DIE ANKUNFT ZU HAUSE
Das Haus stemmte sich gegen die Kraft des Orkans, die Balken stöhnten, und die Fenster rasselten. Der Wind riss einige Schindeln vom Dach, sie wirbelten davon und verschwanden in den gleißenden, wirbelnden Böen des Schneesturms. In diesem Jahr gab der Winter die Welt nur zögernd aus seinem eisigen Griff frei.
Das Haus lag an der Küste, aber zum Glück war es solide gebaut worden, von jemandem, der das Meer und all seine Tücken und gefährlichen Launen gut kannte. Stevic G’ladheon, der bedeutendste Kaufmann von Sacoridien, besaß zudem ein beträchtliches Vermögen, sodass er das Haus aus allerbesten Materialien und von allerbesten Handwerkern – hauptsächlich Schiffszimmerleuten – hatte errichten lassen können.
Ein kalter Luftzug drang in das Zimmer, in dem er saß und las. Er zitterte und drehte die Flamme seiner Öllampe höher, dankbar für die hellere Beleuchtung und die größere Wärme, die sie nun ausstrahlte. Ein mächtiges Feuer loderte im Kamin; er trug mehrere Schichten Wollkleidung und einen Schal, aber er konnte dennoch nicht richtig warm werden.
Er hatte den aufkommenden Sturm schon den ganzen Tag über geahnt und beobachtet, wie sich der Himmel mit schweren Wolken füllte, die ab und zu ein kurzes Schneegestöber ausspuckten. In der Luft hatte sich der feuchte Geruch des Meeres mit dem Biss der Kälte vermischt, und er hatte gewusst, dass ihnen ein ernst zu nehmender Sturm bevorstand.
Genauso war es gekommen, und nun tobte der Sturm die Küste herauf, kreischend wie eine Todesfee. Wenn er die Vorhänge vom Fenster zurückzog und durch das Mattglas hinausspähte, sah er lediglich eine weiße Mauer.
Er überlegte, ob er sein eisiges Büro verlassen und in die Küche gehen sollte, dem wärmsten Raum des Hauses, aber dort waren seine Schwestern und die Hausgehilfinnen. So viel weibliche Energie in einem einzigen Raum würde er wahrscheinlich nicht verkraften.
Er vergrub sich tiefer in seinen Armsessel und betrachtete erbittert die Regeln des Geschäftslebens von Brandt. Die Lektüre war unglaublich trocken, und Brandt war ein derart von sich selbst eingenommener Egoist, dass Stevic versucht gewesen war, das Buch einfach ins Feuer zu werfen. Aber Bücher waren kostbar, und er hätte ebenso wenig ein Buch verbrannt, wie sein eigenes Haus. Er hätte es auch einfach weglegen können, aber er war viel zu stur, um jetzt aufzugeben. Er würde das ganze Werk durchlesen, selbst wenn es ihn umbrachte.
Er spähte in die goldenen Flammen im Kamin und dachte an die Wolkeninseln. Er hätte mit den diesjährigen Winterhandelsschiffen dorthin segeln können, doch stattdessen hatte er Sevano geschickt. Sein alter Frachtmeister hatte sich eine Reise in die Tropen verdient.
Stevic seufzte und dachte an den herrlichen Sonnenschein, der auf dem tiefblauen Wasser glitzerte, an die feinen Sandstrände, an denen die sanften Wellen leckten, und an die köstlichen, süßen Früchte, die immer reif waren. Er vermisste seinen guten Freund Olni-olo, der ihn dort immer wie ein Familienmitglied willkommen hieß und in sein Haus einlud – eigentlich eine Hütte auf Stelzen in einer ruhigen Bucht. Er hatte fünf Frauen und Dutzende von Kindern. Stevic erinnerte sich an all die Kinder, die immer über den Sand auf ihn zustürmten, weil sie wussten, dass er ihnen Süßigkeiten mitbrachte, und dann folgten Umarmungen und Gelächter unter der tropischen Sonne.
Aaahhh, der Sonnenschein …
Jemand hämmerte gegen die Vordertür und riss Stevic aus seinen Träumereien über milde Inseltage. Welcher Narr ist bei diesem Sturm draußen?, wunderte er sich, als er von seinem Sessel aufstand und sein Büro verließ, um in der Eingangshalle nachzusehen. Sein Butler, der stets effiziente Artos, fegte an ihm vorbei und riss die Tür auf.
Schnee peitschte in einem bitterkalten Windstoß herein. Aus dem Sturm schälte sich eine weiße Gestalt wie ein mythischer Frostgeist und schritt über die Schwelle. Stevic half Artos, die schwere Tür wieder gegen den Wind zuzustemmen.
Puh, dachte er, als sie es geschafft hatten. Er wandte sich dem Besucher zu, der ein Paar Satteltaschen auf den Boden gestellt hatte und anfing, sich den Schnee abzuklopfen. Es war eine gewaltige Menge Schnee, aber bald erkannte Stevic darunter die grüne Farbe der Reiter.
»Karigan?«
Die Gestalt wandte sich zu ihm und warf ihre Kapuze zurück. »Vater!« Sie rannte auf ihn zu und hielt nur an, um aus ihrem schneetriefenden Überzieher zu schlüpfen und ihn Artos zu geben. Obwohl Stevic sie in den Armen hielt, konnte er kaum glauben, dass sie da war.
»Was machst du …«, begann er, aber in diesem Moment strömten seine vier Schwestern in die Halle, die Stimmen überschwänglich vor Überraschung, Freude und Besorgnis. Sie überschütteten Karigan mit Fragen, ohne ihr die geringste Chance zum Antworten zu geben. Genauso schnell wie sie sich in Stevics Arme geworfen hatte, ließ sie ihn wieder los, umarmte ihre Tanten und küsste ihnen die Wangen.
»Artos!«, fuhr Stace den Butler an. »Um Himmels willen, Mann, stehen Sie nicht da wie ein Ölgötze. Gehen Sie zu Elaine und sagen Sie ihr, sie soll für Karigan ein Bad vorbereiten. Sie ist ja ein Eiszapfen!«
Artos gehorchte auf der Stelle.
»Mädchen, was in aller Welt hast du draußen in diesem Sturm gemacht?«, frage Gretta vorwurfsvoll.
»Ich dachte, ich könnte ihn überholen.« Karigans Antwort wurde von all ihren Tanten mit missbilligendem Zungenschnalzen quittiert.
»Du bist genauso verrückt wie dein Vater«, sagte Tory.
»Einen Moment mal …«, begann Stevic.
»Ich sage der Köchin, sie soll eine Gans vorbereiten«, verkündete Brini und eilte geschäftig in Richtung Küche.
Stevic sah hilflos zu, wie Stace, Gretta und Tory sich Karigans bemächtigten und sie zur Treppe schoben.
»Du brauchst trockene Kleidung, Mädchen«, sagte Gretta.
»Und Hausschuhe«, fügte Tory hinzu.
Stevic kratzte sich hilflos am Kopf, als seine Tochter und seine Schwestern die Treppe hinauf verschwanden. »Bei Breyans Gold«, murmelte er.
Er stand einige Augenblicke lang allein in der Halle, immer noch von der unerwarteten Ankunft seiner Tochter überwältigt. Nur die Pfützen des geschmolzenen Schnees und die Satteltaschen bezeugten, dass Karigan tatsächlich durch die Tür getreten war. Er erwog, sich zu zwicken, um sich davon zu überzeugen, dass es kein Traum gewesen war. Sie hatte sich in seinen Armen wirklich genug angefühlt … Normalerweise kündigte sie sich an, wenn sie einen Besuch plante. Entweder war ihre Nachricht aus irgendeinem Grund nicht angekommen, oder sie hatte hier einen Auftrag zu erfüllen.
Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, was seine Tochter so weit weg von zu Hause in Sacor-Stadt eigentlich machte, denn sie schrieb kaum, und wenn, dann waren es oft nur ein paar Worte, mit denen sie ihm versicherte, dass es ihr gut ging und der König sie auf Trab hielt.
Er zweifelte nicht daran, dass ihre Pflichten anstrengend waren, aber vage, beschwichtigende Worte, dass alles in Ordnung sei, erregten lediglich sein Misstrauen.
Er beschloss, sich nützlich zu machen, und nahm Karigans Satteltaschen. Er trug sie nach oben und ließ sie vor ihrer Schlafkammer stehen. Durch die Tür drangen die Stimmen seiner Schwestern, die Karigan liebevoll ausschalten. Stevic lächelte. Seine Schwestern waren eine echte Naturgewalt, und es war kein Wunder, dass Karigan in ihrer Obhut zu einer so temperamentvollen und eigenwilligen jungen Frau herangewachsen war.
Stevic kehrte nach unten in sein Büro zurück. Er würde dort die Zeit totschlagen, bis Karigan ihn aufsuchte, wie sie es immer tat, sobald sie ihren Tanten entfliehen konnte.
Stevic versuchte, sich in die Regeln des Geschäftslebens zu vertiefen, während er auf Karigan wartete, aber er legte das Buch immer wieder beiseite, um auf und ab zu gehen, während draußen der Wind heulte. Er konnte es kaum erwarten, sie zu sehen und zu erfahren, was sie nun eigentlich nach Hause geführt hatte.
Wie so oft rätselte er darüber, warum sie eine Grüne Reiterin hatte werden müssen, obwohl hier, zu Hause bei ihrem Klan, ein relativ sicheres und einträgliches Leben als Kauffrau auf sie gewartet hätte. Sie hatte ihm ihre Berufung erklärt, den magischen Zwang, der sie zur Grünen Reiterin gemacht hatte, aber das Wissen, dass seine Tochter in irgendeiner magischen Verzauberung gefangen war, die sie zwang, dem König zu dienen, entsetzte Stevic nur noch mehr. Nun ja, vielleicht war Zwang der falsche Begriff, aber jedenfalls konnte man Magie niemals trauen. Er hatte geglaubt, dass die letzten Spuren der Magie schon vor langer Zeit verschwunden wären – aber nein: Es war noch genug Magie übriggeblieben, um ihm seine Tochter wegzunehmen.
Er fand es schrecklich, sich um sie Sorgen zu machen und sich vorzustellen, dass sie vielleicht Straßenräubern zum Opfer fiel, vom Pferd stürzte oder aus reiner Dummheit in einem Schneesturm erfror. Er knirschte mit den Zähnen und unterbrach sein nervöses Hin- und Hergehen, um das Porträt seiner Frau hinter seinem Schreibtisch zu betrachten. Kariny war schon seit so vielen Jahren nicht mehr bei ihm. Das Licht in seinem Büro war schwach, aber dennoch blickte sie leuchtend und atemberaubend von der Leinwand herab, fast, als würde sie gleich aus dem vergoldeten Rahmen treten und wieder bei ihm sein, lebendig und lachend, und ihn dafür tadeln, dass er sich so viele Sorgen machte.
Einem uneingeweihten Betrachter wäre ihr Gesichtsausdruck genau so ernst erschienen, wie es bei Porträts üblich war, aber er sah das versteckte Lächeln, den Funken Humor in den blauen Augen. Augen, die der Maler so gut getroffen hatte. Sie hatte sich amüsiert gezeigt, als er das Porträt in Auftrag gegeben hatte, und während der Sitzungen hatte sie ihn geneckt, es sei ein übertriebener Luxus, einen so renommierten Künstler zu engagieren, um eine so »unwürdige« Ehefrau wie sie zu malen.
Niemals unwürdig, dachte er.
Sie starb innerhalb eines Jahres nach der Vollendung des Porträts, und Stevic war dankbar, dass er es in Auftrag gegeben hatte. Sonst hätte er gefürchtet, allmählich die Einzelheiten ihrer Züge zu vergessen. Doch nun konnte er jederzeit das Gemälde ansehen, das Kariny auf eine sehr begrenzte Weise für ihn wieder zum Leben erweckte: die lebendige, pulsierende Frau, ihre Berührung, ihre Eigenheiten, ihr melodisches Gelächter, das Gefühl, wie ihre Haare durch seine Finger flossen.
Und außerdem gab es seine Tochter, die ihrer Mutter so ähnlich sah. Karigan war jetzt ungefähr im selben Alter, in dem ihre Mutter gewesen war, als das Porträt gemalt wurde. So jung.
Stevic würde Kariny niemals alt werden sehen. Er wusste, dass sie mit Anmut alt geworden wäre, ihre Schönheit wäre nicht verflogen, sondern hätte sich im Lauf der Jahre nur vervollkommnet. Stattdessen war die Zeit für sie stehen geblieben und hatte sie für immer in ihrer jugendlichen Erscheinung eingefangen.
Er schüttelte den Kopf. In gewisser Weise war die Zeit für ihn ebenfalls stehen geblieben. Sie war in dem Moment stehen geblieben, als Kariny zusammen mit ihrem ungeborenen Kind am Fieber starb. Er hatte damals beschlossen, dass ihr erstes Kind das lange, fruchtbare Leben führen würde, das Kariny verweigert worden war. Aber jetzt war Karigan erwachsen geworden, und es war ihm unmöglich, sie zu beschützen. Die Tatsache, dass sie im Dienst des Königs einen gefährlichen Beruf ausübte, war dabei absolut keine Hilfe.
Stevic riss seine Augen vom Porträt seiner Frau los, und seine Rastlosigkeit führte ihn hinaus in die Eingangshalle. Es duftete schon nach gebratener Gans. Sein Magen knurrte, und er beschloss, sich in die Küche zu wagen. Dort entdeckte er nicht nur seine Schwestern, sondern auch Karigan, die bei Törtchen und Tee saß und plauderte. Die Köchin stand am Feuer und drehte eine Gans am Spieß. Als er eintrat, wandten sich alle wie ein einziges Wesen ihm zu.
Warum war Karigan nicht zuerst zu ihm gekommen? Er merkte, dass er deshalb ein wenig verletzt war.
»Höchste Zeit, dass du dich zu uns gesellst, Stevic«, sagte Stace.
»Ich habe auf Karigan gewartet.«
»Was? Du hast tatsächlich von uns erwartet, dass wir sie mit nassen Haaren in diesen eisigen Schuppen gehen lassen, den du Büro nennst? Sie hätte sich eine Lungenentzündung geholt. Sie lässt ihre Haare hier trocknen, wo es warm ist.«
Stevic sah Karigan an, die nun Zivilkleidung und einen Wollschal trug und stellte fest, dass ihre Haare tatsächlich noch feucht waren. Er seufzte erleichtert. Er hatte die kurze, nagende Befürchtung gehabt, dass sie ihm aus irgendeinem Grund aus dem Weg ging, aber das war absurd. Welchen Grund hätte sie dazu gehabt? Dennoch fragte er sich, warum ihn nicht zumindest jemand informiert hatte, dass sie mit ihrem Bad fertig war.
»Ich wusste nicht, ob ich auch eingeladen war.«
»Du lieber Himmel«, sagte Brini. »Als ob das nicht dein eigenes Haus wäre.«
»Manchmal bin ich mir dessen nicht so sicher.«
Brini stieß einen ungeduldigen Laut aus und brachte ihm eine Teetasse, aber sie schenkte ihm nicht ein. Er lächelte halb und zog sich einen Stuhl an den Tisch. Alle seine Schwestern waren älter als er, Stace war die älteste, und alle waren ledig und hatten offenbar wenig Lust, sich zu verheiraten. Warum sollten sie auch, da sie bei ihm ein relativ luxuriöses Leben führen konnten?
Nachdem sie nach Corsa gekommen waren, um unter seinem Dach zu leben, hatten sie ihre etwas rückständigen Inselgewohnheiten mit der Zeit abgelegt, aber ihr Pragmatismus war geblieben, und auch ihre unverblümte Art, mit ihrem kleinen Bruder umzugehen. Genau wie in ihrer Kindheit stand es oft vier gegen einen, wenn irgendein Streit ausbrach. Zumindest setzten sie sich jetzt nicht mehr alle auf ihn drauf, um ihn zu zwingen, sich ihren Wünschen zu beugen.
Obwohl er sich von Zeit zu Zeit gegängelt fühlte, war Stevic dankbar, dass sie ihm zu Hilfe gekommen waren, als Kariny starb. Karigan war noch so klein gewesen, und er hatte sich völlig verloren gefühlt. Sie hatten sich mit mütterlicher Fürsorge um Karigan gekümmert und ihn auch entlastet, wenn seine Trauer zu groß wurde, dass er sich um seine Geschäfte kümmern konnte. Sie hatten Karigan aufgezogen, während er Geschäftsreisen unternahm. Während er lange unterwegs war, um seinem Schmerz zu entfliehen.
Ja, er verdankte seinen Schwestern viel. Er griff zur Teekanne und füllte seine Tasse.
»Karigan ist zu mager«, bemerkte Gretta. »Ich halte nicht viel von dieser Frau Reiterhauptmann, wenn sie ihre Mannschaft nicht anständig ernähren kann. Nun sieh mich bloß nicht so an, junge Dame!«
Stevic betrachtete seine Tochter und fand nicht, dass sie so verhungert aussah, wie Gretta behauptete. Karigans Haar hing lang und lose herunter und hatte inzwischen eine komische Tolle bekommen, aber im Grunde genommen sah sie unverändert aus. Unverändert, aber jetzt, da er darüber nachdachte, wirkte sie doch irgendwie anders. Irgendetwas war mit ihren Augen geschehen. Er konnte es nicht genau definieren und runzelte die Stirn.
»Also, was führt dich nach Hause?«, fragte Stevic. »Wenn wir gewusst hätten, dass du kommst, hätten wir dein Zimmer hergerichtet.«
»Es tut mir leid«, antwortete Karigan. »Eigentlich bin ich mit Botschaften unterwegs.«
Also hat sie doch eine Aufgabe zu erfüllen, dachte Stevic enttäuscht.
Karigan lächelte. »Allerdings werde ich wegen dieses Wetters einige Tage lang nicht weiterreiten können.«
Wie um ihre Worte zu bestätigen, erzitterte das ganze Haus unter einem erneuten Windstoß. Stevic schickte ein rasches Gebet gen Himmel, dass der Sturm nicht allzu schnell vorbeiziehen möge, damit Karigan noch einen oder zwei Tage länger zu Hause festgehalten wurde. Nicht, dass er an die Götter glaubte, aber es konnte ja trotzdem nicht schaden, sie zu bitten, oder? Er hatte sie so vermisst!
»Ist es dir gut ergangen?«, fragte er.
»Na klar«, meinte sie und griff hinter sich nach der Botentasche, die über ihrem Stuhlrücken hing.
»Wie steht es?«, bohrte er weiter. »Sie nehmen dich nicht zu hart heran, oder?«
»Waffentraining ist kein Honigschlecken«, antwortete sie mit einer Grimasse, »aber ansonsten ist im Winter nicht viel los. Ich habe beim Training der neuen Reiter geholfen.«
Der Stuhl knarrte, als sich Stevic zurücklehnte und die Arme verschränkte. Die Antwort befriedigte ihn nicht, er wollte mehr Einzelheiten erfahren. Was mochte sie ihm alles verheimlichen?
Sie hatte ein Talent, in Schwierigkeiten zu geraten. Er hatte von dem Schwertkampf gehört, in den sie mit irgendeinem Banditen im Kriegsmuseum von Sacor-Stadt verwickelt worden war. Die Geschichte hatte sich in der ganzen Kaufmannsgilde verbreitet, und er hatte natürlich von Bernardo Coyle, seinem Kollegen aus Rhovan, einen detaillierten Brief darüber erhalten. Aufgrund dieses Zwischenfalls hatte Coyle erklärt, Karigan sei wohl doch nicht die richtige Partie für seinen Sohn. Stevic hatte den Brief zerknüllt und ins Feuer geworfen und dabei gedacht, dass Karigan sowieso einen besseren Ehemann verdient hatte, als irgendeinen Dummkopf aus Rhovan.
Im Gegensatz zu dem, was er von seinen Kollegen über das Ereignis im Museum gehört hatte, fand er Karigans eigene Darstellung eher dürftig. Sie hatte lediglich gesagt, dass das Treffen mit Bernardos Sohn nicht gut verlaufen war. Mit keinem Wort hatte sie einen Banditen oder einen Schwertkampf erwähnt.
»Du machst ein finsteres Gesicht«, sagte Brini zu ihm. »Gib acht, dass es sich nicht festfrisst.
»Ich mache kein finsteres Gesicht.«
»Von wegen.«
Inzwischen hatte Karigan die Botentasche geöffnet und einen Brief hervorgeholt, der mit der vertrauten Goldprägung des geflügelten Pferdes versiegelt war. Sie reichte ihn ihm über den Tisch hinweg. Er nahm an, es wäre Hauptmann Mebstones übliche Bitte um Vorräte. Vor fast drei Jahren hatte Stevic sich verpflichtet, den Nachschub der Reiter zu gewährleisten, wenn Hauptmann Mebstone ihm bei der Suche nach Karigan half, die damals aus der Schule verschwunden war. Sie hatte es fertiggebracht, in die Angelegenheiten der Reiter verwickelt zu werden, und eine Rolle bei der Vereitelung des Coups gegen König Zacharias gespielt. Als Karigan im Anschluss an alle diese Abenteuer lebendig wiederaufgetaucht war, hatte Hauptmann Mebstone dafür gesorgt, dass Stevic sein Versprechen hielt.
Er erbrach das Siegel und erkannte Hauptmann Mebstones akkurate, klare Handschrift. Geehrter Klanchef G’ladheon, begann sie. Stevic wünschte, sie würde inzwischen weniger formell mit ihm verkehren, aber wahrscheinlich war Vertraulichkeit in offizieller Korrespondenz nicht angebracht.
Wie er es sich gedacht hatte, war der Brief ein Gesuch um zusätzliche Vorräte, aber als er die Mengen sah, um die sie ihn bat, schluckte er schwer. Im Lauf des vergangenen Jahres, schrieb sie, hat die Anzahl unserer Reiter beträchtlich zugenommen, wie Karigan Ihnen bestätigen wird. Wir sind Ihnen und Ihrer Großzügigkeit während der letzten Jahre sehr zu Dank verpflichtet, und falls Sie sich außerstande sehen, diesen plötzlichen Anstieg unserer Erfordernisse zu erfüllen, hätten der König und ich Verständnis dafür. Deshalb schlägt der König vor, Sie zu entschädigen, entweder bei der jährlichen Steuererhebung in Form einer Steuererleichterung oder aber in Form einer direkten Bezahlung.
Dann sprach sie ihn zu seiner Freude doch noch persönlich an, und er stellte sich vor, wie sie sich zu ihm beugte und ihre Stimme senkte, um ihn ins Vertrauen zu ziehen. Leider war seine Freude von kurzer Dauer, als er weiterlas. Stevic, der König bereitet sich auf zukünftige Konflikte vor. Gegnerische Mächte sind auf dem Vormarsch – uralte Feinde des Reiches. Ich kann hier nicht näher darauf eingehen, aber ich möchte Ihnen verdeutlichen, wie dringend diese Vorräte benötigt werden. Wir hoffen, dass sie baldmöglichst, sobald das Wetter und Ihre Termine es erlauben, bei uns eintreffen werden.
Stevic rieb sich am Kinn und las die letzte Zeile des Briefes, während die Köchin auf der Anrichte lautstark Pastinaken klein hackte: Was auch immer auf uns zukommen mag, werden meine Reiter mit Sicherheit eine wichtige Rolle zu spielen haben. Ob sie allerdings in der Lage sein werden, dem Feind die Stirn zu bieten, hängt davon ab, ob Sie ihnen die benötigten Vorräte schicken.
Er sah Karigan an, die gerade über etwas lachte, das Gretta gesagt hatte.
Hauptmann Mebstones Reiter – seine Tochter – würden bei diesem Konflikt, bei dieser Bedrohung eine wichtige Rolle spielen; sie würden den Feinden gegenüberstehen, auf die der König sich vorbereitete.
Trotz der Wärme der Küche wurden seine Eingeweide so kalt wie der Sturm, der draußen wütete.