55
Brittany
Um fünf Uhr morgens weckt mich das Klingeln meines Handys. Es ist Isabel. Wahrscheinlich braucht sie meinen Rat wegen Paco.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, frage ich zur Begrüßung.
»Er ist tot, Brittany. Er ist fort.«
Sofort bin ich hellwach. »Wer?«, frage ich panisch.
»Paco. Und … ich wusste nicht, ob ich dich anrufen sollte, aber du hättest früher oder später sowieso herausgefunden, dass Alex auch dort war und …«
Meine Finger umklammern das Telefon. »Wo ist er? Geht es ihm gut? Bitte, sag mir, dass es Alex gut geht. Ich flehe dich an, Isa. Bitte.«
»Er wurde angeschossen.«
Ich erwarte im nächsten Moment die gefürchteten Worte von ihr zu hören: Er ist tot. Aber sie kommen nicht. Stattdessen sagt sie: »Er wird gerade im Lakeshore Krankenhaus operiert.«
Sie hat ihren Satz kaum beendet, da reiße ich mir schon den Schlafanzug vom Leib und ziehe mir blitzschnell etwas über. Dann schnappe ich mir die Schlüssel und stürme aus dem Haus, das Handy noch immer ans Ohr gepresst, während Isabel mir stockend alle Details berichtet, die sie in Erfahrung bringen konnte.
Anscheinend ist der Drogendeal schiefgelaufen und Paco und Hector sind tot. Alex wurde angeschossen und wird noch operiert. Das ist alles, was sie weiß. Als ich den Wagen anlasse, verabschieden wir uns voneinander.
»Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott.« Wie ein Mantra murmle ich diese Worte auf der Fahrt zum Krankenhaus immer wieder vor mich hin. Als ich gestern Abend zu Alex fuhr, war ich sicher, er würde sich für mich entscheiden und nicht für den Drogendeal. Aber selbst wenn er unsere Liebe verraten hat, ich kann es nicht.
Tiefe Schluchzer schütteln mich. Paco hat mir gestern versichert, dass er dafür sorgen würde, dass Alex den Drogendeal nicht macht, aber … Oh Gott. Paco hat Alex’ Platz eingenommen und ist deswegen gestorben. Armer, großherziger Paco.
Ich versuche auszublenden, dass Alex die Operation vielleicht nicht überleben wird. Ein Teil von mir würde mit ihm sterben.
Im Krankenhaus frage ich die Schwester an der Rezeption, wo ich etwas über Alex’ Gesundheitszustand erfahren kann.
Die Frau bittet mich, seinen Namen zu buchstabieren, dann gibt sie ihn über ihre Tastatur ein. Sie braucht eine kleine Ewigkeit dafür, sodass ich sie am liebsten an den Schultern packen und schütteln möchte, damit sie einen Zahn zulegt.
Sie sieht mich neugierig an. »Gehören Sie zur Familie?«
»Ja.«
»Verwandtschaftsverhältnis?«
»Ich bin seine Schwester.«
Die Frau schüttelt ungläubig den Kopf, dann zuckt sie mit den Schultern. »Alejandro Fuentes ist mit einer Schusswunde eingeliefert worden.«
»Aber er wird es schaffen, oder?«, frage ich weinend.
Die Frau tippt wieder auf ihrer Tastatur herum. »Es scheint, als sei er den ganzen Morgen operiert worden, Miss Fuentes. Der Warteraum ist das orangefarbene Zimmer den Flur hinunter auf der rechten Seite. Der Doktor wird Sie nach der OP über den Zustand Ihres Bruders informieren.«
Ich klammere mich Halt suchend am Tresen fest. »Danke.«
Im Wartezimmer erstarre ich, als ich Alex’ Mutter und seine zwei Brüder in einer Ecke dicht beieinander auf orangefarbenen Krankenhausstühlen sitzen sehe. Seine Mutter blickt als Erste hoch. Ihre Augen sind blutunterlaufen und Tränen laufen ihr Gesicht hinunter.
Meine Hand fährt zu meinem Mund, vergeblich versuche ich ein Schluchzen zu unterdrücken. Durch die Tränen, die meinen Blick verschleiern, sehe ich, wie Mrs Fuentes ihre Arme für mich öffnet.
Von meinen Gefühlen überwältigt, renne ich zu ihr und lasse mich an ihr Herz drücken.
 
Seine Hand hat sich bewegt.
Ich hebe den Kopf von Alex’ Krankenhausbett, an dem ich die ganze Nacht gesessen und darauf gewartet habe, dass er aufwacht. Seine Mutter und seine Brüder sind ebenfalls nicht von seiner Seite gewichen.
Der Arzt hat gesagt, es könnte Stunden dauern, bis er das Bewusstsein wiedererlangt.
Ich benetze ein Papiertuch am Waschbecken des Krankenzimmers und kühle damit Alex’ Stirn. Das habe ich die ganze Nacht getan, während er schwitzte und sich in einem unruhigen Schlaf hin und her warf.
Seine Lider flattern. Ich sehe, wie er gegen die Narkosemittel ankämpft, während er langsam die Augen öffnet. »Wo bin ich?« Seine Stimme klingt kratzig und schwach.
»Im Krankenhaus«, antwortet seine Mutter, die sofort an seine Seite eilt.
»Du bist angeschossen worden«, ergänzt Carlos schmerzerfüllt.
Alex’ Brauen ziehen sich verwirrt zusammen. »Paco …«, flüstert er und seine Stimme kippt.
»Denk jetzt nicht daran«, sage ich und versuche ohne großen Erfolg das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. Ich muss jetzt stark für ihn sein und ich werde ihn nicht enttäuschen.
Es scheint, als wolle er nach meiner Hand greifen, aber dann legt sich ein schmerzerfüllter Ausdruck über sein Gesicht und er zieht die Hand wieder zurück. Es gibt so viel, das ich ihm erzählen will, ich habe so viel zu sagen. Ich wünschte, ich könnte einen Wiederholungstag bekommen und die Vergangenheit ändern. Ich wünschte, ich hätte Paco und Alex vor ihrem Schicksal bewahren können.
Seine Augen sind noch immer glasig von der Betäubung, als er mich ansieht und fragt: »Warum bist du hier?«
Ich beobachte, wie seine Mutter seinen Arm streichelt, versucht, ihm Trost zu spenden. »Brittany war die ganze Nacht hier, Alex. Sie macht sich große Sorgen um dich.«
»Lasst mich allein mit ihr sprechen«, sagt er kaum hörbar.
Seine Brüder und seine Mutter verlassen das Zimmer, damit wir ungestört reden können.
Als wir allein sind, zuckt er vor Schmerzen zusammen, als er sich aufsetzt. Dann mustert er mich mit leerem Blick. »Ich will, dass du gehst.«
»Das meinst du doch nicht ernst«, protestiere ich und nehme seine Hand. Er kann das nicht ernst meinen.
Aber Alex zieht seine Hand weg, als würde meine Berührung ihn verbrennen. »Doch, das tue ich.«
»Alex, wir schaffen das. Ich liebe dich.«
Er wendet den Kopf ab und konzentriert seinen Blick auf den Fußboden. Dann schluckt er und räuspert sich. »Ich habe dich wegen einer Wette gefickt, Brittany«, sagt er leise, aber unmissverständlich. »Es hat mir nichts bedeutet. Du bedeutest mir nichts.«
Ich weiche zurück, während Alex’ verletzende Worte in mein Bewusstsein dringen. »Nein«, flüstere ich.
»Du und ich … es war alles nur ein Spiel. Ich habe mit Lucky um seinen RX-7 gewettet, dass ich dich vor Thanksgiving ficken würde.«
Dass Alex das Wort »ficken« verwendet, wo wir uns doch geliebt haben, lässt mich zusammenzucken. Wenn er »vögeln« gesagt hätte, hätte das einen bitteren Nachgeschmack in meinem Mund hinterlassen. Dass er von »Ficken« spricht, dreht mir den Magen um. Meine Arme hängen starr herunter. Noch immer kann ich nicht glauben, was ich da höre. »Du lügst.«
Alex hebt seinen Blick vom Boden und sieht mir direkt in die Augen. Oh Gott. In diesem Blick liegt keinerlei Gefühl. Er ist genauso stahlhart wie seine Worte. »Du bist zu bemitleiden, wenn du meinst, das zwischen uns sei echt gewesen.«
Ich schüttle vehement den Kopf. »Tu mir das nicht an, Alex. Nicht du. Nicht jetzt.« Meine Lippen beben, während ich ein stilles aber flehendes »bitte« mit ihnen forme. Als er nicht antwortet, weiche ich noch einen Schritt zurück. Ich stolpere beinah, denn in Gedanken bin ich weit weg, bei meinem wahren Ich, das nur Alex kennt. Schmerzerfüllt flüstere ich: »Ich habe dir vertraut.«
»Das war dein Fehler, nicht meiner.«
Er berührt seine linke Schulter und zuckt vor Schmerzen zusammen, als auch schon ein paar seiner Freunde in den Raum drängen. Sie kondolieren ihm und zeigen ihm ihre Zuneigung, während ich vollkommen unbeachtet in der Ecke stehe.
»Dir ging es also nur um die Wette?«, frage ich ihn über die Geräuschkulisse hinweg.
Die sechs oder sieben Leute im Zimmer starren mich an. Sogar Alex. Isabel macht einen Schritt auf mich zu, aber ich hebe eine Hand und halte sie auf Abstand.
»Ist es wahr? Hat Alex gewettet, dass er mich ins Bett bekommt?«, frage ich, denn ich kann mein Gehirn immer noch nicht dazu bringen, Alex’ verletzende Worte zu glauben. Es kann nicht wahr sein.
Alle Blicke sind auf ihn gerichtet, nur Alex’ Blick bohrt sich in meinen.
»Sagt es ihr«, befiehlt er.
Ein Typ namens Sam hebt den Kopf. »Hm, äh, ja. Er hat Luckys RX-7 gewonnen.«
Ich bewege mich rückwärts auf die Zimmertür zu und versuche, es mit erhobenem Haupt zu tun. Alex’ Miene wirkt kalt und erbarmungslos. Von Gefühlen keine Spur.
Mein Hals ist wie zugeschnürt. »Herzlichen Glückwunsch, Alex«, würge ich hervor. »Ich hoffe, dir gefällt dein neues Auto.«
Als ich nach der Türklinke greife, verwandelt sich Alex’ stahlharter Blick in Erleichterung. Ich verlasse das Zimmer wie betäubt. Isabel ruft noch hinter mir her und folgt mir auf den Flur, aber ich renne vor ihr weg. Ich renne vor ihr weg, vor dem Krankenhaus und vor Alex. Unglücklicherweise kann ich nicht vor meinem Herzen davonlaufen. Es schmerzt, tief drin in meinem Körper. Und ich weiß, dass ich nie, nie wieder dieselbe sein werde.
Du oder das ganze Leben
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