57
Brittany
Wir haben den ersten April. Ich habe Alex seit fünf Monaten nicht gesehen, seit dem Tag nach der Schießerei. Die Gerüchte über Paco und Alex wurden irgendwann weniger und die Psychologen und Sozialarbeiter sind wieder von der Schule abgezogen.
Letzte Woche habe ich unserer Sozialarbeiterin in der Schule erzählt, ich hätte mehr als fünf Stunden geschlafen, aber das war gelogen. Seit der Schießerei habe ich Probleme durchzuschlafen. Ich wache mitten in der Nacht auf, weil mein Kopf nicht aufhören will, das grauenvolle Gespräch zu analysieren, das Alex und ich im Krankenhaus geführt haben. Die Sozialarbeiterin hat gesagt, es würde lange dauern, bis ich das Gefühl, verraten worden zu sein, ablegen könne.
Das Problem ist, ich fühle mich nicht verraten. Eher traurig und antriebslos. Nach all dieser Zeit sehe ich mir immer noch jeden Abend, bevor ich ins Bett gehe, die Bilder auf meinem Handy an, die ich von ihm im Club Mystique gemacht habe.
Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hat er die Schule geschmissen und ist verschwunden. Er ist vielleicht nicht mehr physisch in meinem Leben anwesend, aber er wird immer ein Teil von mir sein. Ich kann dieses Gefühl nicht ablegen, selbst wenn ich es wollte.
Aber eine gute Sache ist aus diesem ganzen Irrsinn entstanden. Meine Familie ist mit Shelley nach Colorado gefahren, um ihr Sunny Acres zu zeigen und es hat meiner Schwester tatsächlich gefallen. Sie bieten jeden Tag Aktivitäten an, machen Sport und haben sogar alle drei Monate Besuch von Prominenten. Als Shelley gehört hat, dass regelmäßig berühmte Leute zu Besuch kommen und Konzerte geben oder sich anders ehrenamtlich engagieren, wäre sie fast aus ihrem Rollstuhl gefallen, wenn sie nicht festgebunden gewesen wäre.
Meine Schwester ihren eigenen Weg gehen zu lassen, ist mir schwergefallen, aber ich habe es geschafft. Zu wissen, dass es Shelleys Entscheidung war, hat es leichter gemacht.
Aber jetzt bin ich allein. Alex hat ein Stück meines Herzens mit sich genommen, als er gegangen ist. Ich beschütze das, was davon übrig ist mit aller Macht. Denn ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das einzige Leben, das ich kontrollieren kann, mein eigenes ist. Alex hat sich für einen Weg entschieden, aber mich hat er nicht mitgenommen auf seine Reise.
Ich ignoriere Alex’ Freunde in der Schule und sie ignorieren mich. Wir tun alle so, als sei das mit Alex und mir nie passiert. Außer Isabel. Manchmal reden wir, aber es ist schmerzvoll. Zwischen uns herrscht ein gegenseitiges Verstehen, das keiner Worte bedarf, und es hat mir geholfen zu wissen, dass es jemanden gibt, der denselben Schmerz empfindet wie ich.
 
Als ich im Mai vor der Chemiestunde meinen Spind öffne, entdecke ich, dass ein Paar Handwärmer am Haken darin hängen. Die schlimmste Nacht meines Lebens kommt mit voller Macht zu mir zurück.
War Alex hier? Hat er die Handwärmer selbst in meinen Spind getan?
So sehr ich ihn auch vergessen möchte, ich kann es nicht. Ich habe gelesen, dass Goldfische ein Erinnerungsvermögen von fünf Sekunden haben. Ich beneide sie darum. Meine Erinnerung an Alex, meine Liebe für ihn, wird mich mein Leben lang begleiten.
Ich drücke die weichen Handwärmer an meine Brust und gehe vor dem Spind weinend in die Knie. Verflucht. Ich bin ein Wrack.
Sierra kommt zu mir geeilt. »Was ist los, Brit?«
Ich kann mich einfach nicht bewegen. Ich schaffe es nicht, mich zusammenzureißen.
»Komm schon«, sagt Sierra und zieht mich hoch. »Alle beobachten dich.«
Darlene schlendert an uns vorbei. »Meinst du nicht, es wäre an der Zeit, endlich über deinen Gangsterfreund hinwegzukommen? Du siehst mitleiderregend aus«, sagt sie und stellt sicher, dass die Menge, die sich um uns versammelt hat, auch jedes ihrer Worte hört.
Colin taucht an Darlenes Seite auf. Er sieht mich finster an. »Alex hat alles verdient, was er gekriegt hat«, zischt er.
Sei es richtig oder falsch, kämpfe für das, woran du glaubst. Meine Hände sind zu Fäusten geballt, als ich nach ihm schlage. Er wehrt den Schlag ab, dann packt er mein Handgelenk und dreht mir den Arm auf den Rücken.
Da schaltet Doug sich ein. »Lass sie los, Colin.«
»Halt dich da raus, Thompson.«
»Mensch Alter, sie zu demütigen, weil sie dich für einen anderen hat sitzenlassen, ist echt schwach.«
Colin stößt mich beiseite und schiebt seine Ärmel hoch.
Ich darf nicht zulassen, dass Doug meinen Kampf austrägt. »Wenn du dich mit ihm schlagen willst, musst du erst an mir vorbei«, sage ich herausfordernd.
Zu meiner Überraschung stellt sich Isabel vor mich. »Und du musst an mir vorbei, um an sie ranzukommen.«
Sierra stellt sich neben Isabel. »Und an mir auch.«
Ein Mexikaner namens Sam schubst Gary Frankel neben Isabel. »Der Typ hier bricht dir den Arm mit einem Griff, Arschloch. Verpiss dich, bevor ich ihn auf dich hetze«, sagt Sam.
Gary, der ein himbeerrotes Poloshirt und eine weiße Stoffhose trägt, verzieht das Gesicht zu einer grimmigen Grimasse, um möglichst tough auszusehen, was null funktioniert.
Colin blickt Unterstützung suchend nach rechts und links, findet aber keine.
Ich blinzle ungläubig. Vielleicht stand die Welt bisher auf dem Kopf, aber jetzt ist sie wieder in den Fugen.
»Komm schon, Colin«, befiehlt Darlene. »Wer braucht schon diese bemitleidenswerten Dumpfbacken.« Sie gehen zusammen davon. Beinah tun sie mir leid. Aber nur beinah.
»Ich bin so stolz auf dich, Douggie«, sagt Sierra und schmeißt sich in seine Arme. Sie beginnen auf der Stelle rumzuknutschen, ohne sich darum zu scheren, wer ihnen alles dabei zusieht.
»Ich liebe dich«, sagt Doug, als sie eine Pause einlegen, um nach Luft zu schnappen.
»Ich liebe dich auch«, zwitschert Sierra mit Kleinmädchenstimme.
»Nehmt euch ein Zimmer«, rufen andere Mitschüler.
Aber sie küssen sich weiter, bis die Musik aus den Lautsprechern ertönt. Die Menge löst sich auf. Ich umklammere immer noch die Handwärmer.
Isabel drückt meine Schulter. »Ich habe Paco nie gesagt, was ich für ihn empfinde. Ich bin das Risiko nicht eingegangen und jetzt ist es zu spät.«
»Es tut mir so leid, Isa. Ich bin das Risiko eingegangen und habe Alex trotzdem verloren, also bist du vielleicht besser dran.«
Sie zuckt mit den Schultern und ich weiß, dass sie versucht, die Fassung zu wahren und nicht in der Schule zusammenzubrechen. »Ich schätze, ich werde eines Tages darüber hinwegkommen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber ich darf hoffen, oder?« Sie drückt die Schulterblätter durch und setzt ein tapferes Gesicht auf. Ich sehe ihr nach, als sie zum Unterricht geht und frage mich, ob sie wohl mit ihren Freunden darüber redet oder ob sie sich nur mir anvertraut.
»Komm mit«, sagt Sierra, löst sich aus Dougs Umarmung und zieht mich Richtung Ausgang. Ich wische mir die Augen mit dem Handrücken und setze mich auf die Bordsteinkante neben Sierras Wagen. Mir ist vollkommen egal, dass ich gerade den Unterricht schwänze. »Mir geht es gut, Sierra. Wirklich.«
»Nein, dir geht es nicht gut, Brit. Ich bin deine beste Freundin. Ich werde vor und nach den Männern in deinem Leben für dich da ein. Also spuck’s schon aus. Ich bin ganz Ohr.«
»Ich habe ihn geliebt.«
»Nicht wahr, Sherlock. Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß.«
»Er hat mich benutzt. Er hatte Sex mit mir, um eine Wette zu gewinnen. Und ich liebe ihn immer noch. Sierra, ich bin wirklich bemitleidenswert.«
»Du hattest Sex und hast mir nichts davon erzählt? Ich meine, ich dachte, es sei ein Gerücht. Du weißt schon, eins von der unwahren Sorte.«
Ich lasse erschöpft den Kopf in die Hände sinken.
»Ich mache nur Spaß. Ich will es gar nicht wissen. Okay, ich will es wissen, aber nur, wenn du es mir erzählen möchtest«, sagt Sierra. »Vergiss das jetzt. Ich habe gesehen, wie Alex dich angesehen hat, Brit. Deswegen habe ich aufgehört dich anzublöken. Das war auf keinen Fall gespielt. Ich weiß nicht, wer dir etwas über eine sogenannte Wette erzählt hat …«
Ich blicke hoch. »Er selbst. Und seine Freunde haben es bestätigt. Warum kann ich ihn nicht vergessen?«
Sierra schüttelt den Kopf, als würde sie die Worte ausradieren, die ich gerade gesagt habe. »Das Wichtigste zuerst.« Sie packt mein Kinn und zwingt mich, sie anzusehen. »Alex hat etwas für dich empfunden, ob er es dir gegenüber zugegeben hat oder nicht, ob da eine Wette war oder nicht. Du weißt das, Brit, sonst würdest du diese Handwärmer nicht an dich drücken, als könnten sie dein Leben retten. Zweitens ist Alex aus deinem Leben verschwunden und du schuldest es dir selbst, seinem tapferen Freund Paco und mir, dein Leben wieder in den Griff zu bekommen, auch wenn es nicht leicht ist.«
»Ich denke einfach die ganze Zeit, dass er mich mit Absicht weggestoßen hat. Wenn ich nur mit ihm reden könnte, bekäme ich vielleicht eine Antwort.«
»Vielleicht weiß er die Antworten selbst nicht. Und ist deshalb gegangen. Wenn er sein Leben wegwerfen will und die Chancen ignorieren, die sich ihm bieten, dann ist es eben so. Aber du wirst ihm zeigen, dass du stärker bist als er.«
Sierra hat recht. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, den Rest des Schuljahres durchstehen zu können. Alex hat in der Nacht, in der wir uns geliebt haben, ein Stück meines Herzens mit sich genommen und wird es für immer bei sich tragen. Aber das bedeutet nicht, dass mein Leben eine ewige Warteschleife sein muss. Ich kann keinen Gespenstern hinterherlaufen.
Ich habe an Stärke gewonnen. Zumindest hoffe ich das.
 
Zwei Wochen später bin ich die Letzte in der Umkleide, die sich für den Sportunterricht umzieht. Das Klackern von Absätzen auf dem Boden lässt mich aufblicken. Es ist Carmen Sanchez. Ich flippe nicht aus. Stattdessen stehe ich gelassen da und sehe ihr fest in die Augen.
»Er war zurück in Fairfield«, erzählt sie mir.
»Ich weiß«, sage ich und denke an die Handwärmer in meinem Spind. Aber er ist fort. Wie ein Flüstern war er da und kurz darauf wieder verschwunden.
Sie wirkt beinah nervös, verletzlich. »Kennst du diese großen Stofftiere, die man als Preise auf der Kirmes bekommt? Diejenigen, die praktisch nie jemand gewinnt, außer ein paar wenigen Glückspilzen? Ich habe nie eins gewonnen.«
»Ja, ich auch nicht.«
»Alex war mein großer Preis. Ich habe dich dafür gehasst, dass du ihn mir weggenommen hast«, gibt sie zu.
Ich zucke mit den Achseln. »Du kannst damit aufhören mich zu hassen. Ich habe ihn auch nicht.«
»Ich hasse dich nicht mehr«, sagt sie. »Ich bin darüber hinweg.«
Ich schlucke und sage: »Ja, ich auch.«
Carmen gluckst. Dann, sie verlässt gerade die Umkleide, höre ich sie murmeln: »Alex jedenfalls nicht, das steht fest.«
Was soll das denn heißen?
Du oder das ganze Leben
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