DIE ÜBERLIEFERUNGEN DER INSEL

e9783641094324_i0008.jpgKarigans Tanten waren schon immer der Meinung gewesen, dass Essen gewöhnlich jedes Problem löste. Sie servierten ihr eine Schüssel mit Gans und Porreesuppe aus dem Kessel, der über einem Feuer leise vor sich hin köchelte. Dazu gab es Pfirsichmarmelade, Törtchen und süße Brötchen.

Tante Tory entkorkte eine Flasche Pfirsichbranntwein. Sie behauptete, dass Tee einfach nicht ausreichte, um den Kummer zu lindern, den ihr Bruder verursacht hatte, und nachdem sie Karigan ein wenig davon eingossen hatte, füllte sie ihr eigenes Glas fast bis zum Rand. Dann nahm sie einen langen Zug, den sie mit einem zufriedenen Seufzer beendete. Sie füllte ihr Glas erneut, während ihre Schwestern sie verblüfft und höchst missbilligend beobachteten.

Karigan dagegen saß am Tisch, den Kopf in den Händen vergraben, und ließ sich vom Feuer den Rücken wärmen. Sie hatte nicht den geringsten Appetit und hockte nur stumm da, während Tante Stace den anderen von der jüngsten Konfrontation mit ihrem Bruder berichtete.

»Wir sollten uns auf ihn draufsetzen«, meinte Tante Tory.

»Ich bin nicht sicher, dass das Karigan helfen würde«, antwortete Tante Stace.

»Sie könnte sich auch auf ihn draufsetzen. Je mehr, desto besser.«

Tante Gretta kicherte, und ihre Augen glitzerten schalkhaft.

»Er glaubt, ich sei verflucht«, sagte Karigan gequält.

»Nimm es dir nicht so zu Herzen, Kari-Mädchen«, sagte Tante Stace. »Er ist nur wütend, weil die Reitermagie dich ihm weggenommen hat. Er macht sich solche Sorgen um dich, weil er weiß, wie gefährlich deine Arbeit sein kann.«

Als Karigan ihrer Berufung zur Reiterin endlich gefolgt war, hatte sie ihnen erklären müssen, warum sie ihr Zuhause verlassen musste, um eine Botin des Königs zu werden, warum sie nach Sacor-Stadt ziehen musste. Sie hatte erklären müssen, warum sie nicht eine ganz normale Kaufmannstochter sein konnte, die mit ihrem Vater zusammenarbeitete, heiratete und Erben hervorbrachte, die die Blutlinie fortsetzen würden. Wie sie es vorausgesehen hatte, war ihre Familie ganz erschüttet von ihren Offenbarungen gewesen, besonders ihr Vater.

»Ich weiß, dass er Magie ablehnt«, sagte Karigan, »aber so habe ich ihn noch nie gesehen.«

»In unserer Erziehung wurde großer Nachdruck darauf gelegt, Magie als etwas Böses zu betrachten«, antwortete Tante Stace. »Unser Vater war in dem Punkt sehr streng, und an jedem Ruhetag mussten wir dem Mondpriester mit seinen Tiraden gegen das Böse der alten Zeiten zuhören. Er predigte, dass jegliche Magie, falls sie jemals wieder auf Erden auftreten sollte, vernichtet werden müsste, und auch alle Menschen mit der Fähigkeit, sie auszuüben.«

Genau wegen dieser irrationalen Angst und Engstirnigkeit verheimlichten die Grünen Reiter ihre bescheidenen magischen Fähigkeiten. Wie würden ihre Mitbürger reagieren, wenn sie erfuhren, dass der König Menschen in seinen Dienst aufnahm, die Magie ausübten? Wie sollten sie dem König oder seinen Boten jemals wieder verrauen?

»Unser Vater«, fuhr Tante Stace fort, »war in seinem Glauben besonders kompromisslos und benutzte oft die Rute, wenn einer von uns das Wort Magie auch nur erwähnte. Wir wussten nur, dass sie widerlich und korrupt war.«

»Und natürlich«, warf Tante Brini ein, ihren Blick auf ihre Näharbeit konzentriert, »verliebte sich Stevic ausgerechnet in Kariny Gray.«

»Was hat sie damit zu tun?«, wollte Karigan wissen und wandte sich Tante Stace zu. »Du hast Vater aufgefordert, mir von ihr zu erzählen.«

»Ja, das stimmt. Und da er es schon wieder vorgezogen hat, hinaus in den Schnee zu rennen, denke ich, dass statt seiner wir dir von ihr erzählen sollten.« Ihre Schwestern stimmten ihr murmelnd zu.

»Die Familie deiner Mutter«, begann Tante Brini, »galt bei den Inselbewohnern immer als ein wenig …«, ihre Stimme sank zu einem Flüstern, »hellseherisch«.

»Unheimlich«, fügte Tante Tory hinzu.

»Nur ein bisschen«, betonte Tante Stace. »Weißt du, es gab nicht viele schriftliche Chroniken auf der Schwarzen Insel, aber dafür eine Menge mündliche Überlieferungen, die durch die Generationen weitergegeben wurden, und dann wurde über Dinge, die vor einem Jahrhundert geschehen waren, so geredet, als seien sie erst gestern passiert. Von deiner Urururgroßmutter hieß es zum Beispiel, sie habe sich mit Fischern unterhalten, die niemals zurückgekehrt waren.«

»Mit ihren Geistern«, unterbrach Tante Tory erregt. »Angeblich kamen sie in nebligen Nächten an Land. Sie sollen nach Meer gerochen haben, und sie stöhnten wie der Wind, und an ihren Füßen haftete Seetang!«

»Tory!«, schnappte Tante Stace streng, und ihre Schwester verstummte. Verärgert wandte sie sich wieder an Karigan. »Merkst du, wie diese Geschichten ausgeschmückt werden?«

Nach den Erfahrungen, die Karigan selbst mit den Geistern der Toten gemacht hatte, konnte sie Tante Torys Beschreibung nicht ohne Weiteres abtun, aber dennoch nickte sie nur.

»Es gab auch noch andere in der Familie deiner Mutter«, sagte Tante Stace, »die als ungewöhnlich wissend galten.«

»Ungewöhnlich wissend?«

Alle vier Tanten nickten.

»Sie wussten Dinge, die jenseits normaler Kenntnisse lagen«, erklärte Tante Gretta. »Über das Wetter, den Fischfang und das Leben der Leute. Die Zukunft.«

»Deine Mutter«, sagte Tante Brini und sah von ihrer Näharbeit auf, »lachte immer, wenn sie solches Gerede hörte, und sagte, das seien lediglich Geschichten. Sie war eine sehr pragmatische Frau, sie stand mit beiden Füßen auf dem Boden, abgesehen von ihrer Angewohnheit, in der Nacht auszureiten, wie Stace dir schon erzählt hat. Natürlich haben wir alle unsere absurden Gewohnheiten, zum Beispiel muss Gretta ihr Bett immer mindestens dreimal machen, bevor sie zufrieden ist.«

»Das ist nicht wahr!«

»Ha, und ob! Ich habe mitgezählt.«

»Na gut, aber du isst immer alle Gerichte auf deinem Teller einzeln«, sagte Tante Gretta.

Tante Brini schnaubte und schob ihre Nadel heftig durch den Stoff. »Das hat mit der Konsistenz zu tun.«

Tante Stace verdrehte die Augen. »Die Familie deiner Mutter«, sagte sie zu Karigan, »war auf der Insel im Allgemeinen recht angesehen, denn nicht jeder lehnte die Magie so rigoros ab wie unser Vater. Sicher, es gab einige, die deiner Großmutter Gray ins Gesicht lächelten und dann das Zeichen des Sichelmondes machten, sobald sie wegsah, und manche tuschelten auch über Hexen in der Familie und dergleichen Unsinn. Aber im Großen und Ganzen galten sie als gesetzestreue, produktive Mitbürger des Dorfes, die den traditionellen Sitten folgten. Sie ließen an den Ruhetagen sogar die Tiraden des Mondpriesters über sich ergehen.«

»Warum hat mir nie jemand davon erzählt?«, fragte Karigan. Magie in der Familie ihrer Mutter?

»Du hast nie danach gefragt«, antwortete Tante Stace. »Und zweifellos hat unsere eigene Aversion gegen unsere Vergangenheit auf der Insel dazu beigetragen, dass wir nicht gern darüber sprachen. Aber um auf deinen Vater zurückzukommen: Er war so sehr in Kariny verliebt, dass er sowohl sie als auch ihre Familie jedes Mal verteidigte, wenn jemand irgendwelche Bemerkungen über ihre unheimliche Seite machte. Meist endete das dann in einer Schlägerei.«

»Grün und blau geschlagene Augen und blutige Nasen«, unterstrich Tante Brini mit einem heftigen Nicken.

»Ganz zu schweigen von den Prügeln, die er außerdem von unserem Vater bezog«, sagte Tante Stace, »denn der glaubte alle diese Geschichten über die Grays, und Stevics Interesse an der jüngsten Tochter gefiel ihm gar nicht. Wenn er ihren Namen aussprach oder auch nur in ihre Richtung schaute, gab’s immer gleich die Rute.«

»Was Stevic natürlich nicht im Geringsten davon abhielt«, sagte Tante Gretta. »Eines Abends sah unser Vater, wie Stevic für Kariny irgendein Paket vom Dorfmarkt schleppte. Die Prügel, die er dafür bekommen hat – es war einfach grausam. Danach hat er die Insel verlassen.«

»Er versprach, zurückzukehren und Kariny zu holen«, sagte Tante Tory, »sobald er eine Arbeit gefunden und seinen Weg in der Welt gefunden hatte. Wir hatten keine Hoffnung, ihn jemals wiederzusehen, aber aufgrund seiner Liebe zu Kariny hielt er sein Versprechen. Er kam zurück und segelte mit ihr weg. Bald danach sind wir ihm gefolgt.«

»Kariny zweifelte nie an ihm«, sagte Tante Gretta nachdenklich, und die anderen nickten zustimmend.

»Und das bringt uns auf dich zurück«, sagte Tante Stace. »In Anbetracht deines eigenen Anflugs von magischem Talent glauben wir, dass die Überlieferungen über Karinys Familie nicht einfach nur Geschichten waren, wie sie behauptete. Du hast diese etwas unheimliche Seite von ihr geerbt.«

Karigan war selbst bereits zum gleichen Schluss gekommen. Es ergab Sinn. Wie sollte sie sonst ihre Reiterberufung und ihre bescheidenen magischen Fähigkeiten erklären? Woher hätten sie sonst kommen sollen?

Sie fragte sich, wie mächtig ihre Vorfahren wohl gewesen sein mochten, aber sie war sicher, dass ihre Tanten es ihr erzählt hätten, wenn sie es gewusst hätten – wenn die Überlieferungen der Insel etwas Konkreteres enthalten hätten. Vielleicht waren ihre Fähigkeiten sehr bescheiden gewesen, genau wie bei Karigan, und sie hatten unter der Oberfläche geschlummert, inaktiv, bis sie durch irgendetwas geweckt wurden. Karigans Fähigkeiten waren durch ihre Reiterberufung aufgeflammt. Die Brosche der Grünen Reiter, die sie trug, ein geflügeltes Pferd, hatte ihre Fähigkeit verstärkt, zu verblassen – sie konnte fast durchsichtig werden –, bis sie scheinbar verschwand.

Sie strich mit den Fingern über ihre Brosche, das Gold war glatt und kühl. Wahrscheinlich sahen ihre Tanten ein ganz anderes Schmuckstück oder sogar überhaupt nichts, denn man hatte über alle Broschen schon vor langer Zeit einen Tarnzauber gelegt, sodass nur die Reiter selbst sie korrekt wahrnehmen konnten.

»Dein Vater«, sagte Tante Stace, »liebt dich. Er liebt dich innig. Er hat vorhin einfach unbedacht gesprochen.«

Trotz der Versicherung ihrer Tante taten die Worte ihres Vaters immer noch weh. Karigans Hand fand den Mondstein in ihrer Tasche. Sie nahm an, dass ihr Vater in Bezug auf ihre Mutter vieles verdrängt hatte. Vollkommen, hatte er sie genannt. Unberührt von der Korruption der Magie.

Karigan schüttelte den Kopf und dachte, dass sie vielleicht einfach ihre Sachen packen und die Rückreise nach Sacor-Stadt antreten sollte. Es war ein Fehler gewesen, nach Hause zu kommen, obwohl sie nicht wusste, wie sie sich diesem Auftrag hätte entziehen sollen, den ihr der Hauptmann persönlich erteilt hatte. Sie hatte hier lediglich Streit vom Zaun gebrochen. Weder das Bordell, noch die Vergangenheit ihres Vaters als Pirat schienen jetzt noch wichtig zu sein.

Dann fiel ihr ein, dass sie nicht ohne eine Antwort ihres Vaters auf die Botschaft Hauptmann Mebstones aufbrechen konnte. Das bedeutete eine weitere Konfrontation, aber zumindest würde sie diesmal die Botin des Königs sein und nicht seine Tochter.

Gerade als Karigan beschlossen hatte, so bald wie möglich aufzubrechen, öffnete sich die Küchentür, und ihr Vater kam herein, gefolgt von einem kalten Luftzug. »Ich habe den Pferdeschlitten angespannt«, sagte er. »Hol dir einen Mantel. Wir fahren in die Stadt.«

Pfad der Schatten reiter4
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