9
Brittany
Unmittelbar, nachdem ich Alex einen Idioten genannt habe, ruft Mrs Peterson die Klasse zur Ordnung. »Ihr und euer Partner werdet ein Thema für die Projektarbeit aus diesem Hut ziehen«, verkündet sie. »Die Themen sind alle gleichermaßen anspruchsvoll und werden Treffen mit euren Partnern auch außerhalb der Unterrichtszeit erfordern.«
»Was ist mit Football?«, wirft Colin ein. »Ich darf auf keinen Fall das Training versäumen.«
»Oder Cheerleading«, ergänzt Darlene, bevor ich dasselbe sagen kann.
»Die Schule kommt zuerst. Es ist an euch und euren Partnern, einen Termin zu vereinbaren, an dem ihr beide könnt«, sagt Mrs Peterson, während sie durch die Reihen geht und uns den Hut entgegenstreckt.
»Hey, Mrs P., ist die Aufgabe dabei, Multiple Sklerose zu heilen?«, fragt Alex auf seine großspurige Art, die mich schlichtweg in den Wahnsinn treibt. »Ich glaube nämlich nicht, dass ein Schuljahr ausreicht, diese Aufgabe zu bewältigen.«
Ich sehe das dicke, fette D schon auf meinem Zeugnis prangen. Denen von der Northwestern wird es egal sein, ob es daran lag, dass mein Chemiepartner unsere Projektarbeit nicht ernst genommen hat. Dem Typen ist sein eigenes Leben anscheinend scheißegal, warum sollte der Chemieunterricht also irgendeine Bedeutung für ihn haben? Die Vorstellung, dass Alex es in der Hand hat, welche Note ich in Chemie bekommen werde, versetzt mich in Panik. Für meine Eltern spiegeln Noten den Wert eines Menschen. Es erübrigt sich zu sagen, dass ein C oder D bedeutet, dass man wertlos ist.
Ich greife in den Hut und ziehe einen kleinen weißen Papierstreifen hervor. Ich öffne ihn vorsichtig, während ich mir gespannt auf die Unterlippe beiße. In Großbuchstaben steht da das Wort HANDWÄRMER.
»Handwärmer?«, frage ich.
Alex lehnt sich zu mir rüber und liest den Zettel mit verwirrtem Gesichtsausdruck. »Was sind Handwärmer, verdammt noch mal?«
Mrs Peterson wirft Alex einen warnenden Blick zu. »Wenn du gerne nach dem Unterricht noch etwas in der Schule bleiben möchtest, habe ich einen weiteren blauen Nachsitzzettel für dich auf meinem Pult, der bereits deinen Namen trägt. Jetzt stell mir entweder die Frage noch einmal, ohne ausfällig zu werden, oder komm nach dem Unterricht zu mir.«
»Es wäre toll, mit ihnen abzuhängen, Mrs P., aber ich verbringe die Zeit lieber mit meiner Chemiepartnerin und lerne«, erwidert Alex, der die Nerven hat, Colin zuzuzwinkern. »Also stelle ich die Frage noch mal. Was genau sind Handwärmer?«
»Es handelt sich um Thermochemie, Mr Fuentes. Wir nutzen sie, um unsere Hände zu wärmen.«
Alex hat sein breites, anzügliches Grinsen aufgesetzt, als er sich mir zuwendet. »Ich bin sicher, wir finden noch andere Dinge, die wir wärmen können.«
»Ich hasse dich«, sage ich laut genug, dass Colin und der Rest der Klasse mich hören können. Wenn ich einfach dasitze und ihn gewähren lasse, ertönt vermutlich gleich das missbilligende Schnalzen meiner Mutter in meinem Kopf, die mir eingebläut hat, mein guter Ruf sei alles.
Ich weiß, dass die ganze Klasse unseren Schlagabtausch beobachtet, sogar Isabel, die glaubt, Alex sei nicht halb so schlimm wie alle denken. Sieht sie denn nicht, wie er wirklich ist oder ist sie nur geblendet von seinen ebenmäßigen Zügen und der Beliebtheit, die er unter seinen Freunden genießt?
Alex flüstert: »Zwischen Liebe und Hass liegt ein schmaler Grat. Vielleicht bringst du die Emotionen nur durcheinander.«
Ich rutsche von ihm weg. »Darauf würde ich an deiner Stelle nicht wetten.«
»Ich schon.«
Alex’ Blick fällt auf die Tür des Klassenzimmers. Durch die Glasscheibe winkt sein Freund ihm zu. Sie wollen wahrscheinlich zusammen schwänzen.
Alex schnappt sich seine Bücher und steht auf.
Mrs Peterson dreht sich um. »Alex, setz dich.«
»Ich muss pissen.«
Die Augenbrauen der Lehrerin ziehen sich zusammen und sie stemmt eine Hand in die Hüfte. »Achte gefälligst auf deine Ausdrucksweise. Das ist die letzte Warnung. Du brauchst deine Bücher auf der Toilette nicht. Leg sie auf den Tisch zurück.«
Alex presst die Lippen zusammen, aber er legt die Bücher auf den Tisch.
»Ich habe dir gesagt, in meiner Klasse sind Gang-Accessoires tabu«, sagt Mrs Peterson. Ihr Blick ist auf das Bandana gerichtet, das er vor seinen Schritt hält. Sie streckt ihre Hand aus. »Gib es mir.«
Alex wirft einen Blick zur Tür, dann sieht er Mrs Peterson an. »Was ist, wenn ich mich weigere?«
»Alex, fordere mich nicht heraus. Null Toleranz. Möchtest du eine Suspendierung?« Sie bewegt ihre Finger und signalisiert ihm so, dass er ihr das Bandana besser auf der Stelle aushändigt.
Mit finsterem Blick legt er langsam das Bandana in ihre Hand.
Mrs Peterson schnappt erschrocken nach Luft, als sie ihm das Kopftuch abnimmt.
Ich kreische: »Oh mein Gott!«, als ich den riesigen Fleck auf seinem Schritt entdecke.
Einer nach dem anderen beginnt loszuprusten.
Colin lacht am lautesten. »Mach dir nichts draus, Fuentes. Meine Großmutter hat dasselbe Problem. Es ist nichts, was eine große Windel nicht regeln könnte.«
Damit trifft er bei mir einen wunden Punkt, denn die Erwähnung von Windeln für Erwachsene lässt mich sofort an meine Schwester denken. Sich über Erwachsene lustig zu machen, die ihre Körperfunktionen nicht unter Kontrolle haben, ist nicht witzig, weil Shelley zu diesen Menschen gehört.
Alex setzt ein anzügliches Grinsen auf und sagt zu Colin: »Deine Freundin konnte ihre Hände einfach nicht aus meiner Hose lassen. Sie hat mir eine ganz neue Definition von Handwärmern vermittelt, compa
Dieses Mal ist er zu weit gegangen. Mein Stuhl schrammt über den Boden, als ich aufspringe.
»In deinen Träumen vielleicht!«, rufe ich empört.
Alex will gerade antworten, als Mrs Peterson »Alex!« brüllt. Sie räuspert sich. »Geh zur Krankenschwester und … säubere dich. Nimm deine Bücher mit, denn im Anschluss wirst du zu Dr. Aguirre gehen. Ich treffe dich in seinem Büro – mit deinen Freunden Colin und Brittany.«
Alex greift sich die Bücher vom Tisch und verlässt das Klassenzimmer, während ich mich zurück auf meinen Stuhl setze. Da Mrs Peterson alle Hände voll zu tun hat, den Rest der Klasse zur Ordnung zu rufen, habe ich Zeit über meinen gescheiterten Versuch nachzugrübeln, Carmen Sanchez nicht in die Quere zu kommen.
Falls sie glaubt, ich gefährde ihre Beziehung zu Alex, könnten sich die Gerüchte, die sich heute sicher in Windeseile verbreiten werden, als tödlich erweisen.
Du oder das ganze Leben
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