44
Alex
Mich in eine Galerie zu schleifen, war nicht die beste Idee aller Zeiten. Als Sierra Brittany von mir wegzieht, um ihr ein Bild zu zeigen, fühle ich mich deplatziert wie nie.
Ich schlendere herum, lasse meinen Blick über das Büfett schweifen und bin dankbar, dass wir schon gegessen haben. Das Zeug hier kann man eigentlich nicht Essen nennen. Es ist Sushi, das in mir den Wunsch weckt, es in die Mikrowelle zu stecken, um es genießbar zu machen. Dann sind da noch Häppchen in Daumennagelgröße.
»Das Wasabi ist alle.«
Ich bin immer noch damit beschäftigt, die unterschiedlichen Nahrungsmittel zu identifizieren, als mir jemand auf die Schulter klopft.
Ich drehe mich zu einem kleinen blonden Typen um. Er erinnert mich an Eselsgesicht, was das Bedürfnis in mir auslöst, ihn von mir zu stoßen.
»Das Wasabi ist alle«, wiederholt er.
Wenn ich wüsste, was verficktes Wasabi ist, würde ich antworten. Aber ich weiß es nicht und schweige weiter. Und komme mir so erst recht dämlich vor.
»Sprichst du kein Englisch?«
Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ja, ich spreche Englisch, Arschloch. Aber das letzte Mal, als ich im Englischunterricht saß, stand das Wort Wasabi nicht auf dem verdammten Rechtschreibtest. Anstatt zu antworten, ignoriere ich den Typen und wandere davon, um mir eins der Bilder anzugucken.
Auf dem, vor dem ich stehen bleibe, sind ein Mädchen und ein Hund zu sehen, die auf etwas rumspazieren, das wie eine hingeschlunzte Darstellung der Erde aussieht.
»Da bist du«, sagt Brittany und stellt sich neben mich. Doug und Sierra hat sie im Schlepptau.
»Brit, das ist Perry Landis«, erklärt Doug und zeigt auf das Colin-Double. »Der Künstler.«
»Ach, wirklich? Ihre Arbeiten sind fantastisch!«, sagt Brittany und himmelt ihn an.
Sie hat »Ach, wirklich?« gesagt, als sei sie tatsächlich eine enthirnte Superblondine. Will sie mich verarschen?
Der Typ guckt über die Schulter zu seinem Bild. »Was hältst du hiervon?«, fragt er sie.
Brittany räuspert sich. »Ich finde, es zeigt ein tiefes Verständnis für die Beziehung zwischen Mensch, Tier und der Erde.«
Oh, bitte. Was für ein Bullshit.
Perry legt ihr seinen Arm um die Schulter, was mich in Versuchung führt, mitten in der Galerie einen Streit vom Zaun zu brechen. »Ich sehe, du bist sehr tiefgründig.«
Tiefgründig, aber sicher. Ist doch sonnenklar, dass er ihr an die Wäsche will. Wäsche, in deren Nähe er nie kommen wird, wenn es nach mir geht.
»Alex, was meinst du?«, fragt Brittany und dreht sich zu mir um.
»Hm …«, ich reibe grübelnd mein Kinn, während ich das Bild anstarre. »Ich schätze, die gesamte Sammlung ist ungefähr eins fünfzig wert, wenn’s hochkommt.«
Sierras Augen weiten sich und sie legt schockiert eine Hand vor den Mund. Doug verschluckt sich an seinem Getränk. Und Brittany? Ich sehe meine »Lass uns sehen, was passiert«-Freundin an.
»Alex, du schuldest Perry eine Entschuldigung«, sagt Brittany.
Genau, und zwar direkt nachdem er sich dafür entschuldigt hat, mich nach dem Wasabi gefragt zu haben. Eher friert die Hölle zu. »Ich hau ab hier«, sage ich, drehe mich auf dem Absatz um und spaziere aus der Galerie. Me voy.
Draußen schnorre ich mir eine Zigarette von einer Kellnerin, die auf der anderen Straßenseite gerade Pause macht. Alles, woran ich denken kann, ist Brittanys Gesichtsausdruck, als sie mir befohlen hat, mich bei Perry zu entschuldigen.
Ich lasse mir nicht gern etwas befehlen.
Verdammt, zusehen zu müssen, wie dieser Möchtegernkünstler seinen Arm um mein Mädchen gelegt hat, war unerträglich. Ich bin sicher, so ziemlich jeder Typ würde sie gern auf die eine oder andere Weise begrapschen, nur um sagen zu können, er habe sie berührt. Ich möchte sie ebenfalls berühren, aber ich will auch, dass sie nur mich will. Und worauf ich überhaupt nicht stehe, ist, herumkommandiert zu werden wie ein kleines Hündchen und nur dann ihre Hand halten zu dürfen, wenn sie gerade keine Show abzieht.
Das alles entwickelt sich leider nicht wie geplant.
»Ich habe dich aus der Galerie kommen sehen. Da gehen sonst nur Gecken rein«, sagt die Kellnerin, nachdem ich ihr das Feuerzeug wiedergegeben habe.
Wasabi. Jetzt Gecken. Man könnte wirklich meinen, ich spräche kein Englisch. »Gecken?«
»Feine Pinkel. Du weißt schon, Stock im Arsch, Nase in der Luft.«
»Ach so, stimmt, zu denen gehöre ich nicht. Ich bin eher ein Arbeiterkind, das ein paar Gecken da reingefolgt ist.« Ich nehme einen tiefen Zug, bin dankbar für das Nikotin. Die beruhigende Wirkung setzt sofort ein. Okay, meine Lungen schreien vielleicht nicht gerade Hurra, aber ich habe so eine Ahnung, dass ich sowieso sterben werde, bevor sie den Dienst quittieren.
»Ich bin Arbeiterkind Mandy«, sagt die Kellnerin, streckt die Hand aus und strahlt mich an. Sie hat hellbraunes Haar mit lilafarbenen Strähnchen. Sie ist süß, aber sie ist nicht Brittany.
Ich schüttle ihre Hand. »Alex.«
Sie beäugt meine Tattoos. »Ich habe auch zwei. Willst du mal sehen?«
Nicht wirklich. Ich habe so ein Gefühl, sie hat sich eines Nachts die Kante gegeben und ihre Brust tätowieren lassen … oder den Arsch.
»Alex!« Brittany ruft meinen Namen von der Galerie aus.
Ich rauche immer noch und versuche zu vergessen, dass sie mich hergebracht hat, weil ich ihr dreckiges kleines Geheimnis bin. Ich möchte kein verfluchtes Geheimnis mehr sein.
Meine Pseudofreundin überquert die Straße. Die Absätze ihrer Designerschuhe klackern auf dem Asphalt und erinnern mich daran, dass wir zwei nicht derselben Schicht angehören. Sie betrachtet Mandy und mich, uns zwei Arbeiterkinder, die gemeinsam eine rauchen.
»Mandy wollte mir gerade ihre Tattoos zeigen«, erzähle ich Brittany, um sie zu reizen.
»Darauf wette ich. Wolltest du ihr deine auch zeigen?« Sie sieht mich anklagend an.
»Ich steh nicht auf Drama«, wirft Mandy ein. Sie lässt ihre Zigarette auf den Gehweg fallen und tritt sie mit der Spitze ihres Tennisschuhs aus. »Viel Glück ihr zwei. Ihr werdet es brauchen.«
Ich ziehe wieder an meiner Zigarette und wünsche mir gleichzeitig, Brittany würde mich nicht so in Versuchung führen. »Geh zurück in die Galerie, querida. Ich nehme den Bus nach Hause.«
»Ich hatte gedacht, wir verbringen einen schönen Tag zusammen, Alex. In einer Stadt, in der uns niemand kennt. Wünschst du dir nicht manchmal ein bisschen Anonymität?«
»Du meinst, es ist schön, dass dieser kleine Scheißer von einem Möchtegernkünstler mich für den Laufburschen gehalten hat? Ich habe lieber den Ruf, ein Gangster zu sein, als ein Migrantenlaufbursche.«
»Du hast ja noch nicht mal ernsthaft versucht, dazuzugehören. Enspann dich einfach und wirf diese Last von deinen Schultern, dann kannst du auch einer von ihnen sein.«
»Da drinnen sind alle aus Plastik. Sogar du. Wach auf, Miss ›Ach, wirklich?‹. Ich möchte nicht einer von ihnen sein. Entiendes
»Laut und deutlich. Zu deiner Information, ich bin nicht aus Plastik. Du kannst es nennen, wie du willst, aber wir bezeichnen es als taktvoll und höflich.«
»In deinen Kreisen, nicht meinen. In meinen Kreisen nennen wir die Dinge beim Namen. Und wage es ja nicht, mir jemals wieder Befehle zu erteilen, als seist du meine Mutter. Ich schwöre, Brittany, wenn du das noch einmal tust, sind wir geschiedene Leute.«
Oh je. Ihre Augen werden ganz glasig. Sie wendet mir den Rücken zu und ich würde mich gern dafür treten, dass ich ihr wehgetan habe.
Ich mache meine Zigarette aus. »Es tut mir leid. Ich wollte kein Arsch sein. Na ja, eigentlich doch. Aber nur, weil ich mich da drinnen nicht wohlgefühlt habe.«
Sie sieht mich nicht an. Ich strecke den Arm aus, um ihren Rücken zu reiben und bin dankbar, dass sie meine Hand nicht abschüttelt.
»Brittany, ich liebe es mit dir zusammen zu sein«, fahre ich fort. »Verflucht, wenn ich in die Schule komme, suche ich die Gänge nach dir ab. Sobald ich diese engelsgleichen Strähnen voller Sonnenschein entdecke«, sage ich mit ihrem Haar spielend, »weiß ich, dass ich den Tag durchstehen werde.«
»Ich bin kein Engel.«
»Du bist meiner. Wenn du mir vergibst, gehe ich zurück und entschuldige mich bei diesem Künstlertypen.«
Sie schlägt die Augen auf. »Echt?«
»Ja. Ich möchte es nicht tun. Aber ich würde es … für dich.«
Ihre Mundwinkel heben sich zu einem kleinen Lächeln. »Mach es nicht. Ich weiß zu schätzen, dass du es für mich tun würdest, aber du hattest recht. Seine Kunst ist Schrott.«
»Da seid ihr ja«, sagt Sierra. »Wir haben schon überall nach euch zwei Turteltauben gesucht. Lasst uns aufbrechen und zur Hütte fahren.«
In der Hütte angekommen, reibt Doug sich die Hände. »Whirlpool oder DVD?«, fragt er.
Sierra geht zum Fenster hinüber, von dem man einen schönen Blick auf den See hat. »Ich schlafe ein, wenn wir einen Film einlegen.«
Brittany und ich sitzen auf der Couch im Wohnzimmer. Ich kann nicht fassen, dass dieses riesige Haus Dougs zweites Zuhause ist. Es ist größer als das Haus in dem ich lebe. Und ein Whirlpool? Jesus, reiche Leute haben einfach alles. »Ich habe keine Badehose mit«, erkläre ich.
»Mach dir deswegen keine Gedanken«, erwidert Brittany. »Doug hat wahrscheinlich eine im Poolhaus, die du anziehen kannst.
Im Poolhaus sucht Doug in einer Kommode nach Badehosen.
»Hier sind nur zwei Stück.« Doug nimmt eine knapp geschnittene Hose und hält sie mir hin. »Ist die okay für dich, großer Junge?«
»Die würde noch nicht mal mein rechtes Ei bedecken. Warum ziehst du sie nicht an und ich nehme die hier?«, sage ich, greife um Doug herum und schnappe mir eine Hose im Boxershortstil. Mir fällt plötzlich auf, dass die Mädchen weg sind. »Wo sind sie hin?«
»Sich umziehen. Und über uns tratschen, da bin ich sicher.«
Während ich mir in dem kleinen Umkleidezimmer die Badehose anziehe, denke ich an mein Leben zu Hause. Hier, am Lake Geneva, fällt es leicht, den Alltag für eine Weile zu vergessen. Hier muss ich mir keine Sorgen machen, wer mir den Rücken freihält.
Als ich aus der Umkleide komme, sagt Doug: »Mit dir zusammen zu sein, wird sie mit einer Menge Scheiße konfrontieren. Die Leute beginnen schon zu reden.«
»Hör zu Douggie. Ich erinnere mich nicht, jemals im Leben etwas oder jemanden so gern gehabt zu haben wie dieses Mädchen. Ich werde sie bestimmt nicht aufgeben. Sorgen darum, was andere Leute von mir denken, mache ich mir frühstens, wenn ich sechs Fuß unter der Erde liege.«
Doug lächelt und streckt die Arme aus. »Ach, Fuentes, ich glaube, wir haben gerade unseren Verbrüderungsmoment. Soll ich dich mal drücken?«
»Nicht in diesem Leben, Käseschnitte.«
Doug haut mir auf den Rücken, dann machen wir uns auf zum Whirlpool. Entgegen aller Widerstände hat sich zwischen uns etwas entwickelt, das vielleicht keine Verbrüderung ist, aber zumindest ein Einvernehmen. Egal, wie man es nennen will, ich werde ihn deswegen bestimmt nicht umarmen.
»Sehr sexy, Babe«, sagt Sierra, als sie Dougs knappes Höschen sieht.
Doug geht wie ein Pinguin. Er watschelt, während er versucht, sich an die enge Badehose zu gewöhnen. »Ich schwöre bei Gott, dass ich sie ausziehen werde, sobald ich im Whirlpool bin. Sie schnürt mir die Eier ab.«
»Das will ich alles gar nicht wissen«, schaltet sich Brittany ein und legt die Hände über die Ohren. Sie trägt einen gelben Bikini, der sehr wenig der Fantasie überlässt. Ist ihr bewusst, dass sie wie eine Sonnenblume aussieht, bereit dazu, alle Menschen mit Sonnenschein zu beschenken?
Doug und Sierra klettern in die Wanne.
Ich springe hinein und setze mich neben Brittany. Ich war noch nie in einem Whirlpool und bin nicht sicher, ob es ein Whirlpoolprotokoll gibt. Werden wir hier drinsitzen und reden, oder paarweise miteinander rummachen? Ich wäre für Letzteres, aber Brittany sieht nervös aus.
Insbesondere, als Doug seine Badehose aus dem Whirlpool schmeißt.
Ich verziehe das Gesicht. »War das nötig?«
»Was? Ich möchte eines Tages Kinder haben, Fuentes. Das Ding hat meine Blutzirkulation abgeschnitten.«
Brittany hüpft aus dem Whirlpool und hüllt sich in ein Handtuch. »Lass uns nach drinnen gehen, Alex.«
»Ihr könnt hierbleiben«, sagt Sierra. »Ich zwinge ihn, das Murmelsäckchen wieder anzuzuziehen.«
»Vergiss es. Habt Spaß ihr zwei. Wir gehen rein«, sagt Brittany.
Als ich aus dem Pool steige, reicht Brittany mir ein Handtuch.
Ich lege ihr den Arm um die Schulter, während wir ins Haus gehen. »Alles okay?«
»Auf jeden Fall. Ich dachte, du wärst nicht ganz glücklich mit der Situation.«
»Mir geht’s gut. Aber …« Ich nehme eine mundgeblasene Glasfigur in die Hand und studiere sie. »Ich sehe dieses Haus, dieses Leben … ich möchte mit dir hier sein, aber ich blicke mich um und erkenne, dass ich das alles nie sein werde.«
»Du grübelst zu viel.« Sie kniet sich auf den Teppich und klopft mit der Hand auf den Boden. »Komm her und leg dich auf den Bauch, ich kann schwedische Massage. Das wird dich entspannen.«
»Du bist keine Schwedin«, sage ich.
»Und du kein Schwede. Deshalb wird es dir auch nicht auffallen, wenn ich etwas falsch mache.«
Ich lege mich neben sie. »Ich dachte, wir wollten diese Beziehung langsam angehen.«
»Eine Rückenmassage ist harmlos.«
Mein Blick wandert über ihren heißen, nur von einem Bikini bedeckten Körper. »Nur dass du es weißt, ich war schon mit Mädchen intim, die eine Menge mehr anhatten.«
Sie verpasst mir einen Schlag auf den Allerwertesten. »Benimm dich gefälligst.«
Als ihre Hände über meinen Rücken zu wandern beginnen, stöhne ich auf. Das ist Folter, Mann. Ich versuche mich zu benehmen, aber ihre Hände fühlen sich so verdammt gut an und mein Körper weiß nur zu genau, was er will.
»Du bist total unentspannt«, flüstert sie in mein Ohr.
Klar bin ich unentspannt. Ihre Hände berühren mich überall. Meine Antwort ist ein weiteres Stöhnen.
Nach ein paar Minuten von Brittanys Verstand raubender Massage dringt lautes Stöhnen, Ächzen und Grunzen vom Whirlpool in den Raum. Doug und Sierra haben offensichtlich die Rückenmassage für den heutigen Abend ausfallen lassen.
»Meinst du, sie tun es gerade?«, fragt sie.
»Entweder das oder Doug ist ein sehr religiöser Mensch«, antworte ich und beziehe mich darauf, dass der Kerl alle zwei Sekunden »Oh, Gott!« brüllt.
»Macht es dich an?«, summt sie leise in mein Ohr.
»Nein, aber wenn du mich weiter so massierst, kannst du den Quatsch, von wegen es langsam angehen lassen, vergessen.« Ich setze mich auf und sehe sie an. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob du weißt, dass du mir die Zähne lang machst und mich einfach nur verarschst oder ob du tatsächlich so unschuldig bist, wie du tust.«
»Ich mache dir nicht die Zähne lang.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch und gucke vielsagend auf meinen Oberschenkel hinunter, wo sie ihre Hand geparkt hat. Sie zieht sie schnell weg. »Okay, ich hatte nicht vor, meine Hand da hinzulegen. Ich meine, nicht wirklich. Sie ist einfach … wa … was ich sagen will, ist …«
»Ich mag es, wenn du stotterst«, sage ich, ziehe sie neben mich auf den Boden und zeige ihr meine Version einer schwedischen Massage, bis wir von Sierra und Doug unterbrochen werden.
 
Zwei Wochen später erreicht mich die Nachricht, dass ich einen Termin für die Anhörung wegen der Waffenbesitzgeschichte habe. Ich weihe Brittany nicht ein, weil es sie fertigmachen würde. Sie würde mir wahrscheinlich in den Ohren liegen, dass ein Pflichtverteidiger nicht so gut ist wie ein eigener Anwalt. Die Sache ist, ich kann mir keinen teuren Anwalt leisten.
Ich hänge vor der Schule rum und grüble über mein Schicksal nach, als ich plötzlich von jemandem angerempelt werde und fast das Gleichgewicht verliere.
»Was zum Teufel?« Ich stoße zurück.
»Sorry«, sagt der Typ nervös.
Da fällt mir auf, dass es sich bei dem Typen um keinen anderen handelt als um das Bleichgesicht aus der Arrestzelle.
»Komm her und kämpfe wie ein Mann«, brüllt Sam hinter ihm her.
Ich mache einen Schritt auf ihn zu, sodass ich zwischen den beiden stehe. »Sam, was ist dein Problem?«
»Dieser pendejo hat mir den Parkplatz weggenommen«, sagt Sam und zeigt an mir vorbei auf Bleichgesicht.
»Na und? Hast du einen anderen Platz gefunden?«
Sam steht breitbeinig da, bereit, Bleichgesicht eine Abreibung zu verpassen. So etwas erledigt Sam mit links, kein Problem.
»Ja, hab ich.«
»Dann lass den Typen in Ruhe. Ich kenn ihn. Er ist in Ordnung.«
Sam hebt eine Augenbraue. »Du kennst den Kerl?«
»Pass auf«, sage ich, werfe Bleichgesicht einen Blick zu und bin froh, dass er ein blaues Hemd trägt und nicht das himbeerrote Poloshirt. Es sieht immer noch nach Dumpfbackenvillage aus, aber zumindest gelingt es mir, mit unbewegter Miene zu verkünden: »Dieser Typ war öfter im Knast als ich. Er sieht vielleicht wie ein kompletter pendejo aus, aber unter der Pufffrisur und dem Versager-Hemd steckt ein beinharter Kerl.«
»Du verarschst mich doch, Alex«, sagt Sam.
Ich mache ihm den Weg frei und zucke mit den Schultern. »Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Bleichgesicht macht einen Schritt auf Sam zu und versucht tough auszusehen. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um mir das Lachen zu verkneifen und kreuze die Arme vor der Brust, als wartete ich darauf, dass der Kampf beginnt. Meine LB-Kumpel warten ebenso wie ich, sie wollen sehen, ob Sam von einem weißen Sitzpinkler Prügel bezieht.
Sam blickt von mir zu Bleichgesicht und zurück. »Wenn du mich verarschst, Alex …«
»Check sein Führungszeugnis. Schwerer Autodiebstahl ist seine Spezialität.«
Sam denkt über seinen nächsten Schritt nach. Bleichgesicht wartet nicht so lange, bis er zu einem Ergebnis gekommen ist. Er kommt mit ausgestreckter Faust auf mich zu. »Wenn du mal was brauchst, Alex, weißt du, auf wen du zählen kannst.«
Meine Faust trifft auf die von Bleichgesicht. Eine Sekunde später ist er verschwunden und ich bin froh, dass niemandem aufgefallen ist, wie sehr seine Faust vor Angst gezittert hat.
Ich finde ihn zwischen der ersten und zweiten Stunde wieder. »War das ernst gemeint? Wenn ich etwas brauche, hilfst du mir?«
»Nach heute Morgen schulde ich dir mein Leben«, erwidert Bleichgesicht. »Ich weiß nicht, warum du zu mir gehalten hast, aber ich hatte eine Scheißangst.«
»Das ist Regel Nummer eins. Lass sie nie sehen, dass du eine Scheißangst hast.«
Bleichgesicht schnaubt. Ich schätze, das ist sein Lachen. Entweder das oder er hat eine echt üble Sinusinfektion. »Ich versuche, das nächste Mal daran zu denken, wenn ein Gangmitglied mir nach dem Leben trachtet.« Er streckt die Hand aus, damit ich sie schütteln kann. »Ich bin Gary Frankel.«
Ich packe seine Hand und schüttle sie. »Hör zu, Gary«, sage ich. »Mein Gerichtstermin ist nächste Woche und ich würde mich lieber nicht auf meinen Pflichtverteidiger verlassen. Meinst du, deine Mom könnte da helfen?«
Gary grinst. »Ich denke schon. Sie ist echt gut. Wenn es dein erstes Vergehen ist, kann sie wahrscheinlich eine geringe Bewährungsstrafe aushandeln.«
»Ich kann mir …«
»Mach dir keinen Kopf wegen des Honorars, Alex. Hier ist ihre Karte. Ich erzähle ihr, dass du ein Freund von mir bist und sie macht es gratis.«
Während Gary davonschleicht, denke ich darüber nach, wie schräg es ist, dass die unwahrscheinlichste Person von allen auf einmal dein Verbündeter wird. Und wie ein blondes Mädchen einen dazu bringen kann, zu glauben, dass die Zukunft etwas ist, auf das man sich freuen kann.
Du oder das ganze Leben
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