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Brittany
Ich sitze seit fünf Minuten in meinem Wagen vor
Sierras Haus. Ich kann immer noch nicht fassen, dass Alex und ich
es getan haben. Ich bereue keinen einzigen Augenblick davon, aber
ich kann es immer noch nicht fassen.
Heute habe ich gespürt, wie verzweifelt Alex war,
als wolle er mir durch sein Handeln etwas beweisen und nicht durch
leere Worte. Ich bin wütend, weil ich so gefühlsduselig gewesen
bin, aber ich konnte nichts dagegen tun. Unbändige Freude,
Glücksgefühle und tief empfundene Liebe waren es, die mir die
Tränen über das Gesicht strömen ließen. Und als ich sah, wie sich
eine Träne von seinen Wimpern löste, habe ich sie weggeküsst … Ich
wollte diese Träne für immer bewahren, denn es war das erste Mal,
dass Alex sich mir auf diese Weise geöffnet hat. Alex weint nicht,
er lässt normalerweise nicht zu, dass ihn irgendetwas so tief
berührt.
Der heutige Abend hat ihn verändert, ob er es nun
wahrhaben will oder nicht.
Auch ich bin nicht mehr dieselbe.
Ich betrete Sierras Haus. Sierra sitzt auf der
Couch im Wohnzimmer. Mein Vater und meine Mutter sitzen ihr
gegenüber.
»Das sieht verdächtig nach einer Verschwörung aus«,
sage ich zu ihnen.
Sierra erwidert: »Keine Verschwörung, Brit, nur ein
Gespräch.«
»Wieso?«
»Ist das nicht offensichtlich?«, fragt mein Dad.
»Du lebst nicht länger zu Hause.«
Ich stehe vor meinen Eltern und frage mich, wie es
so weit kommen konnte. Meine Mutter trägt einen schwarzen
Hosenanzug und hat das Haar im Nacken zu einem Dutt festgesteckt.
Sie sieht aus, als wollte sie auf eine Beerdigung. Mein Dad trägt
Jeans und Sweatshirt, seine Augen sind blutunterlaufen. Er hat die
ganze Nacht nicht geschlafen, das sehe ich. Und meine Mom
vielleicht auch nicht, aber das würde sie niemals zugeben. Sie
würde ein paar Pillen einwerfen, um den Schlafmangel zu
übertünchen.
»Ich kann nicht länger die perfekte Tochter
spielen. Ich bin nun mal nicht perfekt«, sage ich ruhig und
beherrscht. »Könnt ihr damit leben?«
Die Augenbrauen meines Dads ziehen sich zusammen,
als müsse er darum kämpfen, die Beherrschung nicht zu verlieren.
»Wir verlangen doch gar nicht, dass du perfekt bist. Patricia, sag
ihr bitte, wie du darüber denkst.«
Meine Mom schüttelt den Kopf, als könne sie nicht
nachvollziehen, warum ich so eine große Sache daraus mache. »Brit,
das geht jetzt schon viel zu lange so. Hör auf zu schmollen, hör
auf zu rebellieren und hör um Himmels willen damit auf, so
selbstsüchtig zu sein. Dein Vater und ich erwarten nicht von dir,
dass du perfekt bist. Wir erwarten, dass du im Rahmen deiner
Möglichkeiten dein Bestes gibst, das ist alles.«
»Weil Shelley, egal wie sehr sie es auch versucht,
euren Erwartungen nie gerecht werden kann?«
»Lass Shelley aus dem Spiel«, schaltet sich mein
Vater ein. »Das ist nicht fair.«
»Warum nicht? Hier geht es im Grunde genommen doch
um sie.« Ich bin am Ende meiner Kräfte und fühle mich vollkommen
unverstanden. So als würden die Worte, die aus meinem Mund strömen,
sowieso nie bei ihnen ankommen. Ich lasse mich auf einen der mit
Samt gepolsterten Stühle vor ihnen fallen. »Um das mal
klarzustellen: Ich bin nicht weggelaufen. Ich bin nur bei meiner
besten Freundin eingezogen.«
Meine Mom wischt eine Fluse von ihrem Oberschenkel.
»Gott sei Dank gibt es Sierra. Sie hat uns auf dem Laufenden
gehalten und uns täglich Bericht erstattet.«
Ich sehe meine beste Freundin an, die immer noch
auf der Wohnzimmercouch sitzt und Zeugin der Ellis-Familienkrise
wird. Sierra hebt schuldbewusst die Hände, dann eilt sie zur
Haustür, um Süßigkeiten an ein paar Kinder zu verteilen, die gerade
an der Tür geklingelt haben und lauthals »Süßes oder Saures!«,
brüllen.
Meine Mom sitzt kerzengrade auf der Sofakante. »Was
müssen wir tun, damit du nach Hause kommst?«
Ich wünsche mir so vieles von meinen Eltern,
wahrscheinlich viel mehr, als sie mir je geben können. »Ich weiß es
nicht.«
Mein Dad stützt die Stirn in die Hand, als hätte er
Kopfschmerzen. »Ist es so schlimm zu Hause?«
»Ja. Na ja, nicht schlimm, aber stressig. Mom, du
stresst mich total. Und Dad, ich hasse es, dass du kommst und
gehst, als sei unser Zuhause ein Hotel. Wir leben als Fremde in
diesem Haus nebeneinander her. Ich liebe euch beide, aber ich will
nicht ständig ›das Beste geben, das ich im Rahmen meiner
Möglichkeiten leisten kann‹. Ich möchte einfach nur ich selbst sein
dürfen. Ich möchte die Freiheit, meine eigenen Entscheidungen zu
treffen und aus meinen Fehlern zu lernen, ohne deswegen gleich
Herzrasen zu bekommen oder mich schuldig zu fühlen oder mir Sorgen
darum machen zu müssen, dass ich eure Erwartungen nicht erfülle.«
Ich schlucke meine Tränen hinunter.
»Ich möchte euch nicht enttäuschen. Ich weiß, Shelley kann niemals
so sein wie ich. Es tut mir so leid … bitte schickt sie nicht weg
wegen mir.«
Mein Dad kniet sich vor mich hin. »Es gibt nichts,
was dir leid tun müsste, Brit, wir schicken sie doch nicht wegen
dir weg. Shelleys Behinderung ist nicht deine Schuld. Niemand ist
daran schuld.«
Meine Mom sitzt vollkommen ruhig und unbewegt da.
Sie starrt die Wand an, als sei sie in Trance. »Es ist meine
Schuld«, sagt sie dann.
Damit hat sie schlagartig unsere Aufmerksamkeit,
denn das sind so ziemlich die letzten Worte, die wir aus ihrem Mund
erwartet hätten.
»Patricia?«, sagt mein Dad und versucht, ihren
Blick einzufangen.
»Mom, wovon redest du?«, frage ich.
Sie blickt weiter starr geradeaus. »All diese Jahre
habe ich mir die Schuld gegeben.«
»Patricia, es ist nicht deine Schuld.«
»Nachdem ich Shelley bekommen hatte, bin ich mit
ihr zu Spielgruppen gegangen«, sagt meine Mom so leise, als spräche
sie mit sich selbst. »Ich gebe zu, ich habe die anderen Mütter um
ihre normalen Kinder beneidet, die ganz allein den Kopf heben und
nach Dingen greifen konnten. Die meiste Zeit sahen die anderen
Mütter mich mitleidig an. Das habe ich gehasst. Ich wurde wie
besessen von dem Gedanken, dass ich ihre Behinderung hätte
verhindern können, wenn ich während der Schwangerschaft mehr Gemüse
gegessen und mehr Sport getrieben hätte. Ich gab mir die Schuld an
ihrer Behinderung, auch als dein Vater immer wieder beteuerte, dass
ich dafür nicht verantwortlich sei.« Sie sieht mich an und lächelt
wehmütig. »Dann kamst du. Meine blonde, blauäugige
Prinzessin.«
»Mom, ich bin keine Prinzessin und Shelley ist
niemand, mit dem man Mitleid haben müsste. Ich werde mich nicht mit
den Jungs treffen, die du toll findest. Ich werde nicht immer das
anziehen, was du für mich aussuchst. Und ich werde mich definitiv
nicht immer so verhalten, wie du es gerne hättest. Auch Shelley
wird deine Erwartungen nicht immer erfüllen.«
»Ich weiß.«
»Wirst du jemals damit leben können?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Du bist viel zu kritisch. Mein Gott, ich gäbe
alles darum, wenn du endlich aufhörtest, mir für alles, was falsch
läuft, die Schuld zu geben. Liebe mich so, wie ich bin. Liebe
Shelley so, wie sie ist. Hör auf, dich immer nur auf das Negative
zu konzentrieren, dafür ist das Leben viel zu kurz.«
»Du willst, dass ich aufhöre, mir Sorgen zu machen,
obwohl du gerade beschlossen hast, mit einem Gangmitglied zusammen
zu sein?«, fragt sie.
»Nein. Ja. Ich weiß nicht. Wenn ich nicht das
Gefühl hätte, dass du mich dafür verurteilst, würde ich dir viel
mehr von ihm erzählen. Wenn du ihn nur kennenlernen könntest … Es
steckt sooo viel mehr in ihm, als er die Menschen auf den ersten
Blick sehen lässt. Aber wenn du mich dazu zwingst, mich aus dem
Haus zu schleichen, um ihn zu treffen, dann werde ich das eben
tun.«
»Er ist in einer Gang«, sagt meine Mom
trocken.
»Sein Name ist Alex.«
Mein Dad setzt sich zurück aufs Sofa. »Seinen Namen
zu kennen ändert nichts an der Tatsache, dass er in einer Gang ist,
Brittany.«
»Nein, das tut es nicht. Aber es ist ein Schritt in
die richtige Richtung. Was ist euch lieber? Dass ich euch die
Wahrheit sage oder dass ich euch belüge?«
Es dauert eine Stunde, bis meine Mom sich
bereiterklärt, zu versuchen, nicht länger die überfürsorgliche
Glucke zu geben. Und bis mein Dad zustimmt, zweimal die Woche vor
sechs zu Hause zu sein.
Ich habe mich einverstanden erklärt, Alex zu uns
einzuladen, damit sie ihn kennenlernen können. Und ihnen zu
erzählen, wohin ich gehe und mit wem. Sie haben nicht versprochen,
die Männer, die ich mir aussuche, zu mögen oder zu akzeptieren,
aber es ist ein Anfang. Ich möchte versuchen, die Dinge in Ordnung
zu bringen, denn es ist viel besser, die Scherben aufzuheben und zu
kitten, als sie einfach liegen zu lassen.