35
Brittany
Wenn es nach den Gerüchten geht, die sich wie ein Lauffeuer an der Fairfield verbreiten, wurde Alex verhaftet. Ich muss herausfinden, ob da was dran ist. Zwischen der ersten und zweiten Stunde entdecke ich endlich Isabel. Sie quatscht gerade mit ein paar Freundinnen, verabschiedet sich aber sofort von ihnen und zieht mich zur Seite.
Sie erzählt mir, dass Alex gestern verhaftet wurde, aber auf Kaution draußen ist. Sie hat keine Ahnung, wo er ist, doch sie wird sich umhören und mich zwischen der Dritten und Vierten an meinem Spind treffen. Ich haste in der kurzen Pause zwischen den beiden Stunden zum verabredeten Treffpunkt und entdecke sie schon von Weitem. Sie wartet auf mich.
»Sag keinem, dass du das von mir hast«, sagt sie und steckt mir ein gefaltetes Stück Papier zu.
Ich pfriemle es auseinander, während ich vorgebe, etwas in meinem Spind zu suchen. Es steht eine Adresse darauf.
Ich habe noch nie die Schule geschwänzt. Aber bisher ist auch noch nie ein Junge verhaftet worden, den ich geküsst habe.
Hier geht es darum, Farbe zu bekennen. Vor mir selbst. Und vor Alex, dem ich jetzt endlich die wahre Brittany zeigen werde, so wie er es sich schon lange wünscht. Es jagt mir Angst ein und ich bin nicht sicher, ob ich das Richtige tue. Aber ich kann die magnetische Anziehungskraft, die Alex auf mich ausübt, nicht länger leugnen.
Im Auto angekommen, gebe ich die Adresse in mein Navi ein. Es führt mich auf die Southside zu einem Laden, der »Enriques Autowerkstatt« heißt. Ein Typ steht davor. Seine Kinnlade fällt in dem Moment herunter, in dem er mich sieht.
»Ich suche nach Alex Fuentes.«
Der Typ antwortet nicht.
»Ist er da?«, frage ich und bin verunsichert. Vielleicht spricht er ja kein Englisch?
»Was willst du von Alejandro?«, sagt der Typ schließlich. Mein Herz schlägt so heftig, dass ich spüre, wie mein T-Shirt sich bei jedem Schlag hebt. »Ich muss ihn sprechen.«
»Er ist besser dran, wenn du ihn in Ruhe lässt«, sagt der Typ.
»Está bien, Enrique«, ertönt eine vertraute Stimme. Ich drehe mich zu Alex um, der an der Tür der Autowerkstatt lehnt. Aus seiner Tasche hängt ein Putzlappen und in der Hand hält er einen Schraubenschlüssel. Das Haar, das unter seinem Bandana hervorguckt, ist zerzaust und er wirkt männlicher auf mich, als je ein Kerl zuvor.
Ich möchte mich in seine Arme werfen. Ich muss von ihm hören, dass alles gut wird, dass er nie wieder ins Gefängnis zurückgeht.
Alex hält meinen Blick mit seinem fest.
»Ich schätze, ich lasse euch zwei besser mal allein«, glaube ich Enrique sagen zu hören, aber ich bin zu sehr auf Alex fixiert, um noch etwas anders wahrzunehmen.
Meine Füße scheinen wie festgewurzelt, deshalb ist es gut, dass er auf mich zuschlendert.
»Ähm«, beginne ich. Bitte lass mich das hier hinbekommen. »Ich, äh, habe gehört, du bist verhaftet worden. Ich musste einfach gucken, ob es dir gut geht.«
»Du hast die Schule geschwänzt, nur um nachzusehen, wie es mir geht?«
Ich nicke, denn ich habe plötzlich einen Knoten in der Zunge.
Alex weicht zurück. »Na dann. Jetzt, wo du gesehen hast, dass ich okay bin, kannst du ja zurück in die Schule. Ich muss wieder an die Arbeit. Mein Motorrad ist letzte Nacht beschlagnahmt worden und ich muss Geld verdienen, um es wiederzukriegen.«
»Warte«, rufe ich. Ich hole tief Luft. Es ist so weit. Ich werde ihm meine Gefühle offenbaren. »Ich weiß nicht, warum oder wann ich mich in dich verliebt habe, Alex. Aber es ist so. Seit ich am ersten Schultag beinah dein Motorrad umgenietet hätte, habe ich nicht aufhören können darüber nachzudenken, wie es wäre, mit dir zusammen zu sein. Und dieser Kuss … Gott, ich schwöre, in meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nie erlebt. Er hat etwas bedeutet. Meine Welt ist in diesem Augenblick völlig aus den Fugen geraten. Ich weiß, es ist verrückt, weil wir so verschieden sind. Und ich will nicht, dass die Leute in der Schule mitkriegen, dass zwischen uns etwas läuft. Vielleicht gefällt dir das mit der Geheimhaltung nicht, aber ich muss zumindest probieren, ob es funktioniert. Ich habe mit Colin Schluss gemacht, mit dem ich eine sehr öffentliche Beziehung hatte und ich bin bereit für eine private. Privat und echt. Ich weiß, ich blubbere wie eine Idiotin und wenn du nicht bald etwas sagst oder mir einen Wink gibst, was du denkst, dann werde ich …
»Sag das noch mal«, fordert er mich auf.
»Den kompletten Text?« Ich erinnere mich an eine Welt, die völlig aus den Fugen geraten ist, aber mir ist zu schwummrig, um die ganze Rede ein zweites Mal zu halten.
Er kommt näher. »Nein. Nur den Teil darüber, dass du dich in mich verliebt hast.«
Mein Blick versinkt in seinem. »Ich denke die ganze Zeit an dich, Alex. Und ich will dich wirklich unheimlich gerne noch einmal küssen.«
Seine Mundwinkel bewegen sich nach oben.
Unfähig, seinem Blick standzuhalten, sehe ich zu Boden. »Mach dich nicht über mich lustig.« Ich würde in diesem Moment mit so ziemlich allem fertig, aber nicht damit.
»Wende dich nicht von mir ab, mamacita. Ich würde mich nie über dich lustig machen.«
»Ich wollte mich nicht in dich verlieben«, gebe ich zu und hebe meinen Blick wieder, damit ich ihm in die Augen sehen kann.
»Ich weiß.«
»Es wird wahrscheinlich nicht funktionieren.«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Mein Familienleben ist nicht so der Hit. »
»Dann sind wir schon zu zweit«, erwidert er.
»Ich bin bereit, herauszufinden, was da gerade zwischen uns beiden passiert. Du auch?«
»Wenn wir nicht hier draußen wären«, sagt er, »würde ich dir zeigen …«
Ich schneide ihm das Wort ab, indem ich meine Hand in sein dichtes Haar grabe und seinen hinreißenden Kopf zu mir runterziehe. Wenn gerade keine Privatsphäre im Angebot ist, entscheide ich mich eben dafür, etwas von der wahren Brittany rauszulassen. Außerdem sind sämtliche Leute, vor denen wir unsere Beziehung verbergen müssen, in der Schule.
Alex lässt seine Arme lose herabhängen, aber als sich meine Lippen öffnen, stöhnt er in meinen Mund und der Schraubenschlüssel fällt klirrend zu Boden.
Seine starken Arme umschlingen mich und schenken mir ein Gefühl von Geborgenheit. Seine samtene Zunge spielt mit meiner und tief in meinem Inneren fühle ich ein mir unbekanntes Sehnen. Ich schmelze dahin. Das ist viel mehr als ein Kuss. Es ist … es fühlt sich einfach nach sehr viel mehr an.
Seine Hände halten keinen Augenblick still: die eine malt Kreise auf meinen Rücken, während die andere mit meinem Haar spielt.
Alex ist nicht der Einzige auf Entdeckungsreise. Meine Hände fahren über seinen ganzen Körper, spüren, wie seine Muskeln sich unter der Berührung anspannen, und ich merke, wie mein Sehnen nach ihm wächst. Ich streiche über Wange und Kinn und die kurzen Stoppeln seines Eintagebarts kratzen an meiner Haut.
Ein lautes Räuspern von Enrique lässt uns auseinanderfahren.
Der Blick, mit dem Alex mich ansieht, birst vor Leidenschaft. »Ich muss wieder an die Arbeit«, sagt er stoßweise atmend.
»Ja, klar.« Plötzlich ist mir unsere Knutschattacke peinlich und ich trete einen Schritt zurück.
»Sehen wir uns nachher?«, fragt er.
»Meine Freundin Sierra kommt zum Essen.«
»Die, die ständig in ihrer Handtasche kramt?«
»Hm, ja.« Ich muss schnell das Thema wechseln, oder ich gerate in Versuchung, ihn ebenfalls einzuladen. Ich sehe es schon vor mir, wie meine Mom Alex und seine Tattoos angewidert in der Luft zerreißt.
»Meine Cousine Elena heiratet am Sonntag. Begleite mich auf die Hochzeit«, bittet er mich.
Ich gucke zu Boden. »Es geht nicht, dass meine Freunde von uns erfahren. Oder meine Eltern.«
»Ich werde es ihnen nicht erzählen.«
»Was ist mit den Leuten auf der Hochzeit? Sie werden uns alle zusammen sehen.«
»Niemand aus der Schule wird da sein. Außer meiner Familie – und ich sorge dafür, dass sie die Klappe halten.«
Ich kann nicht. Lügen und mich aus dem Haus schleichen waren noch nie meine Stärke. Ich stoße ihn weg. »Ich kann nicht klar denken, wenn du so dicht neben mir stehst.«
»Gut. Und jetzt noch mal wegen der Hochzeit.«
Gott, ihn anzusehen löst in mir den Wunsch aus, mitzugehen. »Um wie viel Uhr ist es denn?«
»Um zwölf. Es wird ein Erlebnis, das du so schnell nicht vergisst. Vertrau mir. Ich hol dich um elf ab.«
»Ich habe noch nicht ›ja‹ gesagt.«
»Aber das wolltest du jeden Moment«, sagt er mit seiner dunklen, samtenen Stimme.
»Warum treffen wir uns nicht um elf hier?«, schlage ich vor und zeige auf die Werkstatt. Wenn meine Mom das mit uns rausfindet, ist die Hölle los.
Er hebt mein Kinn, damit ich ihm in die Augen sehe. »Warum hast du keine Angst davor, mit mir zusammen zu sein?«
»Machst du Witze? Ich fürchte mich zu Tode.« Ich konzentriere mich auf die Tattoos, die seine Arme bedecken.
»Ich kann nicht behaupten, ein blitzsauberes Leben zu führen. Er nimmt meine Hand und hält sie hoch, sodass unsere Handflächen aneinanderliegen. Denkt er über die unterschiedlichen Töne unserer Haut nach, seine rauen Fingerkuppen an meinen lackierten Nägeln? »Auf manche Weise sind wir so verschieden«, sagt er.
Ich verwebe meine Finger mit seinen. »Ja, aber auf andere sind wir uns so verdammt ähnlich.«
Das löst ein Lächeln bei ihm aus, bis sich Enrique schließlich noch einmal räuspert.
»Ich treffe dich hier am Sonntag um elf«, sage ich zum Abschied.
Alex geht rückwärts, nickt und zwinkert mir zu. »Dieses Mal ist es ein Date.«
Du oder das ganze Leben
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