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Brittany
Unmittelbar, nachdem ich Alex einen Idioten
genannt habe, ruft Mrs Peterson die Klasse zur Ordnung. »Ihr und
euer Partner werdet ein Thema für die Projektarbeit aus diesem Hut
ziehen«, verkündet sie. »Die Themen sind alle gleichermaßen
anspruchsvoll und werden Treffen mit euren Partnern auch außerhalb
der Unterrichtszeit erfordern.«
»Was ist mit Football?«, wirft Colin ein. »Ich darf
auf keinen Fall das Training versäumen.«
»Oder Cheerleading«, ergänzt Darlene, bevor ich
dasselbe sagen kann.
»Die Schule kommt zuerst. Es ist an euch und euren
Partnern, einen Termin zu vereinbaren, an dem ihr beide könnt«,
sagt Mrs Peterson, während sie durch die Reihen geht und uns den
Hut entgegenstreckt.
»Hey, Mrs P., ist die Aufgabe dabei, Multiple
Sklerose zu heilen?«, fragt Alex auf seine großspurige Art, die
mich schlichtweg in den Wahnsinn treibt. »Ich glaube nämlich nicht,
dass ein Schuljahr ausreicht, diese Aufgabe zu bewältigen.«
Ich sehe das dicke, fette D schon auf meinem
Zeugnis prangen. Denen von der Northwestern wird es egal sein, ob
es daran lag, dass mein Chemiepartner unsere Projektarbeit nicht
ernst genommen hat. Dem Typen ist sein eigenes Leben anscheinend
scheißegal, warum sollte der Chemieunterricht also irgendeine
Bedeutung für ihn haben? Die Vorstellung, dass Alex es in der Hand
hat, welche Note ich in Chemie bekommen werde, versetzt mich in
Panik. Für meine Eltern spiegeln Noten den Wert eines Menschen. Es
erübrigt sich zu sagen, dass ein C oder D bedeutet, dass man
wertlos ist.
Ich greife in den Hut und ziehe einen kleinen
weißen Papierstreifen hervor. Ich öffne ihn vorsichtig, während ich
mir gespannt auf die Unterlippe beiße. In Großbuchstaben steht da
das Wort HANDWÄRMER.
»Handwärmer?«, frage ich.
Alex lehnt sich zu mir rüber und liest den Zettel
mit verwirrtem Gesichtsausdruck. »Was sind Handwärmer, verdammt
noch mal?«
Mrs Peterson wirft Alex einen warnenden Blick zu.
»Wenn du gerne nach dem Unterricht noch etwas in der Schule bleiben
möchtest, habe ich einen weiteren blauen Nachsitzzettel für dich
auf meinem Pult, der bereits deinen Namen trägt. Jetzt stell mir
entweder die Frage noch einmal, ohne ausfällig zu werden, oder komm
nach dem Unterricht zu mir.«
»Es wäre toll, mit ihnen abzuhängen, Mrs P., aber
ich verbringe die Zeit lieber mit meiner Chemiepartnerin und
lerne«, erwidert Alex, der die Nerven hat, Colin zuzuzwinkern.
»Also stelle ich die Frage noch mal. Was genau sind
Handwärmer?«
»Es handelt sich um Thermochemie, Mr Fuentes. Wir
nutzen sie, um unsere Hände zu wärmen.«
Alex hat sein breites, anzügliches Grinsen
aufgesetzt, als er sich mir zuwendet. »Ich bin sicher, wir finden
noch andere Dinge, die wir wärmen können.«
»Ich hasse dich«, sage ich laut genug, dass Colin
und der Rest der Klasse mich hören können. Wenn ich einfach dasitze
und ihn gewähren lasse, ertönt vermutlich gleich das missbilligende
Schnalzen meiner Mutter in meinem Kopf, die mir eingebläut hat,
mein guter Ruf sei alles.
Ich weiß, dass die ganze Klasse unseren
Schlagabtausch beobachtet, sogar Isabel, die glaubt, Alex sei nicht
halb so schlimm wie alle denken. Sieht sie denn nicht, wie er
wirklich ist oder ist sie nur geblendet von seinen ebenmäßigen
Zügen und der Beliebtheit, die er unter seinen Freunden
genießt?
Alex flüstert: »Zwischen Liebe und Hass liegt ein
schmaler Grat. Vielleicht bringst du die Emotionen nur
durcheinander.«
Ich rutsche von ihm weg. »Darauf würde ich an
deiner Stelle nicht wetten.«
»Ich schon.«
Alex’ Blick fällt auf die Tür des Klassenzimmers.
Durch die Glasscheibe winkt sein Freund ihm zu. Sie wollen
wahrscheinlich zusammen schwänzen.
Alex schnappt sich seine Bücher und steht
auf.
Mrs Peterson dreht sich um. »Alex, setz
dich.«
»Ich muss pissen.«
Die Augenbrauen der Lehrerin ziehen sich zusammen
und sie stemmt eine Hand in die Hüfte. »Achte gefälligst auf deine
Ausdrucksweise. Das ist die letzte Warnung. Du brauchst deine
Bücher auf der Toilette nicht. Leg sie auf den Tisch zurück.«
Alex presst die Lippen zusammen, aber er legt die
Bücher auf den Tisch.
»Ich habe dir gesagt, in meiner Klasse sind
Gang-Accessoires tabu«, sagt Mrs Peterson. Ihr Blick ist auf das
Bandana gerichtet, das er vor seinen Schritt hält. Sie streckt ihre
Hand aus. »Gib es mir.«
Alex wirft einen Blick zur Tür, dann sieht er Mrs
Peterson an. »Was ist, wenn ich mich weigere?«
»Alex, fordere mich nicht heraus. Null Toleranz.
Möchtest du
eine Suspendierung?« Sie bewegt ihre Finger und signalisiert ihm
so, dass er ihr das Bandana besser auf der Stelle aushändigt.
Mit finsterem Blick legt er langsam das Bandana in
ihre Hand.
Mrs Peterson schnappt erschrocken nach Luft, als
sie ihm das Kopftuch abnimmt.
Ich kreische: »Oh mein Gott!«, als ich den riesigen
Fleck auf seinem Schritt entdecke.
Einer nach dem anderen beginnt loszuprusten.
Colin lacht am lautesten. »Mach dir nichts draus,
Fuentes. Meine Großmutter hat dasselbe Problem. Es ist nichts, was
eine große Windel nicht regeln könnte.«
Damit trifft er bei mir einen wunden Punkt, denn
die Erwähnung von Windeln für Erwachsene lässt mich sofort an meine
Schwester denken. Sich über Erwachsene lustig zu machen, die ihre
Körperfunktionen nicht unter Kontrolle haben, ist nicht witzig,
weil Shelley zu diesen Menschen gehört.
Alex setzt ein anzügliches Grinsen auf und sagt zu
Colin: »Deine Freundin konnte ihre Hände einfach nicht aus meiner
Hose lassen. Sie hat mir eine ganz neue Definition von Handwärmern
vermittelt, compa.«
Dieses Mal ist er zu weit gegangen. Mein Stuhl
schrammt über den Boden, als ich aufspringe.
»In deinen Träumen vielleicht!«, rufe ich
empört.
Alex will gerade antworten, als Mrs Peterson
»Alex!« brüllt. Sie räuspert sich. »Geh zur Krankenschwester und …
säubere dich. Nimm deine Bücher mit, denn im Anschluss wirst du zu
Dr. Aguirre gehen. Ich treffe dich in seinem Büro – mit deinen
Freunden Colin und Brittany.«
Alex greift sich die Bücher vom Tisch und verlässt
das Klassenzimmer, während ich mich zurück auf meinen Stuhl setze.
Da Mrs Peterson alle Hände voll zu tun hat, den Rest der Klasse
zur Ordnung zu rufen, habe ich Zeit über meinen gescheiterten
Versuch nachzugrübeln, Carmen Sanchez nicht in die Quere zu
kommen.
Falls sie glaubt, ich gefährde ihre Beziehung zu
Alex, könnten sich die Gerüchte, die sich heute sicher in
Windeseile verbreiten werden, als tödlich erweisen.