SPIRALEN UND STIMMEN
Graelalea führte die Gruppe unbarmherzig weiter über das zerklüftete Terrain, bis sie plötzlich am Rand einer Klippe stehen blieb, wo sich der Wald öffnete und einen See enthüllte, der unter ihnen lag. Karigan fand, dass er wie ein Buchenblatt oder eine Speerspitze geformt war. Wolken verhüllten das gegenüberliegende Ufer.
»Der Teich von Avrath«, sagte Ealdaen. »Ich hätte nie gedacht, dass ich ihn wiedersehen würde. Aber er ist dunkel, verunreinigt.«
»Was siehst du?«, flüsterte Yates Karigan zu.
»Vor uns liegt ein Tal mit einem See«, antwortete sie.
»Das musst du dir für die Chronik merken.«
»Das werde ich.« Wenn sie ehrlich war, würde sie vermutlich später, wenn sie für die Nacht rasteten, so erschöpft sein, dass sie einschlafen würde, bevor sie sich mit der Chronik befassen konnte.
»Was ist das da in der Mitte des Sees?«, fragte Ard.
Karigan konnte die Einzelheiten nicht erkennen, dazu war es zu weit weg, aber irgendeine Felsformation ragte aus dem Zentrum des Sees. Die Form wirkte zu regelmäßig, als dass sie auf natürliche Weise entstanden sein konnte.
Ealdaen, dessen eletische Sehfähigkeit größer war, sprach wütend in seiner eigenen Sprache. Alle Eleter blickten zornig drein.
»Was ist los?«, fragte Karigan.
»Es ist der Böse«, sagte Lhean. »Eine Statue von Mornhavon.«
»Er hielt sich selbst für einen Gott«, fauchte Ealdaen. »Der Gott aller, und er wusste genau, was es für unser Volk bedeutete, in diesem See seine Statue zu errichten.«
»Was bedeutet es denn?«, fragte Yates, aber die Eleter gingen bereits weiter, und Lynx nahm Yates Hand, um ihn wegzuführen.
Karigan erinnerte sich, wie sie in der Bibliothek des Goldenen Wächters in Selium gegessen hatte. Aaron Fiori hatte von Avrath gesungen, einem leuchtenden Land. Er hatte Avrath für einen rein spirituellen Ort der Eleter gehalten. Vielleicht glaubten die Eleter, dass Avrath so etwas wie der Himmel sei und dass er sich in dem See spiegelte. Aber welche Bedeutung der See auch für sie haben mochte, eine Statue Mornhavons, die aus seinem Zentrum emporragte, verletzte sie anscheinend tief.
Bald blieb sie wieder hinter den anderen zurück, und da sie nicht mit Ard allein sein wollte, brachte sie ihren erschöpften Körper dazu, schneller vorwärtszugehen. Dann hielt sie inne. Der Nebel am anderen Ufer lichtete sich gerade genug, um die Spitzen hoher Türme zu enthüllen, die sich über die Bäume erhoben. Sie glänzten matt. Bevor die Wolken sie wieder verhüllten, leuchteten sie einen Moment lang in kristallener Klarheit auf, wie vielleicht vor langer, langer Zeit unter einem silbernen Mond. Dann erstarb das Licht, und die Türme verschwanden im Nebel.
Karigan zwinkerte, und eine Gänsehaut überlief ihre Arme. Hatte sie sich das wieder eingebildet? Lag es am Gift? Eines war ihr klar, als sie hinter den anderen herging: Auf der anderen Seite des Sees lag das legendäre Schloss Argenthyne.
Der Pfad senkte sich in vielen scharfen Kehren, was bedeutete, dass Karigan nie weit von den anderen entfernt war, obwohl sie zurückblieb. Ard wanderte nun in der Mitte der Reihe und unterhielt sich leutselig mit Solan. Von seinem seltsamen Verhalten auf der Geröllhalde mit den Findlingen war keine Spur geblieben, und sie zuckte die Achseln. Eigentlich war es erstaunlich, dass der Schwarzschleierwald nicht die gesamte Gruppe dazu brachte, sich seltsam zu benehmen.
Als sie ebenen Boden erreichten, war es dunkel geworden und über ihren Köpfen flatterten übergroße Fledermäuse durch die Luft.
»Wir werden heute Nacht hier lagern«, sagte Graelalea. »Morgen halten wir erst an, wenn wir den Hain erreicht haben.«
Während das Lager aufgeschlagen wurde, spürte Karigan, wie erregt und aufgewühlt Graelalea war. Sie hatte den Verdacht, dass die Eleterin, wenn sie allein gewesen wäre, wahrscheinlich ohne Anzuhalten bis zum Hain weitergegangen wäre, aber sie nahm Rücksicht auf den Zustand ihrer Reisegefährten. Es wäre unsinnig gewesen, dem Hain und dem, was sie dort erwarten mochte, in völliger Erschöpfung die Stirn zu bieten.
»Was passiert, wenn wir den Hain erreichen?«, wollte Grant wissen. Er half nicht beim Aufschlagen des Lagers, sondern stand einfach mitten in der Geschäftigkeit herum und rieb sich den Arm.
»Wir werden sehen, was wir dort vorfinden«, antwortete Graelalea.
Karigan wusste, dass sie sich über die Ereignisse des kommenden Tages Sorgen hätte machen sollen, aber sie war zu müde. Fast sogar zu müde, um ihre Portion Haferschleim zu essen, die Lynx ausgeteilt hatte. Und als sie aufgegessen hatte, kroch sie in ihr Zelt und schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen wurde der Pfad ebener, und sie kreuzten die Überreste geborstener Straßen. Bedrohliche Formen von Ruinen ragten aus dem Moos und der verfilzten Vegetation hervor. Sie näherten sich der Stadt Argenthyne und ihrem Schloss. Der Nebel bewegte sich gerade so weit über den Baumwipfeln, dass sie kurze, verlockende Blicke auf die Burgtürme erhaschen konnten.
Die Türme blieben stumpf und glanzlos, genau wie Karigan sie am Vorabend zum ersten Mal gesehen hatte. Sie bestanden nicht aus silbernen Mondstrahlen, wie die Lieder und Sagen erzählten, es sei denn, auch silberne Mondstrahlen konnten sterben. Trotzdem waren die Türme elegant, und Karigan stellte sich vor, wie hoch sie sich in den Himmel erhoben hätten, wenn der Nebel nicht gewesen wäre. Anmutige Brückenbogen, die sie an die verflochtenen Äste eines Waldes erinnerten, verbanden die Türme in verschiedenen Höhen miteinander.
In seinem gegenwärtigen Zustand war Argenthyne ganz anders, als Karigan es sich immer ausgemalt hatte, aber dennoch konnte sie es nicht fassen, dass sie wirklich hier war und eine Legende betrat. Was würde ihre Mutter dazu sagen? Vielleicht, dass so etwas gar nicht allzu erstaunlich war. Immerhin hatte sie einen Mondstein besessen.
Sie wusste, dass sie die eigentliche Stadt betreten hatten, als immer mehr Ruinen ringsum auftauchten. Es roch auch anders als vorher. Sie nahm nicht nur den Gestank des verrottenden Waldes wahr, sondern auch den schimmligen Geruch von Gebäuden, in denen seit Langem niemand gelebt hatte. Das Wachstum knorriger, siecher Bäume hatte die Bodenplatten gesprengt. Treppen ragten ins Nirgendwo. In der Mitte eines Platzes stand ein mit schwarzem Schlick verunreinigter Brunnen, und über allem ragten drohend die bleiernen Türme auf.
Karigan hatte all dies schon einmal gesehen, in einer Vision, die Prinz Jamentari ihr in den Wassern gezeigt hatte, die noch aus dem Indura Luin, dem Spiegel des Mondes stammten. In dieser Vision hatte sie auch den Gegensatz zu dem Argenthyne in seiner Blüte gesehen, wie es vor Mornhavons Eroberungszug und vor dem Verfall des Schwarzschleierwaldes gewesen war.
Sie schauderte, denn sie hörte zischendes Gemurmel, als wären die Eleter, die einst hier gelebt hatten, nur durch einen dünnen Schleier von ihnen getrennt, und als würde ihre eigene Zeit diese vergangene Zeitspanne sanft berühren. Oder vielleicht waren es auch Gespenster. Mit Gespenstern konnte sie fertigwerden.
»Hier spukt es«, brummte Grant wie ein Echo ihrer Gedanken.
»Nein«, sagte Ealdaen. »Eleter lassen keine Schatten zurück. Nur Ihre Rasse ist im Tod rastlos.«
Falls das stimmte, dachte Karigan, dann spürten sie wohl nur Luftströmungen, die durch die Türme strichen, und hörten das Stöhnen der zerstörten Gebäude. Was es auch sein mochte, Argenthyne besaß noch immer eine Stimme.
Ob eine ganze Stadt zu einem Gespenst werden konnte? Sie liefen jedenfalls mitten durch ihren Leichnam.
Am Brunnen blieben sie stehen. Eine schöne Figur hob ein geborstenes Gefäß über ihren Kopf. Beziehungsweise war sie früher schön gewesen, aber der helle Stein, aus dem sie bestand, war fleckig; es sah aus, als würden schwarze Tränen über ihre Wangen rinnen.
»Und wo ist nun Euer Hain?«, fragte Ard.
»Das östliche Blatt«, antwortete Graelalea.
»Was?«
»Diese Stadt«, erklärte Graelalea, »ist als Triade angelegt. Der Teich von Avrath ist das südliche Blatt. Wir stehen jetzt im nördlichen Blatt.«
Das Schloss, dachte Karigan, musste sich in der Mitte der Blätter erheben wie eine Blüte, das Herz von allem.
»Ich bin oft über diese Straßen gegangen«, sagte Ealdaen und betrachtete die Ruinen ringsum. »Ich kenne sie alle, vom Großen Stiel bis zu den engsten Windungen. Hier war mein Zuhause.«
Ein Schweigen breitete sich über sie, obwohl die Stadt noch immer hohl seufzte.
»Dann sollst du uns anführen«, sagte Graelalea zu Ealdaen. Er nickte, und sie reihten sich alle hinter ihm auf, wachsam gegenüber allen möglicherweise in den Ruinen verborgenen Gefahren. Krallen kratzten über Gestein, und eine Ratte, die viel größer war als alle Wasserratten, die Karigan je zuvor gesehen hatte, huschte vor ihnen über die Straße und verschwand in einem Schutthaufen.
Trotz der Vision, die sie damals im Spiegel des Mondes gesehen hatte, fiel es Karigan schwer, sich die Stadt lebendig und voller Eleter vorzustellen. Man konnte sich kaum vorstellen, dass früher so viele Eleter in diesem Land gelebt hatten. Irgendwie hatte Mornhavon sie mit seiner ungeheuren Macht völlig überwältigt.
Sie betrachtete Ealdaen, der mit gestrafften Schultern voranging, während die Spitzen an den Schulterplatten seiner Rüstung im Licht aufblitzten. Er spähte ständig nach allen Seiten, und seine Gesichtsmuskeln waren angespannt. Ob er sich an die letzten Augenblicke in Argenthyne erinnerte, als er vor Mornhavons Armeen und ihren Waffen geflohen war? Ganz bestimmt sogar. Wie er es wohl empfand, die Stadt nach so vielen Jahrhunderten völlig zerstört wiederzusehen? Genauso, wie sie es empfunden hätte, wenn dies Corsa oder Sacor-Stadt gewesen wäre. Er war verzweifelt, nicht so sehr aufgrund der verbliebenen Ruinen, sondern aufgrund der verlorenen Zivilisation, der sie entstammten.
Als sie ihre Reise begonnen hatten, war sie Ealdaen gegenüber sehr misstrauisch gewesen. Schließlich hatte er einmal versucht, sie umzubringen, und sie vertraute ihm noch immer nicht ganz, obwohl sich innerhalb der Gruppe inzwischen eine enge Überlebensgemeinschaft entwickelt hatte, die alle persönlichen Feindseligkeiten in den Hintergrund rückte. Bisher jedenfalls. Seit sie gesehen hatte, wie die Stadt auf ihn wirkte und wie er auf die Überreste von Telavalieth reagiert hatte, erschien er ihr längst nicht mehr so kalt und distanziert.
Die Türme, die Teil des Schlosses gewesen waren, lagen weiterhin rechts von ihnen; ihre Spitzen tauchten ab und zu im Nebel auf und verschwanden dann wieder. Während Karigan sich weiterschleppte, hörte sie erneut die Stimme der Stadt, diesmal in Form eines traurigen Gesangs.
Bald verstand Karigan, was Ealdaen gemeint hatte, als er sagte, er kenne hier jede »engste Windung«. So weit sie sehen konnte, gab es keine einzige Straße, die einer geraden Linie folgte. Die hiesigen Straßen stellten sogar den Kurvenweg von Sacor-Stadt in den Schatten.
Sie folgten endlosen Kurven, aber immer wenn sie dachte, dass sie nun bestimmt einen Kreis beschrieben hatten, kamen sie an eine Kreuzung und wandten sich in eine völlig andere Richtung. Waren die eletischen Straßenbauer geistesgestört gewesen? Nun ja, sie waren schließlich Eleter, und obwohl Karigan nun schon so lange und so weit mit einigen Eletern gereist war, hätte sie nicht behaupten können, dass ihre Art ihr weniger geheimnisvoll erschien als am Anfang der Reise. Es war zum Verrücktwerden, ständig fast im Kreis gehen zu müssen, denn wären die Straßen gerade gewesen, hätten sie ihr Ziel wesentlich schneller erreicht. Das Ganze erinnerte sie an einen jener frustrierenden Träume, in denen sie einen bestimmten Ort, an dem sie eine Aufgabe zu erfüllen hatte, trotz aller Bemühungen nicht erreichen konnte.
So weit sie sehen konnte, wäre es unmöglich gewesen, sich quer durch die Ruinen eine Abkürzung zu suchen – zumindest keine, die aussah, als wäre sie einigermaßen sicher, und die Eleter hatten offenbar ohnehin kein Verlangen danach, so etwas zu versuchen. Sie schienen entschlossen, ihrem Weg weiterhin zu folgen, auch wenn er sie andauernd im Kreis führte.
»Die Nythlinge mögen keine spiralförmigen Straßen«, brummte Grant vor sich hin. »Die mögen sie absolut nicht.«
Abgesehen von Grant schien niemand beunruhigt zu sein, also zuckte Karigan die Achseln und entschied, dass die Eleter bestimmt wussten, was das Beste war, und dass sie sich darüber keine Sorgen machen sollte.
Sie glaubte aber immer noch, dass die Straßenbauer geistesgestört gewesen waren. Oder vielleicht betrunken. Betranken sich Eleter überhaupt?
Diese Überlegungen amüsierten sie und hielten ihr die vereinzelten maskierten Tänzer vom Leib. Sie lenkten sie auch von dem Schmerz ab, der ihr Bein bei jedem Schritt durchzuckte, und von dem trüben Dunst, der tief über der Stadt hing, während sie ein totes Stadtviertel nach dem anderen durchquerten.
Sie konnte die Stimme der Stadt nicht ausblenden. Manchmal war sie wie ein Strom, der zähflüssig und unsichtbar zwischen den Ruinen murmelte, begleitet von einem rhythmischen Tröpfeln, das eine geheime Botschaft trommelte. Sie schauderte, als sie in der Ferne Kinder weinen hörte, und hatte manchmal das Gefühl, dass Luftströmungen die Türme zum Klingen brachten. Sie wurde immer tiefer hineingesogen, bis sie ein tiefes Seufzen hörte, in dem sie fast ihren Namen zu hören glaubte.
Sie fragte sich, ob Yates, der sich jetzt mehr denn je auf sein Gehör verlassen musste, die Stadt ebenfalls so wahrnahm wie sie. Sie überlegte, ob sie ihn danach fragen sollte, aber sie hatte Angst, das Schweigen der Gruppe zu brechen, als würde sie dadurch etwas Fragiles zerstören – als würde dadurch der Himmel über ihnen einstürzen, oder als würde sie einen schlafenden Gott aufwecken.
Ealdaen blieb stehen, und Karigan, die völlig in den Spiralen und Stimmen versunken war, sah erschrocken auf. Sie waren an einer Mauer angelangt, die steil vor ihnen aufragte und über der sich einer der Türme des Schlosses Argenthyne noch viel weiter in den Himmel erhob.
Wie vorauszusehen, war die Mauer nicht gerade und rechtwinklig, sondern beschrieb eine Kurve. Sie folgten einer Straße, die sich an ihre Krümmung schmiegte, wobei das Schloss weiterhin zu ihrer Rechten lag. Auf der anderen Straßenseite hörten die feuchten Ruinen und das Geröll abrupt auf, und der Schwarzschleierwald erhob sich über ihnen. Karigan begriff, dass sie das nördliche Blatt verlassen hatten und nun zum östlichen Blatt unterwegs waren, wo der Hain der Schläfer auf sie wartete.