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Alex
Sie hat mich angerufen. Wenn es nicht den Fetzen
Papier gäbe, auf den mein Bruder Luis ihren Namen und ihre Nummer
gekritzelt hat, würde ich niemals glauben, dass sie tatsächlich
meine Nummer gewählt hat. Luis in die Mangel zu nehmen hat nicht
viel gebracht, weil dieser Chaot die Hirnkapazität eines Flohs hat
und sich kaum daran erinnern konnte, den Anruf angenommen zu haben.
Zumindest habe ich die Info aus ihm rausbekommen, dass sie um
Rückruf gebeten hat.
Das war gestern Nachmittag, bevor sie meine Schuhe
vollgekotzt hat und in meinen Armen eingeschlafen ist.
Als ich von ihr gefordert habe, sie solle mir die
wahre Brittany zeigen, konnte ich die Angst in ihren Augen sehen.
Ich frage mich, wovor sie Angst hat und nehme mir vor, ihre Mauer
aus Perfektion niederzureißen. Ich weiß genau, dass da viel mehr
ist, als eine blonde Mähne und ein heißer Körper. Sie hat
Geheimnisse, die sie mit ins Grab nehmen will und solche, die sie
nur zu gern mit jemandem teilen würde. Oh Mann. Sie ist mir ein
Rätsel und ich brenne darauf, es zu lösen.
Als ich zu ihr sagte, wir seien uns ähnlich, war
das mein völliger Ernst. Diese Verbindung, die wir haben,
verschwindet nicht, sie wird immer stärker. Denn je mehr Zeit ich
mit ihr verbringe, desto näher will ich ihr sein.
Ich habe das Bedürfnis, Brittany anzurufen, bloß um
ihre
Stimme zu hören, selbst wenn sie nur ihr Gift verspritzen würde.
Auf dem Sofa sitzend, klappe ich mein Handy auf und gebe ihre
Nummer in mein Adressbuch ein.
»Wen rufst du an?«, fragt Paco, der ins Haus
stürmt, ohne zu klingeln oder anzuklopfen. Isa ist direkt hinter
ihm.
Ich klappe mein Handy wieder zu.
»Nadie.«
»Dann beweg deinen Hintern von der Couch und komm
mit Fußball spielen.«
Fußball zu spielen ist um einiges besser, als hier
rumzusitzen und über Brittany und ihre Geheimnisse nachzudenken,
selbst wenn ich immer noch die Nachwirkungen der gestrigen Party
spüre. Wir machen uns auf den Weg zum Park, wo eine Handvoll Jungs
sich bereits aufwärmt.
Mario, ein Typ aus meiner Stufe, dessen Bruder
letztes Jahr aus einem fahrenden Wagen heraus erschossen wurde,
haut mir auf den Rücken. »Machst du den Torwart, Alex?«
»Nein.« Ich habe, was man eine offensive
Persönlichkeit nennen könnte. Im Fußball und im wahren Leben.
»Paco, was ist mit dir?«
Paco lässt sich überreden und nimmt seine Position
ein, was bedeutet, dass er auf dem Arsch vor der Torlinie sitzt.
Wie gewöhnlich hockt mein fauler Freund so da, bis der Ball in
seine Spielhälfte rollt.
Die meisten der hier versammelten Jungs sind aus
meiner Nachbarschaft. Wir sind zusammen aufgewachsen, haben auf
diesem Spielplatz gespielt, seit wir Kinder waren und sind sogar
zur gleichen Zeit der Bruderschaft beigetreten. Ich erinnere mich,
dass Lucky mir vor meinem Aufnahmeritual erzählte, einer Gang
anzugehören, sei wie eine zweite Familie zu haben, eine Familie,
die für dich da sein würde, wenn die eigene Familie dich im Stich
ließe. Sie würde Schutz und Sicherheit bieten. Für ein Kind, das
seinen Vater verloren hatte, klang es verführerisch.
Über die Jahre habe ich gelernt, den ganzen üblen
Kram auszublenden. Die Schlägereien, die dreckigen Drogengeschäfte,
die Schießereien. Und ich rede nicht nur über die Typen von der
anderen Seite. Ich kenne Kerle, die versucht haben, auszusteigen,
die tot oder dermaßen aufgemischt gefunden wurden, dass sie sich
wahrscheinlich gewünscht haben, tot zu sein. Und das hat ihnen die
eigene Gang angetan.
Um ehrlich zu sein, ich verdränge es, weil es mir
eine Scheißangst einjagt. Man erwartet von mir, tough genug zu
sein, dass es mir nichts ausmacht. Aber es macht mir was aus.
Wir nehmen unsere Positionen auf dem Spielfeld ein.
Ich stelle mir vor, der Ball sei ein Jackpot. Wenn ich ihn vor
allen anderen abschirme und ins Tor schieße, werde ich mich auf
magische Weise in einen reichen, mächtigen Typen verwandeln, der
seine Familie (und Paco) aus dieser Hölle von Nachbarschaft
wegschaffen kann.
In beiden Mannschaften sind etliche gute Spieler.
Die anderen sind im Vorteil, weil wir Paco als Torhüter haben, der
sich am anderen Ende des Feldes in Seelenruhe an den Eiern
kratzt.
»Yo, Paco. Hör auf, an dir rumzuspielen!«, ruft
Mario.
Als Antwort macht Paco eine Riesenshow daraus, sich
mit beiden Händen an die Eier zu greifen und sie zu massieren.
Chris schießt den Ball direkt an ihm vorbei und trifft – Tor!
Mario holt den Ball aus dem Netz und wirft ihn nach
Paco. »Wenn du dem Spiel genauso viel Aufmerksamkeit schenken
würdest wie deinen Eiern, hätten sie kein Tor gemacht.«
»Ich kann nichts dafür, wenn sie jucken, Mann.
Deine Freundin muss mir letzte Nacht einen Sack Flöhe verpasst
haben.«
Mario lacht, da er nicht eine Sekunde glaubt, seine
Freundin würde ihn betrügen. Paco schmeißt Mario den Ball zu, der
ihn zu Lucky weiterspielt. Lucky bringt den Ball Richtung
Mittellinie. Er gibt an mich ab und ich bekomme meine Chance. Ich
dribble das von uns abgesteckte Feld entlang und stoppe nur kurz,
um abzuschätzen, wie weit ich noch habe, bevor ich einen Torschuss
wagen kann.
Ich täusche links an, gebe an Mario ab, der sofort
zu mir zurückspielt. Mit einem eleganten Schuss segelt der Ball
rechts am Torhüter vorbei und wir haben den Ausgleich
erzielt.
»Toooor!«, jubelt unser Team, während Mario mir
high five gibt.
Mit unserer Ausgelassenheit ist es jedoch schnell
vorbei. Ein blauer Escalade rollt verdächtig langsam die Straße
entlang.
»Kennst du den?«, fragt Mario angespannt.
Das Spiel ist sofort vergessen, als den Jungs
aufgeht, dass etwas nicht stimmt. »Vielleicht ist es eine
Vergeltungsmaßnahme«, sage ich.
Meine Augen lösen sich keinen Moment vom
Wagenfenster. Als das Auto anhält, warten wir alle darauf, einen
Blick auf etwas oder jemanden im Inneren des Wagens zu erhaschen.
Wir sind gewappnet.
Und doch bin ich es nicht. Mein Bruder Carlos
steigt mit einem Typen namens Wil aus dem Auto. Wils Ma ist in der
Gang und rekrutiert neue Mitglieder. Mein Bruder ist besser keins
von ihnen. Ich habe ihm wieder und wieder erklärt, dass ich ein
Latino Blood bin, damit er keins sein muss. Wenn ein
Familienmitglied dabei ist, steht der Rest unter dem Schutz der
Bruderschaft. Ich bin dabei. Carlos und Luis sind es nicht und ich
würde alles tun, damit das so bleibt.
Ich setze ein betont entspanntes Gesicht auf und
gehe rüber zu Wil. Das Fußballspiel ist vergessen. »Neues Auto?«,
frage ich ihn und begutachte seine Felgen.
»Es gehört meiner Mom.«
»Schick.« Ich wende mich meinem Bruder zu. »Wo habt
ihr Jungs euch rumgetrieben?«
Carlos lehnt sich an den Wagen, als sei mit Wil
abzuhängen keine große Sache. Wil ist vor Kurzem der Gang
beigetreten und hält sich seitdem für den Größten. »In der Mall.
Sie haben da diesen coolen, neuen Gitarrenladen. Hector hat uns
dort getroffen, und …«
Habe ich richtig gehört? »Hector?« Das Letzte, was
ich will, ist, dass mein Bruder in Hectors Dunstkreis gerät.
Wil, dessen riesiges Shirt über die Hose hängt,
verpasst Carlo einen Schlag auf die Schulter, damit er die Klappe
hält. Mein Bruder schließt seinen Mund, als könnte jeden Moment
etwas hineinfliegen. Ich schwöre, ich verpasse ihm einen Tritt in
den Hintern, der ihn von hier bis Mexiko katapultiert, wenn er auch
nur eine Sekunde darüber nachdenkt, ein Latino Blood zu
werden.
»Fuentes, spielst du jetzt oder nicht?«, brüllt
jemand vom Spielfeld aus.
Ich verberge meine Wut und frage meinen Bruder und
seinen sogenannten Freund: »Spielt ihr mit?«
»Nö. Wir hängen lieber bei mir ab«, erwidert
Wil.
Ich zucke die Achseln, als wäre es mir völlig
gleich, obwohl das ganz und gar nicht der Fall ist. Qué me
importa!
Ich kehre aufs Spielfeld zurück, auch wenn ich
Carlos viel lieber am Ohr packen und nach Haus schleifen würde.
Aber ich kann mir nicht erlauben, eine Szene zu provozieren, von
der Hector womöglich erfährt und beginnt, meine Loyalität in Frage
zu stellen.
Manchmal fühlt es sich an, als sei mein Leben eine
einzige große Lüge.
Carlos verschwindet mit Wil. Das in Kombination mit
der Tatsache, dass ich Brittany einfach nicht aus dem Schädel
bekomme, macht mich verrückt. Als das Spiel endlich weitergeht, bin
ich völlig durch den Wind. Plötzlich habe ich das Gefühl, die
Spieler der andern Mannschaft seien nicht mehr die Jungs,
die ich seit Ewigkeiten kenne, sondern meine Feinde, die zwischen
mir und allem stehen, das ich im Leben erreichen will. Ich erkämpfe
mir den Ball.
»Foul!«, schreit mich der Cousin einer meiner
Freunde an, als ich mit ihm zusammenpralle.
Ich hebe abwehrend die Hände. »Das war kein
Foul.«
»Du hast mich gestoßen.«
»Sei kein panocha«, erwidere ich im vollen
Bewusstsein, es gewaltig zu übertreiben.
Ich will den Kampf. Ich fordere ihn geradezu
heraus. Und er weiß es. Der Typ ist ungefähr so groß wie ich und
ähnlich schwer. Mein Adrenalinpegel steigt rasant.
»Du willst ein Stück von mir, pendejo?«,
sagt er, die Arme zur Seite gestreckt wie ein Vogel im
Gleitflug.
Einschüchterungsversuche ziehen bei mir nicht.
»Komm und hol es dir.«
Paco kommt angerannt und schiebt sich zwischen uns.
»Alex, reg dich ab!«
»Kämpft oder spielt!«, ruft jemand.
»Er hat gesagt, ich hätte ihn gefoult«, stoße ich
hervor, während das Blut in meinen Ohren rauscht.
Paco zuckt gleichgültig die Schultern. »Hast du
auch.«
Wenn selbst mein bester Freund nicht mehr zu mir
hält, ist das ein sicheres Zeichen, dass ich jedes Maß verloren
habe. Ich sehe mich um. Alle warten darauf, was ich tun werde. Mein
Adrenalin schreit nach Action, passend zu ihrer gestiegenen
Erwartung. Will ich überhaupt kämpfen? Auf jeden Fall, und sei es
nur, um diese unbändige Energie aus meinem Körper zu bekommen. Und
um zu vergessen, und sei es nur für eine Minute, dass die Nummer
meiner Chemiepartnerin in meinem Handy gespeichert ist. Und mein
Bruder auf der Rekrutierungsliste der Latino Blood steht.
Mein bester Freund drängt mich von dem Typen weg,
der mir den Kopf abreißen will, und schubst mich an die
Seitenlinie. Er ruft nach Ersatzspielern, die unsere Plätze auf dem
Spielfeld einnehmen.
»Warum hast du das getan?«, frage ich.
»Um deine Haut zu retten, Mann. Alex, du bist
komplett von der Rolle.«
»Ich hätte diesen Kerl zusammengefaltet.«
Paco sieht mir fest in die Augen und sagt: »Du bist
hier derjenige, der sich wie ein panocha aufführt.«
Ich schüttle seine Hände ab und stapfe davon, ohne
einen Schimmer zu haben, wie ich innerhalb weniger Wochen mein
Leben dermaßen gegen die Wand fahren konnte. Ich muss das wieder in
Ordnung bringen. Ich kümmere mich um Carlos, wenn er heute Abend
nach Hause kommt. Er wird sich eine Standpauke anhören müssen. Und
Brittany …
Sie wollte nicht, dass ich sie nach Hause fahre,
weil sie nicht mit mir gesehen werden wollte. Scheiß drauf. Carlos
ist nicht der Einzige, der sich eine Standpauke von mir verdient
hat.
Ich klappe mein Handy auf und wähle Brittanys
Nummer.
»Hallo?«
»Hier ist Alex«, sage ich. »Wir treffen uns vor der
Bücherei. Sofort.«
»Ich kann nicht.«
Das ist nicht die Brittany-Ellis-Show. Es ist die
Alex-Fuentes-Show. »Der Deal lautet folgendermaßen,
mamacita«, sage ich, während ich zu Hause ankomme und mich
auf mein Motorrad schwinge. »Du bist entweder in fünfzehn Minuten
vor der Bücherei oder ich komme mit fünf Freunden bei dir vorbei
und wir campen heute Nacht in deinem Vorgarten.«
»Wie kannst du es wagen«, beginnt sie, aber ich
klappe das Handy zu, bevor sie ihren Satz beenden kann.
Ich starte die Maschine, um Erinnerungen an die
letzte Nacht auszublenden, als sie sich an mich gekuschelt hat.
Dann realisiere ich, dass ich keinen Plan habe.
Ich frage mich, ob die Alex-Fuentes-Show wohl eher
als Komödie enden wird oder als Tragödie, was ich für sehr viel
wahrscheinlicher halte. So oder so, es wird eine Realityshow, die
man besser nicht verpassen sollte.