, wird er genau wie alle anderen einen Termin mit Cummings vereinbaren.«
»Ja, Eure Hoheit«, sagte die Waffe.
Der mörderische Blick, den Richmont ihr zuwarf, ließ sie erzittern, aber sie ging mit geradem Rücken und hocherhobenem Haupt den Korridor entlang. Dies war nur ein kleiner Ausdruck des Widerstandes gewesen, aber zumindest hatte sie ihrem Vetter damit bewiesen, dass er sie nicht völlig in der Hand hatte. Da sie nun seine wahre Gesinnung kannte, würde sie Mittel und Wege finden, um sich zu schützen, und Zacharias und ihre Familie ebenfalls. Aber wie schützte man sich vor Lügen, die sich schneller verbreiten würden als ein Steppenbrand? Er hatte sogar sie selbst dazu gebracht, an ihrer Abkunft zu zweifeln. Ob an seiner Geschichte mit dem Spielmann irgendetwas Wahres war? Die Vorstellung, ihre Mutter sei untreu gewesen … Nein, es war unmöglich. Nicht ihre konservative, pflichtbewusste Mutter, die ihren Mann geliebt hatte.
Als Estora Zacharias’ Boudoir betrat, musste sie sich diese Sorgen aus dem Kopf schlagen, denn vor ihr lag eine andere Aufgabe, die sie in dieser Nacht erfüllen musste. Sie ging ins Schlafgemach voran, um ihre eheliche Pflicht zu erfüllen.