53
Brittany
Ich sitze seit fünf Minuten in meinem Wagen vor Sierras Haus. Ich kann immer noch nicht fassen, dass Alex und ich es getan haben. Ich bereue keinen einzigen Augenblick davon, aber ich kann es immer noch nicht fassen.
Heute habe ich gespürt, wie verzweifelt Alex war, als wolle er mir durch sein Handeln etwas beweisen und nicht durch leere Worte. Ich bin wütend, weil ich so gefühlsduselig gewesen bin, aber ich konnte nichts dagegen tun. Unbändige Freude, Glücksgefühle und tief empfundene Liebe waren es, die mir die Tränen über das Gesicht strömen ließen. Und als ich sah, wie sich eine Träne von seinen Wimpern löste, habe ich sie weggeküsst … Ich wollte diese Träne für immer bewahren, denn es war das erste Mal, dass Alex sich mir auf diese Weise geöffnet hat. Alex weint nicht, er lässt normalerweise nicht zu, dass ihn irgendetwas so tief berührt.
Der heutige Abend hat ihn verändert, ob er es nun wahrhaben will oder nicht.
Auch ich bin nicht mehr dieselbe.
Ich betrete Sierras Haus. Sierra sitzt auf der Couch im Wohnzimmer. Mein Vater und meine Mutter sitzen ihr gegenüber.
»Das sieht verdächtig nach einer Verschwörung aus«, sage ich zu ihnen.
Sierra erwidert: »Keine Verschwörung, Brit, nur ein Gespräch.«
»Wieso?«
»Ist das nicht offensichtlich?«, fragt mein Dad. »Du lebst nicht länger zu Hause.«
Ich stehe vor meinen Eltern und frage mich, wie es so weit kommen konnte. Meine Mutter trägt einen schwarzen Hosenanzug und hat das Haar im Nacken zu einem Dutt festgesteckt. Sie sieht aus, als wollte sie auf eine Beerdigung. Mein Dad trägt Jeans und Sweatshirt, seine Augen sind blutunterlaufen. Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen, das sehe ich. Und meine Mom vielleicht auch nicht, aber das würde sie niemals zugeben. Sie würde ein paar Pillen einwerfen, um den Schlafmangel zu übertünchen.
»Ich kann nicht länger die perfekte Tochter spielen. Ich bin nun mal nicht perfekt«, sage ich ruhig und beherrscht. »Könnt ihr damit leben?«
Die Augenbrauen meines Dads ziehen sich zusammen, als müsse er darum kämpfen, die Beherrschung nicht zu verlieren. »Wir verlangen doch gar nicht, dass du perfekt bist. Patricia, sag ihr bitte, wie du darüber denkst.«
Meine Mom schüttelt den Kopf, als könne sie nicht nachvollziehen, warum ich so eine große Sache daraus mache. »Brit, das geht jetzt schon viel zu lange so. Hör auf zu schmollen, hör auf zu rebellieren und hör um Himmels willen damit auf, so selbstsüchtig zu sein. Dein Vater und ich erwarten nicht von dir, dass du perfekt bist. Wir erwarten, dass du im Rahmen deiner Möglichkeiten dein Bestes gibst, das ist alles.«
»Weil Shelley, egal wie sehr sie es auch versucht, euren Erwartungen nie gerecht werden kann?«
»Lass Shelley aus dem Spiel«, schaltet sich mein Vater ein. »Das ist nicht fair.«
»Warum nicht? Hier geht es im Grunde genommen doch um sie.« Ich bin am Ende meiner Kräfte und fühle mich vollkommen unverstanden. So als würden die Worte, die aus meinem Mund strömen, sowieso nie bei ihnen ankommen. Ich lasse mich auf einen der mit Samt gepolsterten Stühle vor ihnen fallen. »Um das mal klarzustellen: Ich bin nicht weggelaufen. Ich bin nur bei meiner besten Freundin eingezogen.«
Meine Mom wischt eine Fluse von ihrem Oberschenkel. »Gott sei Dank gibt es Sierra. Sie hat uns auf dem Laufenden gehalten und uns täglich Bericht erstattet.«
Ich sehe meine beste Freundin an, die immer noch auf der Wohnzimmercouch sitzt und Zeugin der Ellis-Familienkrise wird. Sierra hebt schuldbewusst die Hände, dann eilt sie zur Haustür, um Süßigkeiten an ein paar Kinder zu verteilen, die gerade an der Tür geklingelt haben und lauthals »Süßes oder Saures!«, brüllen.
Meine Mom sitzt kerzengrade auf der Sofakante. »Was müssen wir tun, damit du nach Hause kommst?«
Ich wünsche mir so vieles von meinen Eltern, wahrscheinlich viel mehr, als sie mir je geben können. »Ich weiß es nicht.«
Mein Dad stützt die Stirn in die Hand, als hätte er Kopfschmerzen. »Ist es so schlimm zu Hause?«
»Ja. Na ja, nicht schlimm, aber stressig. Mom, du stresst mich total. Und Dad, ich hasse es, dass du kommst und gehst, als sei unser Zuhause ein Hotel. Wir leben als Fremde in diesem Haus nebeneinander her. Ich liebe euch beide, aber ich will nicht ständig ›das Beste geben, das ich im Rahmen meiner Möglichkeiten leisten kann‹. Ich möchte einfach nur ich selbst sein dürfen. Ich möchte die Freiheit, meine eigenen Entscheidungen zu treffen und aus meinen Fehlern zu lernen, ohne deswegen gleich Herzrasen zu bekommen oder mich schuldig zu fühlen oder mir Sorgen darum machen zu müssen, dass ich eure Erwartungen nicht erfülle.« Ich schlucke meine Tränen hinunter. »Ich möchte euch nicht enttäuschen. Ich weiß, Shelley kann niemals so sein wie ich. Es tut mir so leid … bitte schickt sie nicht weg wegen mir.«
Mein Dad kniet sich vor mich hin. »Es gibt nichts, was dir leid tun müsste, Brit, wir schicken sie doch nicht wegen dir weg. Shelleys Behinderung ist nicht deine Schuld. Niemand ist daran schuld.«
Meine Mom sitzt vollkommen ruhig und unbewegt da. Sie starrt die Wand an, als sei sie in Trance. »Es ist meine Schuld«, sagt sie dann.
Damit hat sie schlagartig unsere Aufmerksamkeit, denn das sind so ziemlich die letzten Worte, die wir aus ihrem Mund erwartet hätten.
»Patricia?«, sagt mein Dad und versucht, ihren Blick einzufangen.
»Mom, wovon redest du?«, frage ich.
Sie blickt weiter starr geradeaus. »All diese Jahre habe ich mir die Schuld gegeben.«
»Patricia, es ist nicht deine Schuld.«
»Nachdem ich Shelley bekommen hatte, bin ich mit ihr zu Spielgruppen gegangen«, sagt meine Mom so leise, als spräche sie mit sich selbst. »Ich gebe zu, ich habe die anderen Mütter um ihre normalen Kinder beneidet, die ganz allein den Kopf heben und nach Dingen greifen konnten. Die meiste Zeit sahen die anderen Mütter mich mitleidig an. Das habe ich gehasst. Ich wurde wie besessen von dem Gedanken, dass ich ihre Behinderung hätte verhindern können, wenn ich während der Schwangerschaft mehr Gemüse gegessen und mehr Sport getrieben hätte. Ich gab mir die Schuld an ihrer Behinderung, auch als dein Vater immer wieder beteuerte, dass ich dafür nicht verantwortlich sei.« Sie sieht mich an und lächelt wehmütig. »Dann kamst du. Meine blonde, blauäugige Prinzessin.«
»Mom, ich bin keine Prinzessin und Shelley ist niemand, mit dem man Mitleid haben müsste. Ich werde mich nicht mit den Jungs treffen, die du toll findest. Ich werde nicht immer das anziehen, was du für mich aussuchst. Und ich werde mich definitiv nicht immer so verhalten, wie du es gerne hättest. Auch Shelley wird deine Erwartungen nicht immer erfüllen.«
»Ich weiß.«
»Wirst du jemals damit leben können?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Du bist viel zu kritisch. Mein Gott, ich gäbe alles darum, wenn du endlich aufhörtest, mir für alles, was falsch läuft, die Schuld zu geben. Liebe mich so, wie ich bin. Liebe Shelley so, wie sie ist. Hör auf, dich immer nur auf das Negative zu konzentrieren, dafür ist das Leben viel zu kurz.«
»Du willst, dass ich aufhöre, mir Sorgen zu machen, obwohl du gerade beschlossen hast, mit einem Gangmitglied zusammen zu sein?«, fragt sie.
»Nein. Ja. Ich weiß nicht. Wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass du mich dafür verurteilst, würde ich dir viel mehr von ihm erzählen. Wenn du ihn nur kennenlernen könntest … Es steckt sooo viel mehr in ihm, als er die Menschen auf den ersten Blick sehen lässt. Aber wenn du mich dazu zwingst, mich aus dem Haus zu schleichen, um ihn zu treffen, dann werde ich das eben tun.«
»Er ist in einer Gang«, sagt meine Mom trocken.
»Sein Name ist Alex.«
Mein Dad setzt sich zurück aufs Sofa. »Seinen Namen zu kennen ändert nichts an der Tatsache, dass er in einer Gang ist, Brittany.«
»Nein, das tut es nicht. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Was ist euch lieber? Dass ich euch die Wahrheit sage oder dass ich euch belüge?«
Es dauert eine Stunde, bis meine Mom sich bereiterklärt, zu versuchen, nicht länger die überfürsorgliche Glucke zu geben. Und bis mein Dad zustimmt, zweimal die Woche vor sechs zu Hause zu sein.
Ich habe mich einverstanden erklärt, Alex zu uns einzuladen, damit sie ihn kennenlernen können. Und ihnen zu erzählen, wohin ich gehe und mit wem. Sie haben nicht versprochen, die Männer, die ich mir aussuche, zu mögen oder zu akzeptieren, aber es ist ein Anfang. Ich möchte versuchen, die Dinge in Ordnung zu bringen, denn es ist viel besser, die Scherben aufzuheben und zu kitten, als sie einfach liegen zu lassen.
Du oder das ganze Leben
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