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Brittany
Wir haben den ersten April. Ich habe Alex seit
fünf Monaten nicht gesehen, seit dem Tag nach der Schießerei. Die
Gerüchte über Paco und Alex wurden irgendwann weniger und die
Psychologen und Sozialarbeiter sind wieder von der Schule
abgezogen.
Letzte Woche habe ich unserer Sozialarbeiterin in
der Schule erzählt, ich hätte mehr als fünf Stunden geschlafen,
aber das war gelogen. Seit der Schießerei habe ich Probleme
durchzuschlafen. Ich wache mitten in der Nacht auf, weil mein Kopf
nicht aufhören will, das grauenvolle Gespräch zu analysieren, das
Alex und ich im Krankenhaus geführt haben. Die Sozialarbeiterin hat
gesagt, es würde lange dauern, bis ich das Gefühl, verraten worden
zu sein, ablegen könne.
Das Problem ist, ich fühle mich nicht verraten.
Eher traurig und antriebslos. Nach all dieser Zeit sehe ich mir
immer noch jeden Abend, bevor ich ins Bett gehe, die Bilder auf
meinem Handy an, die ich von ihm im Club Mystique gemacht
habe.
Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hat
er die Schule geschmissen und ist verschwunden. Er ist vielleicht
nicht mehr physisch in meinem Leben anwesend, aber er wird immer
ein Teil von mir sein. Ich kann dieses Gefühl nicht ablegen, selbst
wenn ich es wollte.
Aber eine gute Sache ist aus diesem ganzen Irrsinn
entstanden.
Meine Familie ist mit Shelley nach Colorado gefahren, um ihr Sunny
Acres zu zeigen und es hat meiner Schwester tatsächlich gefallen.
Sie bieten jeden Tag Aktivitäten an, machen Sport und haben sogar
alle drei Monate Besuch von Prominenten. Als Shelley gehört hat,
dass regelmäßig berühmte Leute zu Besuch kommen und Konzerte geben
oder sich anders ehrenamtlich engagieren, wäre sie fast aus ihrem
Rollstuhl gefallen, wenn sie nicht festgebunden gewesen wäre.
Meine Schwester ihren eigenen Weg gehen zu lassen,
ist mir schwergefallen, aber ich habe es geschafft. Zu wissen, dass
es Shelleys Entscheidung war, hat es leichter gemacht.
Aber jetzt bin ich allein. Alex hat ein Stück
meines Herzens mit sich genommen, als er gegangen ist. Ich
beschütze das, was davon übrig ist mit aller Macht. Denn ich bin zu
dem Schluss gekommen, dass das einzige Leben, das ich kontrollieren
kann, mein eigenes ist. Alex hat sich für einen Weg entschieden,
aber mich hat er nicht mitgenommen auf seine Reise.
Ich ignoriere Alex’ Freunde in der Schule und sie
ignorieren mich. Wir tun alle so, als sei das mit Alex und mir nie
passiert. Außer Isabel. Manchmal reden wir, aber es ist
schmerzvoll. Zwischen uns herrscht ein gegenseitiges Verstehen, das
keiner Worte bedarf, und es hat mir geholfen zu wissen, dass es
jemanden gibt, der denselben Schmerz empfindet wie ich.
Als ich im Mai vor der Chemiestunde meinen Spind
öffne, entdecke ich, dass ein Paar Handwärmer am Haken darin
hängen. Die schlimmste Nacht meines Lebens kommt mit voller Macht
zu mir zurück.
War Alex hier? Hat er die Handwärmer selbst in
meinen Spind getan?
So sehr ich ihn auch vergessen möchte, ich kann es
nicht. Ich habe gelesen, dass Goldfische ein Erinnerungsvermögen
von
fünf Sekunden haben. Ich beneide sie darum. Meine Erinnerung an
Alex, meine Liebe für ihn, wird mich mein Leben lang
begleiten.
Ich drücke die weichen Handwärmer an meine Brust
und gehe vor dem Spind weinend in die Knie. Verflucht. Ich bin ein
Wrack.
Sierra kommt zu mir geeilt. »Was ist los,
Brit?«
Ich kann mich einfach nicht bewegen. Ich schaffe es
nicht, mich zusammenzureißen.
»Komm schon«, sagt Sierra und zieht mich hoch.
»Alle beobachten dich.«
Darlene schlendert an uns vorbei. »Meinst du nicht,
es wäre an der Zeit, endlich über deinen Gangsterfreund
hinwegzukommen? Du siehst mitleiderregend aus«, sagt sie und stellt
sicher, dass die Menge, die sich um uns versammelt hat, auch jedes
ihrer Worte hört.
Colin taucht an Darlenes Seite auf. Er sieht mich
finster an. »Alex hat alles verdient, was er gekriegt hat«, zischt
er.
Sei es richtig oder falsch, kämpfe für das, woran
du glaubst. Meine Hände sind zu Fäusten geballt, als ich nach ihm
schlage. Er wehrt den Schlag ab, dann packt er mein Handgelenk und
dreht mir den Arm auf den Rücken.
Da schaltet Doug sich ein. »Lass sie los,
Colin.«
»Halt dich da raus, Thompson.«
»Mensch Alter, sie zu demütigen, weil sie dich für
einen anderen hat sitzenlassen, ist echt schwach.«
Colin stößt mich beiseite und schiebt seine Ärmel
hoch.
Ich darf nicht zulassen, dass Doug meinen Kampf
austrägt. »Wenn du dich mit ihm schlagen willst, musst du erst an
mir vorbei«, sage ich herausfordernd.
Zu meiner Überraschung stellt sich Isabel vor mich.
»Und du musst an mir vorbei, um an sie ranzukommen.«
Sierra stellt sich neben Isabel. »Und an mir
auch.«
Ein Mexikaner namens Sam schubst Gary Frankel neben
Isabel. »Der Typ hier bricht dir den Arm mit einem Griff,
Arschloch. Verpiss dich, bevor ich ihn auf dich hetze«, sagt
Sam.
Gary, der ein himbeerrotes Poloshirt und eine weiße
Stoffhose trägt, verzieht das Gesicht zu einer grimmigen Grimasse,
um möglichst tough auszusehen, was null funktioniert.
Colin blickt Unterstützung suchend nach rechts und
links, findet aber keine.
Ich blinzle ungläubig. Vielleicht stand die Welt
bisher auf dem Kopf, aber jetzt ist sie wieder in den Fugen.
»Komm schon, Colin«, befiehlt Darlene. »Wer braucht
schon diese bemitleidenswerten Dumpfbacken.« Sie gehen zusammen
davon. Beinah tun sie mir leid. Aber nur beinah.
»Ich bin so stolz auf dich, Douggie«, sagt Sierra
und schmeißt sich in seine Arme. Sie beginnen auf der Stelle
rumzuknutschen, ohne sich darum zu scheren, wer ihnen alles dabei
zusieht.
»Ich liebe dich«, sagt Doug, als sie eine Pause
einlegen, um nach Luft zu schnappen.
»Ich liebe dich auch«, zwitschert Sierra mit
Kleinmädchenstimme.
»Nehmt euch ein Zimmer«, rufen andere
Mitschüler.
Aber sie küssen sich weiter, bis die Musik aus den
Lautsprechern ertönt. Die Menge löst sich auf. Ich umklammere immer
noch die Handwärmer.
Isabel drückt meine Schulter. »Ich habe Paco nie
gesagt, was ich für ihn empfinde. Ich bin das Risiko nicht
eingegangen und jetzt ist es zu spät.«
»Es tut mir so leid, Isa. Ich bin das Risiko
eingegangen und habe Alex trotzdem verloren, also bist du
vielleicht besser dran.«
Sie zuckt mit den Schultern und ich weiß, dass sie
versucht, die Fassung zu wahren und nicht in der Schule
zusammenzubrechen. »Ich schätze, ich werde eines Tages darüber
hinwegkommen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber ich darf
hoffen, oder?« Sie drückt die Schulterblätter durch und setzt ein
tapferes Gesicht auf. Ich sehe ihr nach, als sie zum Unterricht
geht und frage mich, ob sie wohl mit ihren Freunden darüber redet
oder ob sie sich nur mir anvertraut.
»Komm mit«, sagt Sierra, löst sich aus Dougs
Umarmung und zieht mich Richtung Ausgang. Ich wische mir die Augen
mit dem Handrücken und setze mich auf die Bordsteinkante neben
Sierras Wagen. Mir ist vollkommen egal, dass ich gerade den
Unterricht schwänze. »Mir geht es gut, Sierra. Wirklich.«
»Nein, dir geht es nicht gut, Brit. Ich bin deine
beste Freundin. Ich werde vor und nach den Männern in deinem Leben
für dich da ein. Also spuck’s schon aus. Ich bin ganz Ohr.«
»Ich habe ihn geliebt.«
»Nicht wahr, Sherlock. Erzähl mir etwas, das ich
noch nicht weiß.«
»Er hat mich benutzt. Er hatte Sex mit mir, um eine
Wette zu gewinnen. Und ich liebe ihn immer noch. Sierra, ich bin
wirklich bemitleidenswert.«
»Du hattest Sex und hast mir nichts davon erzählt?
Ich meine, ich dachte, es sei ein Gerücht. Du weißt schon, eins von
der unwahren Sorte.«
Ich lasse erschöpft den Kopf in die Hände
sinken.
»Ich mache nur Spaß. Ich will es gar nicht wissen.
Okay, ich will es wissen, aber nur, wenn du es mir erzählen
möchtest«, sagt Sierra. »Vergiss das jetzt. Ich habe gesehen, wie
Alex dich angesehen hat, Brit. Deswegen habe ich aufgehört dich
anzublöken. Das war auf keinen Fall gespielt. Ich weiß nicht, wer
dir etwas über eine sogenannte Wette erzählt hat …«
Ich blicke hoch. »Er selbst. Und seine Freunde
haben es bestätigt. Warum kann ich ihn nicht vergessen?«
Sierra schüttelt den Kopf, als würde sie die Worte
ausradieren, die ich gerade gesagt habe. »Das Wichtigste zuerst.«
Sie packt mein Kinn und zwingt mich, sie anzusehen. »Alex hat etwas
für dich empfunden, ob er es dir gegenüber zugegeben hat oder
nicht, ob da eine Wette war oder nicht. Du weißt das, Brit, sonst
würdest du diese Handwärmer nicht an dich drücken, als könnten sie
dein Leben retten. Zweitens ist Alex aus deinem Leben verschwunden
und du schuldest es dir selbst, seinem tapferen Freund Paco und
mir, dein Leben wieder in den Griff zu bekommen, auch wenn es nicht
leicht ist.«
»Ich denke einfach die ganze Zeit, dass er mich mit
Absicht weggestoßen hat. Wenn ich nur mit ihm reden könnte, bekäme
ich vielleicht eine Antwort.«
»Vielleicht weiß er die Antworten selbst nicht. Und
ist deshalb gegangen. Wenn er sein Leben wegwerfen will und die
Chancen ignorieren, die sich ihm bieten, dann ist es eben so. Aber
du wirst ihm zeigen, dass du stärker bist als er.«
Sierra hat recht. Zum ersten Mal habe ich das
Gefühl, den Rest des Schuljahres durchstehen zu können. Alex hat in
der Nacht, in der wir uns geliebt haben, ein Stück meines Herzens
mit sich genommen und wird es für immer bei sich tragen. Aber das
bedeutet nicht, dass mein Leben eine ewige Warteschleife sein muss.
Ich kann keinen Gespenstern hinterherlaufen.
Ich habe an Stärke gewonnen. Zumindest hoffe ich
das.
Zwei Wochen später bin ich die Letzte in der
Umkleide, die sich für den Sportunterricht umzieht. Das Klackern
von Absätzen auf dem Boden lässt mich aufblicken. Es ist Carmen
Sanchez. Ich flippe nicht aus. Stattdessen stehe ich gelassen da
und sehe ihr fest in die Augen.
»Er war zurück in Fairfield«, erzählt sie
mir.
»Ich weiß«, sage ich und denke an die Handwärmer in
meinem Spind. Aber er ist fort. Wie ein Flüstern war er da und kurz
darauf wieder verschwunden.
Sie wirkt beinah nervös, verletzlich. »Kennst du
diese großen Stofftiere, die man als Preise auf der Kirmes bekommt?
Diejenigen, die praktisch nie jemand gewinnt, außer ein paar
wenigen Glückspilzen? Ich habe nie eins gewonnen.«
»Ja, ich auch nicht.«
»Alex war mein großer Preis. Ich habe dich dafür
gehasst, dass du ihn mir weggenommen hast«, gibt sie zu.
Ich zucke mit den Achseln. »Du kannst damit
aufhören mich zu hassen. Ich habe ihn auch nicht.«
»Ich hasse dich nicht mehr«, sagt sie. »Ich bin
darüber hinweg.«
Ich schlucke und sage: »Ja, ich auch.«
Carmen gluckst. Dann, sie verlässt gerade die
Umkleide, höre ich sie murmeln: »Alex jedenfalls nicht, das steht
fest.«
Was soll das denn heißen?