DIE SPEZIELLE FÄHIGKEIT EINER REITERIN
Estora war überrascht, als sie hörte, dass Beryl Spencer nur wenige Tage nach ihrer Unterredung mit Connly in der Burg eingetroffen war. Sofort wurde ein geheimes Treffen im Solarium arrangiert. Als Estora dort ankam, ärgerte sie sich, eine Dienerin dort vorzufinden, die mit einem Besen auf die Spinnennetze in den Zimmerecken einhieb. Die Frau summte vor sich hin und merkte gar nicht, dass Estora eingetreten war.
Die Königin räusperte sich, und die Dienerin erschrak so, dass sie ihren Besen fallen ließ und quiekte. Als sie sich umdrehte und sah, wer da vor ihr stand, machte sie einen zitternden Hofknicks.
»Vergebung, Eure Hoheit, Vergebung. Hab nur die Spinnweben abgeputzt. Die Ecken saubergemacht.« Sie sank in einen weiteren Hofknicks, ein gebeugtes Wesen in einem grob gesponnenen graubraunen Kleid.
»Sie dürfen gehen«, sagte Estora relativ ruhig, obwohl sie am liebsten gebrüllt hätte. Beryl Spencer würde nicht kommen, wenn irgendwelche Zeugen in der Nähe waren, insbesondere die klatschsüchtigen Diener der Burg, und sie musste jeden Augenblick hier sein.
»Zu Befehl, Eure Hoheit. Ich hol nur meinen Besen.« Die Frau grapschte ungeschickt nach dem Besen.
»Lassen Sie ihn liegen«, befahl Estora. »Ich wünsche, dass Sie auf der Stelle gehen.«
Die Dienerin richtete sich auf. Ein Paar scharfe grüne Augen sahen Estora unter den Haarsträhnen an, die in das schmutzige Gesicht hingen. Estora zwinkerte ungläubig bei dieser Verwandlung einer einfachen Dienerin in eine ehrfurchtgebietende Persönlichkeit. In einen Menschen, der große Intelligenz und Schläue besaß, und der gefährlich war.
»Beryl Spencer«, sagte sie aufatmend.
»Zu Euren Diensten, Hoheit.« Ihre Verneigung wirkte ein klein wenig spöttisch.
»Ich habe von Ihrer Fähigkeit gehört«, sagte Estora, »aber ich hatte nicht gleich eine Vorführung erwartet.«
»Connly hat Wert auf Geheimhaltung gelegt«, versetzte Beryl. »Falls mich jemand gesehen hat, war da nur eine einfache Dienerin mit einem Besen. Außerdem nehmen die meisten Leute Diener sowieso nicht wahr. Sie sind der Beachtung nicht wert.«
Das stimmte. Man nahm vielleicht wahr, dass sich Diener im Schloss zu schaffen machten und ihre Pflichten erfüllten, aber für die meisten Menschen, die als Botschafter, Offiziere und Höflinge wichtigere Rollen zu spielen hatten, hätten die Diener ebenso gut unsichtbar sein können. Sie fielen nicht auf und besaßen keine Persönlichkeit.
Die Rolle, für die sich Beryl Spencer entschieden hatte, war klug gewählt, aber andererseits auch beunruhigend. Wer könnte sich wohl sonst noch als Diener verkleiden und dadurch freien Zutritt zur ganzen Burg bekommen? Estora schauderte. Sie litt wieder an Verfolgungswahn. Beryls besondere Fähigkeit bestand ja gerade darin, eine Rolle derart überzeugend zu spielen, aber dennoch … Estora beschloss, sich dies eine Lehre sein zu lassen, was den fragwürdigen Stand der Sicherheitsvorkehrungen im Schloss betraf.
»Anscheinend ist allerlei passiert, seit ich zum letzten Mal hier war«, bemerkte Beryl.
»Ja«, antwortete Estora einfach. Sie zweifelte nicht daran, dass die Grüne Reiterin bereits sämtliche Einzelheiten über das Attentat, die darauf folgende Hochzeit und sämtliche daran beteiligten Personen erfahren hatte. Schließlich reichte ihre Fähigkeit weit darüber hinaus, einfache Rollen wie die einer Dienerin zu spielen. Zacharias hatte diese Fähigkeit weidlich ausgenutzt, und Beryl hatte mehrere Jahre als Spionin am Hof von Tomas Mirwell verbracht. Und nun wollte sich Estora ebenfalls dieser Fähigkeit bedienen. Dennoch fragte sie sich, was Beryl wohl von ihrer überstürzten Hochzeit mit Zacharias und von Hauptmann Mebstones Hausarrest hielt. Würde Beryl ihr überhaupt helfen wollen?
Beryl legte den Kopf schräg, ließ aber nichts durchblicken. Estora fühlte sich unter ihrem prüfenden Blick unsicher. »Danke, dass Sie eingewilligt haben, mich zu treffen«, sagte sie.
Beryl neigte den Kopf. »Ihr seid die Königin. Ich diene Euch.«
Aus irgendeinem Grund empfand Estora bei diesen Worten keine Erleichterung. Sie stellte sich vor, dass wahrscheinlich Beryl ganz ähnliche Worte zu Tomas Mirwell gesagt hatte, bevor sie ihn verriet. Sie hatte ihre Rolle in Mirwell mit Leib und Seele gespielt und Estora hatte gehört, dass viele Leute am Hof von Mirwell mehr Angst vor Beryl gehabt hatten, als vor Lord Mirwell selbst. Sie hatte ihm als rechte Hand gedient, sie war der Arm seiner ausführenden Gewalt und seine Foltermeisterin gewesen. Menschen waren einfach verschwunden und nicht wiederaufgetaucht, und man hatte nie wieder von ihnen gehört.
Wo lag wohl ihre wahre Loyalität?, fragte sich Estora. Aber Zacharias hatte ihr vertraut, und schließlich gehörte sie zu den Grünen Reitern. Ob sie in den Botendienst berufen worden wäre, wenn sie Sacoridien und seinem König nicht wirklich treu ergeben gewesen wäre?
»Was wünscht Ihr von mir, Herrin?«, fragte Beryl. »General Harborough drängt Connly, mich nach Norden zu schicken.«
»Ja, das weiß ich, aber ohne meine Zustimmung werden Sie nirgendwohin geschickt. General Harborough steht unter meinem Befehl.«
Über Beryls Züge huschte ein fast unsichtbares, beifälliges Zucken.
»Vorerst brauche ich Ihre besonderen Fähigkeiten«, sagte Estora.
Nun war Beryl voll interessiert. »Wie kann ich Euch dienen?«
»Haben Sie zufällig irgendwann einmal meinen Vetter Lord Richmont Spane kennengelernt?«
»Nicht offiziell, aber ich weiß natürlich, wer er ist.«
Aus der Art, wie Beryl »natürlich« sagte, schloss Estora, dass die Reiterin über seine Intrigen teilweise Bescheid wusste. Estora lächelte. In gewisser Hinsicht war Beryl wesentlich furchterregender, als Richmont je sein konnte, aber Estora blieb nicht anderes übrig, als ihr zu vertrauen. Sie betete darum, dass ihr Vertrauen nicht enttäuscht werden würde.
»Ich glaube, in dem Fall haben wir viel zu besprechen«, sagte Estora.
»Es wird mir eine Ehre sein«, antwortete Beryl.