DER PFEILWIESENWEG
Karigan hüllte sich in einen alten Wollmantel, wickelte sich den Schal um den Hals, den Tante Brini ihr aufgedrängt hatte, und zog dicke Fäustlinge an. Im Schlitten lagen eine raue, dicke Decke, die sie und ihr Vater sich über die Beine legen konnten, und außerdem mehrere vom Meer glatt geschliffene Steine, die im Herdfeuer erhitzt worden waren, um ihre Füße zu wärmen.
Ihr Vater nahm die Zügel und die Kutschpeitsche, schnalzte als Signal für die Pferde Roy und Birdy mit der Zunge, und der Schlitten setzte sich in Bewegung. Die Sonne hatte die Wolken durchbrochen, und Schnee taumelte von den Ästen der Tannen herab, als sie die Einfahrt hinunterglitten.
Die Luft war milder, nicht mehr so bitterkalt, und das Zwitschern der Vögel erinnerte Karigan daran, dass der härteste Teil des Winters nun vorbei war und der Frühling bald kommen würde.
»Warum fahren wir in die Stadt?«, fragte Karigan.
»Das wirst du schon sehen.«
Etwas irritiert kuschelte sich Karigan unter die Decke. Trotzdem sagte sie nichts weiter, denn sie wusste, dass ihr Vater ihr sein Vorhaben preisgeben würde, sobald er es für richtig hielt, und keinen Augenblick früher, egal, wie sehr sie auch in ihn drang. Also schwieg sie, während die Pferde in stetigem Rhythmus durch die Schneewehen trabten und ihr Geschirr fröhlich klimperte.
Das Anwesen der G’ladheons lag im Umland von Corsa, und als sie auf die Hauptstraße stießen, erhöhte sich ihr Tempo, denn die Straßenwärter hatten bereits die Schneewehen beseitigt und den Schnee auf dem Boden fest zusammengepresst. Solche Dienste waren im Reich dünn gesät, aber Corsa florierte, und die Stadtoberhäupter kümmerten sich nicht nur um den Hafen, sondern auch um die Straßen, denn sie wussten, dass der Handel sich zwar größtenteils im Hafenviertel abspielte, dass die Güter aber trotzdem über Land transportiert werden mussten. Sie waren der Meinung, eine sorgfältige Pflege der Straßen würde den Wohlstand der Stadt unterstützen und ihren Ruf als führenden Handelshafen des ganzen Gebiets stärken.
Bald lichteten sich die Wälder und gaben den Blick auf Felder und Weiden frei. Der Schnee lag glatt und unbefleckt wie dicker Rahm über der Landschaft, unterbrochen nur von den gewundenen Spuren von Hasen und Füchsen. Die Häuser wurden häufiger, als sie sich Corsa näherten. Karigan spürte nun auch die Nähe des Meeres, dessen feuchter Duft in der Luft lag. Und immer noch schwieg ihr Vater. Er saß nur da, dirigierte sanft die Pferde und hatte seinen Blick fest auf die Straße geheftet.
Im Stadtgebiet von Corsa säumten Wohnhäuser und Läden die Straßen zu beiden Seiten, und überall schaufelten Leute den Schnee von ihren Eingangsstufen. Kinder spielten auf der Straße und bewarfen sich gegenseitig mit Schneebällen, und einige Bewohner kämpften sich beim Einkaufen mit vorsichtigen Schritten vorwärts.
Ihr Vater brachte den Schlitten vor dem Laden eines Geflügelhändlers zum Stehen, in dessen Schaufenster gerupfte Hühner, Gänse und Truthähne auslagen.
»Ich bin gleich zurück«, sagte er. Er sprang vom Schlitten, ging in den Laden und kam ein paar Minuten später mit einem großen, bratfertigen Truthahn zurück, den er hinten in den Schlitten legte.
Vor anderen Läden ließ er sie erneut warten und kehrte mit einem großen Käselaib, einem Sack Mehl, einem Krug Melasse, einem kleinen Fass Butter und anderen Lebensmitteln zurück. Karigan sah erstaunt zu, wie sich der hintere Teil des Schlittens mit Waren füllte. Sie hätte nicht gedacht, dass die Vorratskammer der Köchin so leer war.
»Was soll …?«, begann sie zu fragen, als er sich endlich wieder zu ihr setzte und die Zügel aufnahm.
»Du wirst schon sehen«, sagte er.
Er lenkte den Schlitten in die Gartenstraße – keine besonders gartenreiche Gegend, selbst außerhalb des Winters. Dennoch war es eine achtbare Straße, in der Händler und Handwerker der Mittel- und Unterschicht lebten. Ihre Häuser standen dicht nebeneinander, und Rauch stieg aus den Schornsteinen auf.
Vor einem hohen, schmalen Haus mit Zedernholzverkleidung, das genau wie alle anderen aussah, brachte ihr Vater die Pferde zum Stehen.
»Dies ist das sogenannte Gartenhaus«, sagte er, sodass sie vor Überraschung zusammenfuhr. »Wir werden hier einen kurzen Besuch machen. Es ist höchste Zeit, dass ich dich hierher bringe, denn als meine Erbin wirst du eines Tages sein Hüter sein.«
Wovon redete er nur? Bevor sie ihn fragen konnte, sagte er: »Beobachte alles und hör gut zu, dann wirst du es schon verstehen.«
Er legte den Pferden Decken über und nahm einen Korb aus dem Schlitten, ließ aber den Rest seiner Einkäufe liegen. Er schritt auf das Haus zu, und Karigan blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Ihr Vater lief die Eingangstreppe hinauf und klopfte an die Tür. Wenige Minuten später wurde sie von einer mütterlichen, grauhaarigen Frau geöffnet. Sie lächelte sofort.
»Meister G’ladheon!«, rief sie.
»Guten Tag, Lona«, sagte er. »Wie geht es Ihnen?«
»Ausgezeichnet«, antwortete die Frau, »und jetzt, wo ich Sie sehe, sogar noch besser. Kommen Sie herein, kommen Sie schnell aus der Kälte herein!«
Karigan folgte ihrem Vater in den schwach beleuchteten Korridor und spürte, dass andere Menschen hinter Türen und Ecken hervorspähten.
Ihr Vater überreichte Lona den Korb. »Frischgebackene Haferbrötchen«, sagte er.
Sie hob das Tuch, das den Korb bedeckte. »Oh! Die sehen aber köstlich aus!«
»Draußen auf dem Schlitten ist noch mehr«, sagte ihr Vater.
»Oh, Meister G’ladheon, das wäre doch nicht nötig gewesen!«
Er grinste. »Da bin ich ganz anderer Meinung.«
»Jed! Clare!« Ein Knabe und ein Mädchen rannten auf Lonas Ruf die Treppe herunter. »Master G’ladheon hat uns etwas mitgebracht. Bitte ladet seinen Schlitten aus.«
Ohne sich damit aufzuhalten, ihre Mäntel anzuziehen, sausten die Kinder aus der Tür.
»Sie müssen mit uns Tee trinken«, sagte Lona und betrachtete Karigan neugierig.
»Ich fürchte, dazu haben wir keine Zeit. Ein andermal vielleicht. Aber ich möchte Ihnen meine Tochter Karigan vorstellen. Eines Tages wird sie die Hüterin des Gartenhauses sein.«
Lona machte einen feierlichen Knicks vor Karigan. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Herrin.«
»Gleichfalls«, sagte Karigan ratlos.
»Wir sind sehr dankbar für alles, was Ihr Vater und die Herrin Silva für uns getan haben«, sagte Lona.
Bei der Erwähnung der Besitzerin des Goldenen Ruders warf Karigan ihrem Vater einen scharfen Blick zu. Das Gartenhaus wirkte absolut nicht wie ein Bordell und sah auch nicht so aus. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.
»Haben wir irgendwelche neuen Bewohnerinnen?«, fragte ihr Vater.
Lona nickte und schaute den Gang entlang. »Vera, Liebes, bitte komm her und begrüße Meister G’ladheon. Du brauchst nicht schüchtern zu sein, er ist sehr nett.«
Eine Gestalt schälte sich aus dem Schatten einer Tür und hinkte auf sie zu. Als sie ins Licht trat, setzte Karigans Herz einen Schlag aus. Der größte Teil ihres Gesicht war von Brandnarben verunstaltet. Karigan musste sofort an ihre Freundin Mara denken, deren Gesicht ebenfalls schlimm gebrandmarkt worden war, als die Reiterbaracke niederbrannte. Karigan schätzte, dass die junge Frau etwa in ihrem Alter war. Sie kam nicht allzu nah heran.
»Vera«, sagte Lona, »das sind Meister G’ladheon und seine Tochter Karigan.«
Vera machte einen Knicks, sprach aber nicht.
»Guten Tag, Vera«, sagte Karigans Vater mit einem Nicken. »Sie sollen wissen, dass Sie uns hier herzlich willkommen sind. Sie können bleiben, so lange Sie wollen. Hier sind Sie in Sicherheit.«
»Danke schön«, sagte Vera mit unsicherer Stimme und zog sich in den Schatten zurück.
Lona schob sich an Karigan und ihren Vater heran und raunte mit vertraulicher Stimme: »Veras Mann hat ihr das angetan. Er hat sie mit Lampenöl übergossen und angezündet, nur, weil sie sein Abendessen nicht rechtzeitig fertig hatte.« Karigan hörte den Zorn in Lonas Stimme. »Er hat auch noch andere Dinge getan. Jemand aus dem Gesinde der Herrin Silva hat sie vom Flusshafen zu uns gebracht. Wir hielten es für das Beste, sie weit entfernt von ihrem Ehemann zu verstecken.«
Karigan warf ihrem Vater einen Blick zu und sah, dass er voller Zorn die Augenbrauen runzelte. »Da hatten Sie ganz recht«, sagte er.
Genau in diesem Augenblick kamen Jed und Clare zurück, die Arme beladen mit den Lebensmitteln, die Karigans Vater gekauft hatte.
»Meister G’ladheon, das ist ja viel zu viel!«, rief Lona.
»Draußen ist noch viel mehr«, sagte Jed mit großen Augen.
Karigans Vater grinste nur.
Lona beschloss, dass Karigan die übrigen Bewohnerinnen des Gartenhauses kennenlernen sollte. Sie bildeten eine lange Schlange, und jede einzelne machte vor Karigan einen Knicks. Die meisten waren junge Frauen, und manche hatten Kinder, darunter ein paar Säuglinge.
Ihr Vater begrüßte jede mit ihrem Namen und bekam dafür einen Kuss oder ein Lächeln. Keine war so schüchtern wie Vera. Inzwischen schleppten Jed und Clare die restlichen Lebensmittel vom Schlitten herein.
Der Truthahn erntete aufgrund seiner Größe viele erstaunte und bewundernde Ausrufe, denn neben ihm sah Jed wie ein Zwerg aus. Nochmals lud Lona sie ein, zum Tee oder zum Abendessen zu bleiben, aber Karigans Vater lehnte erneut ab.
Sie verabschiedeten sich und gingen schweigend zum Schlitten zurück, während die Bewohner des Gartenhauses sie beobachteten und ihnen vom Eingang und aus den Fenstern zuwinkten.
Als Karigans Vater den Pferden die Decken abnahm, fragte sie: »Was war das denn? Wer sind all diese Leute?«
»Menschen, die eine schwere Zeit durchleben. Manche wurden von Leuten, die sie eigentlich lieben und beschützen sollten, schwer verletzt oder misshandelt. Das Gartenhaus bietet ihnen eine Zuflucht, weil sie sonst nirgendwohin können.
Ursprünglich war es Silvas Idee, und sie gründete das erste derartige Haus am Flusshafen. Es wird Flusshaus genannt. Sie sucht Misshandelte, Menschen, die keinen Zufluchtsort haben, und gibt ihnen ein Zuhause, so lange sie es brauchen. In ihrem Beruf hat sie oft Gelegenheit, solche Leute zu finden.« Er legte die Decken hinten in den Schlitten und beide kletterten auf die Bank. Karigan spürte die Kälte sogar durch ihren Hosenboden hindurch.
»Aber warum… ?«, begann sie.
Er schnalzte Roy und Birdy zu. »Sagen wir, dass Silva einmal in einer ähnliche Lage war wie diejenigen, denen sie heute hilft. Ein Fremder, der ihr einmal half, hat sie dazu inspiriert, anderen zu helfen.«
»Warst du das?«
Er lächelte geheimnisvoll. »Silva und ich kennen uns schon sehr lange.«
Karigan war froh, dass er und Silva Menschen halfen, die in Not geraten waren, aber es fiel ihr schwer, das Goldene Ruder und das Gartenhaus als Teile derselben Gleichung zu betrachten.
»Silva führt ein Bordell«, sagte sie.
»Ja, das stimmt«, bestätigte ihr Vater. »Das ist ihr Bereich. Und sie behandelt alle, die bei ihr arbeiten, sehr gut. Sie zwingt sie nicht, zu arbeiten oder bei ihr zu bleiben.«
Karigan erinnerte sich, dass Trudy, eine der Prostituierten im Goldenen Ruder, sehr anerkennend über Silva gesprochen hatte. Aber es war dennoch ein Bordell, ein Etablissement, das von willfährigen Mädchen profitierte. Das war ein erniedrigender Beruf, und es war einfach Unrecht.
Ihr Vater lenkte den Schlitten durch die Hauptstraße von Corsa, vorbei an Läden, in denen man exotische Teesorten, Gewürze und andere Güter aus fernen Ländern kaufen konnte, und vertrauten Gebäuden, die Karigan noch aus ihrer Kindheit kannte: die Bank- und Zollhäuser, die eindrucksvolle Residenz des Lordbürgermeisters und die Büros der wichtigen Händler, darunter auch das ihres Vaters. Im Vorbeifahren erkannte sie die prächtige Granitfassade.
Eine angrenzende Straße beherbergte unter anderem die Zunfthäuser der Händler, Böttcher und Hafenarbeiter. In einer weiteren Straße befanden sich die Wohnhäuser der Frachtarbeiter und Schiffsbauer. Alles war friedlich und würde auch so bleiben, bis im Frühling die Handelssaison begann.
Sie hielten auf der Kuppe eines Hügels an, von der die Straße direkt zum Hafen abfiel, um die Aussicht zu genießen. Der Hafen strotzte geradezu vor Schiffsmasten; manche Schiffe hatten an Werften angedockt, andere waren in der Bucht verankert oder an Bojen vertäut. Da der Schnee den üblichen Schmutz des Hafens zudeckte, sah das alles sehr malerisch aus. Die Fallen und Netze, die Warenstapel und Fässer, all die typischen Utensilien eines geschäftigen Hafens waren lediglich sanfte Erhebungen unter der Schneedecke.
Möwen standen reihenweise vor den Werften, und Wellen klatschten gegen hölzerne Schiffsrümpfe. In einiger Entfernung entdeckte Karigan eine Gruppe Eiderenten auf dem Wasser, völlig unbeeindruckt von den Strömungen, die der Sturm verursacht hatte. Die Sonne würde bald untergehen, die Ränder der Haufenwolken färbten sich schon orange, und die kleinen Inseln draußen vor dem Hafen waren nur noch mit Tannen und Fichten gekrönte Silhouetten.
Eine verfallene Burg aus dem Zweiten Zeitalter ragte kantig über die Landspitze einer größeren Insel, die vor dem Hafeneingang lag wie ein geisterhafter Wachtposten, dem kein vorbeifahrendes Schiff entging. Mordivelleo L’Petrie, ein Klanhäuptling der alten Zeit, hatte diese Burg gebaut. Er hatte den Wert des Hafens erkannt und ihn tapfer gegen alle verteidigt, die ihm seine Herrschaft darüber streitig machen wollten, insbesondere Piraten und Eroberer aus fremden Ländern. Als er einen besonders brutalen Angriff des Unteren Reiches zurückgeschlagen hatte, wurde er offiziell zum Prinzen der Region ernannt, zu der der Hafen gehörte und die die heutige Provinz L’Petrie bildete.
Karigans Blick glitt über die sichelförmigen Konturen des Ufers. Direkt an der Mündung des Flusses Grandgent lagen die Kriegsschiffe der sacoridischen Marine und die Werften, in denen sie gewartet wurden. Es war ein Beweis für die Wichtigkeit Corsas, dass die größte Flotte der Marine dort stationiert war, um den Hafen, das Reich und den wichtigen Fluss gegen sämtliche Feinde zu verteidigen. Mordivelleo L’Petrie, dachte sie, wäre stolz gewesen.
»Ich wollte dir das Gartenhaus erst zeigen, wenn du deinen Dienst beim König beendet hast«, sagte ihr Vater plötzlich. Der Sonnenuntergang tauchte sein Gesicht in ein orangefarbenes Glühen, und er blickte aufs Meer hinaus. »Aber ich hatte das Gefühl, es sei richtig, dich heute dorthin mitzunehmen. Ich hoffe, du hältst das Ganze für ein sinnvolles Unternehmen und wirst es aufrechterhalten, wenn deine Zeit als Erbin kommt. Viele der Bewohnerinnen sind schon weitergezogen und haben sich ein neues Leben aufgebaut.« Nach einer langen Pause fügte er hinzu: »Ich nehme allerdings nicht an, dass ich mich dadurch in deinen Augen reingewaschen habe.«
»Hast du mich deshalb zum Gartenhaus mitgenommen?«, fragte Karigan.
»Ich wollte nicht, dass du meine Beziehung zu Silva lediglich im Zusammenhang mit dem Bordell beurteilst.«
»Und wie ist deine Beziehung zu Silva?«
»Wir sind sehr alte Freunde.«
»Und du bist ein Kunde in ihrem Bordell.«
Ihr Vater antwortete nicht, sondern schlug mit den Zügeln und lenkte die Pferde vom Hafen fort.
Sie ließen die Stadt hinter sich, und der Schlitten glitt in die Abenddämmerung. Mit dem Sonnenuntergang wurde die Luft spürbar kälter, und Karigan vergrub sich in die Decke. Die erhitzten Steine unter ihren Füßen waren längst kalt geworden.
Sie würde aus ihrem Vater bezüglich des Bordells keine richtige Antwort herausbekommen. Er hatte ihr ja gesagt, dass es Dinge gab, über die er niemals mit ihr reden würde. Außerdem vermutete sie, dass sie die Einzelheiten gar nicht so genau wissen wollte. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn nichts von alledem jemals geschehen wäre. Sie wünschte, dass sie niemals vom Goldenen Ruder gehört hätte, sie wünschte, dass ihr Vater die Verbindung mit dem Bordell abstreiten und ihr sagen würde, dass das alles lediglich ein großes Missverständnis gewesen sei.
Aber das tat er nicht, und es war kein Missverständnis gewesen. Sie konnte wünschen, so viel sie wollte, aber nichts würde sich dadurch ändern.
Dennoch, überlegte sie, bewirkte seine Verbindung zu dem Bordell und dessen Leiterin, dass er gute Werke tat und beispielsweise das Gartenhaus unterstützte, und seine Bemühungen retteten zweifellos Menschen wie Vera das Leben. Karigan mochte eine privilegierte Erziehung genossen haben, aber sie war nicht so naiv, dass sie die Notwendigkeit solcher Einrichtungen nicht erkannt hätte.
Als sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass sie bisher nur eine einzige, winzige Facette ihres Vaters gekannt hatte. Nun hatte sie erfahren, dass er genauso unergründlich und kompliziert war wie jeder andere Mensch.
Sie war so vertieft in ihre Gedanken, dass ihr erst, als der Schlitten über eine holprige Stelle rumpelte, auffiel, dass ihr Vater für den Heimweg nicht die Hauptstraße gewählt hatte, sondern einen schmalen Feldweg, der beiderseits von Wald begrenzt war.
»Wo sind wir?«, fragte sie.
»Auf dem Pfeilwiesenweg«, sagte ihr Vater.
Karigans Verwirrung verschwand augenblicklich. Der Pfeilwiesenweg war eine gewundene, alte Straße, die sie früher immer als »langen Heimweg« bezeichnet hatten. Manchmal war sie damals dort entlanggeritten, obwohl sie den Weg immer als allzu verlassen und ein wenig unheimlich empfunden hatte. Er führte nur an wenigen, seit langer Zeit verlassenen Anwesen vorbei, die der Wald längst verschluckt hatte. Laut der geschichtlichen Überlieferung hatte während des Langen Krieges irgendeine Schlacht in dieser Gegend stattgefunden, und daher stammte der Name »Pfeilwiesenweg«.
»Deine Mutter und ich sind manchmal nachts hierher geritten«, sagte ihr Vater unerwartet. »Die Sterne waren immer wunderschön. Und niemand störte uns hier draußen.«
Karigan sah nach oben, und tatsächlich schimmerten die Sterne hell hinter den spitzen immergrünen Wipfeln ringsum. Der Jäger hatte seine alljährliche Wanderung nach Westen angetreten und das Schwert des Sevelon stieg nach seiner Winterrast allmählich wieder aufwärts.
Sie kamen auf eine Lichtung, und über ihren Köpfen öffnete sich die ganze Weite des Himmels. Ihr Vater hielt Roy und Birdy an, um die Sterne zu betrachten, und Karigan stellte sich vor, wie ihre Mutter und ihr Vater als junges Liebespaar diesen Ort besucht hatten.
»Da du nun weißt, dass ich höchst unvollkommen bin«, sagte er, »kannst du mit verzeihen, was ich vorhin gesagt habe? Ich kann nicht behaupten, dass Magie mir gefällt, oder gar die Tatsache, dass sie dich in Gefahr bringt, aber ich würde meine Tochter niemals als verflucht betrachten.«
»Du hat mir nie von der Blutlinie meiner Mutter erzählt«, sagte Karigan.
»Geschichten. Geschichten von abergläubischen Inselbewohnern.« Nach einer Pause sagte er: »Sag mal, wo hast du den Muna’riel gefunden?«
»Dann hast du davon gewusst?«
Sie ahnte sein Kopfnicken mehr, als dass sie es sah.
»Ich habe ihn bei den anderen Dingen in der Truhe deiner Mutter gefunden. Aber wie ist er …? Ich hatte ihn in meine Seekiste unten im Studierzimmer eingesperrt.«Er erschauderte neben ihr. »Magie. Vermutlich wollte er gefunden werden.«
Dies war, dachte Karigan, eine scharfsinnige Bemerkung für jemanden, der jegliche Magie ablehnte. »Du hast ihn mir nicht gegeben, wie Mutter es wollte.«
Zunächst folgte auf ihre Worte nur Schweigen, aber dann sagte er: »Ich wollte dich vor der Magie beschützen. Oder zumindest wollte ich dich nicht dazu ermutigen. Ich habe sogar deinen Tanten vorgegaukelt, dass deine Mutter zum Schluss nur wirres Zeug redete.«
Karigan wünschte, sie hätte seine Züge im Dunkeln besser sehen können, aber sie nahm an, dass sein Gesichtsausdruck genauso traurig war wie seine Stimme.
»Ich sehe ein, dass das falsch von mir war«, fuhr er fort. »Die Magie hat dich trotz allem gefunden. Hast du den Muna’riel bei dir? Darf ich ihn sehen?«
Karigan grub ihre Hand unter dem Mantel in die Tasche, um den Mondstein herauszuholen. Sie hielt ihn in ihrer dick behandschuhten Hand hoch, und das plötzliche Aufflackern des Lichts erschreckte die Pferde, sodass sie schnaubten und die Köpfe zurückwarfen. Die Helligkeit des Steins jagte die Schatten tief in den Wald, und der Schnee auf der Lichtung verstärkte das silberweiße Licht so sehr, dass es sie beinah blendete.
Karigans Vater schützte seine Augen, bis das Licht zu einem sanfteren Glühen wurde. Der Schnee auf den Bäumen ringsum glitzerte, als seien sie mit Diamanten geschmückt.
»Ich hatte vergessen, wie hell er leuchtet«, murmelte er. »Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann deine Mutter ihn mir zum ersten Mal gezeigt hat. Es war natürlich nach unserer Hochzeit, aber ich glaube, es war sogar, bevor sie dich empfangen hatte. Sie hat nie erklärt, wie sie ihn bekommen hat, aber sie sagte, er sei eletisch. Wenn ich versuchte, mehr darüber aus ihr herauszubekommen, lachte sie nur und dachte sich alles Mögliche aus, um mich abzulenken.«
»Sie wusste, was du von Magie hältst.«
»Ja, das wusste sie wohl. Und ich glaube, dass ich es vorzog, die Magie in ihr nicht zu sehen, obwohl der Muna’riel nur für sie leuchtete und nicht für mich.«
»Ich wünsche, ich könnte dir helfen zu verstehen«, sagte Karigan, »dass die Magie an sich nicht gut oder böse ist, sondern dass es allein am Anwender liegt, wie er sie benutzt.«
Aber er antwortete nicht. Er saß mit gesenkten Augenlidern da, und sein Kopf nickte mehrmals, bis ihm das Kinn auf die Brust fiel. Er atmete tief, wie im Schlaf.
»Vater?«, fragte Karigan. Sie stupste ihn an, aber er rührte sich nicht. Sie stieß ihn etwas fester an, aber er reagierte immer noch nicht. Er schien lediglich zu schlafen, aber …
Sie betrachtete die Pferde, die mit gesenkten Köpfen dastanden, als seien sie ebenfalls eingeschlafen.
Ein Licht erblühte in der Mitte der Lichtung. Eine silbrige, fließende Flamme, die aufflackerte und zu einer Lichtsäule von der Größe eines Menschen anwuchs.
»Alle fünf Höllen«, murmelte sie.
Das Licht aus Karigans Mondstein breitete sich bis zu der Flamme aus und umgab sie, als würde sie sie umarmen.
Endlich, sagte eine Stimme, du bist gekommen.