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Alex
Mich in eine Galerie zu schleifen, war nicht die
beste Idee aller Zeiten. Als Sierra Brittany von mir wegzieht, um
ihr ein Bild zu zeigen, fühle ich mich deplatziert wie nie.
Ich schlendere herum, lasse meinen Blick über das
Büfett schweifen und bin dankbar, dass wir schon gegessen haben.
Das Zeug hier kann man eigentlich nicht Essen nennen. Es ist Sushi,
das in mir den Wunsch weckt, es in die Mikrowelle zu stecken, um es
genießbar zu machen. Dann sind da noch Häppchen in
Daumennagelgröße.
»Das Wasabi ist alle.«
Ich bin immer noch damit beschäftigt, die
unterschiedlichen Nahrungsmittel zu identifizieren, als mir jemand
auf die Schulter klopft.
Ich drehe mich zu einem kleinen blonden Typen um.
Er erinnert mich an Eselsgesicht, was das Bedürfnis in mir auslöst,
ihn von mir zu stoßen.
»Das Wasabi ist alle«, wiederholt er.
Wenn ich wüsste, was verficktes Wasabi ist, würde
ich antworten. Aber ich weiß es nicht und schweige weiter. Und
komme mir so erst recht dämlich vor.
»Sprichst du kein Englisch?«
Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ja, ich spreche
Englisch, Arschloch. Aber das letzte Mal, als ich im
Englischunterricht
saß, stand das Wort Wasabi nicht auf dem verdammten
Rechtschreibtest. Anstatt zu antworten, ignoriere ich den Typen und
wandere davon, um mir eins der Bilder anzugucken.
Auf dem, vor dem ich stehen bleibe, sind ein
Mädchen und ein Hund zu sehen, die auf etwas rumspazieren, das wie
eine hingeschlunzte Darstellung der Erde aussieht.
»Da bist du«, sagt Brittany und stellt sich neben
mich. Doug und Sierra hat sie im Schlepptau.
»Brit, das ist Perry Landis«, erklärt Doug und
zeigt auf das Colin-Double. »Der Künstler.«
»Ach, wirklich? Ihre Arbeiten sind fantastisch!«,
sagt Brittany und himmelt ihn an.
Sie hat »Ach, wirklich?« gesagt, als sei sie
tatsächlich eine enthirnte Superblondine. Will sie mich
verarschen?
Der Typ guckt über die Schulter zu seinem Bild.
»Was hältst du hiervon?«, fragt er sie.
Brittany räuspert sich. »Ich finde, es zeigt ein
tiefes Verständnis für die Beziehung zwischen Mensch, Tier und der
Erde.«
Oh, bitte. Was für ein Bullshit.
Perry legt ihr seinen Arm um die Schulter, was mich
in Versuchung führt, mitten in der Galerie einen Streit vom Zaun zu
brechen. »Ich sehe, du bist sehr tiefgründig.«
Tiefgründig, aber sicher. Ist doch sonnenklar, dass
er ihr an die Wäsche will. Wäsche, in deren Nähe er nie kommen
wird, wenn es nach mir geht.
»Alex, was meinst du?«, fragt Brittany und dreht
sich zu mir um.
»Hm …«, ich reibe grübelnd mein Kinn, während ich
das Bild anstarre. »Ich schätze, die gesamte Sammlung ist ungefähr
eins fünfzig wert, wenn’s hochkommt.«
Sierras Augen weiten sich und sie legt schockiert
eine Hand vor den Mund. Doug verschluckt sich an seinem Getränk.
Und
Brittany? Ich sehe meine »Lass uns sehen, was passiert«-Freundin
an.
»Alex, du schuldest Perry eine Entschuldigung«,
sagt Brittany.
Genau, und zwar direkt nachdem er sich dafür
entschuldigt hat, mich nach dem Wasabi gefragt zu haben. Eher
friert die Hölle zu. »Ich hau ab hier«, sage ich, drehe mich auf
dem Absatz um und spaziere aus der Galerie. Me voy.
Draußen schnorre ich mir eine Zigarette von einer
Kellnerin, die auf der anderen Straßenseite gerade Pause macht.
Alles, woran ich denken kann, ist Brittanys Gesichtsausdruck, als
sie mir befohlen hat, mich bei Perry zu entschuldigen.
Ich lasse mir nicht gern etwas befehlen.
Verdammt, zusehen zu müssen, wie dieser
Möchtegernkünstler seinen Arm um mein Mädchen gelegt hat, war
unerträglich. Ich bin sicher, so ziemlich jeder Typ würde sie gern
auf die eine oder andere Weise begrapschen, nur um sagen zu können,
er habe sie berührt. Ich möchte sie ebenfalls berühren, aber ich
will auch, dass sie nur mich will. Und worauf ich überhaupt nicht
stehe, ist, herumkommandiert zu werden wie ein kleines Hündchen und
nur dann ihre Hand halten zu dürfen, wenn sie gerade keine Show
abzieht.
Das alles entwickelt sich leider nicht wie
geplant.
»Ich habe dich aus der Galerie kommen sehen. Da
gehen sonst nur Gecken rein«, sagt die Kellnerin, nachdem ich ihr
das Feuerzeug wiedergegeben habe.
Wasabi. Jetzt Gecken. Man könnte wirklich meinen,
ich spräche kein Englisch. »Gecken?«
»Feine Pinkel. Du weißt schon, Stock im Arsch, Nase
in der Luft.«
»Ach so, stimmt, zu denen gehöre ich nicht. Ich bin
eher ein Arbeiterkind, das ein paar Gecken da reingefolgt ist.« Ich
nehme
einen tiefen Zug, bin dankbar für das Nikotin. Die beruhigende
Wirkung setzt sofort ein. Okay, meine Lungen schreien vielleicht
nicht gerade Hurra, aber ich habe so eine Ahnung, dass ich sowieso
sterben werde, bevor sie den Dienst quittieren.
»Ich bin Arbeiterkind Mandy«, sagt die Kellnerin,
streckt die Hand aus und strahlt mich an. Sie hat hellbraunes Haar
mit lilafarbenen Strähnchen. Sie ist süß, aber sie ist nicht
Brittany.
Ich schüttle ihre Hand. »Alex.«
Sie beäugt meine Tattoos. »Ich habe auch zwei.
Willst du mal sehen?«
Nicht wirklich. Ich habe so ein Gefühl, sie hat
sich eines Nachts die Kante gegeben und ihre Brust tätowieren
lassen … oder den Arsch.
»Alex!« Brittany ruft meinen Namen von der Galerie
aus.
Ich rauche immer noch und versuche zu vergessen,
dass sie mich hergebracht hat, weil ich ihr dreckiges kleines
Geheimnis bin. Ich möchte kein verfluchtes Geheimnis mehr
sein.
Meine Pseudofreundin überquert die Straße. Die
Absätze ihrer Designerschuhe klackern auf dem Asphalt und erinnern
mich daran, dass wir zwei nicht derselben Schicht angehören. Sie
betrachtet Mandy und mich, uns zwei Arbeiterkinder, die gemeinsam
eine rauchen.
»Mandy wollte mir gerade ihre Tattoos zeigen«,
erzähle ich Brittany, um sie zu reizen.
»Darauf wette ich. Wolltest du ihr deine auch
zeigen?« Sie sieht mich anklagend an.
»Ich steh nicht auf Drama«, wirft Mandy ein. Sie
lässt ihre Zigarette auf den Gehweg fallen und tritt sie mit der
Spitze ihres Tennisschuhs aus. »Viel Glück ihr zwei. Ihr werdet es
brauchen.«
Ich ziehe wieder an meiner Zigarette und wünsche
mir gleichzeitig, Brittany würde mich nicht so in Versuchung
führen.
»Geh zurück in die Galerie, querida. Ich nehme den Bus nach
Hause.«
»Ich hatte gedacht, wir verbringen einen schönen
Tag zusammen, Alex. In einer Stadt, in der uns niemand kennt.
Wünschst du dir nicht manchmal ein bisschen Anonymität?«
»Du meinst, es ist schön, dass dieser kleine
Scheißer von einem Möchtegernkünstler mich für den Laufburschen
gehalten hat? Ich habe lieber den Ruf, ein Gangster zu sein, als
ein Migrantenlaufbursche.«
»Du hast ja noch nicht mal ernsthaft versucht,
dazuzugehören. Enspann dich einfach und wirf diese Last von deinen
Schultern, dann kannst du auch einer von ihnen sein.«
»Da drinnen sind alle aus Plastik. Sogar du. Wach
auf, Miss ›Ach, wirklich?‹. Ich möchte nicht einer von ihnen sein.
Entiendes?«
»Laut und deutlich. Zu deiner Information, ich bin
nicht aus Plastik. Du kannst es nennen, wie du willst, aber wir
bezeichnen es als taktvoll und höflich.«
»In deinen Kreisen, nicht meinen. In meinen Kreisen
nennen wir die Dinge beim Namen. Und wage es ja nicht, mir jemals
wieder Befehle zu erteilen, als seist du meine Mutter. Ich schwöre,
Brittany, wenn du das noch einmal tust, sind wir geschiedene
Leute.«
Oh je. Ihre Augen werden ganz glasig. Sie wendet
mir den Rücken zu und ich würde mich gern dafür treten, dass ich
ihr wehgetan habe.
Ich mache meine Zigarette aus. »Es tut mir leid.
Ich wollte kein Arsch sein. Na ja, eigentlich doch. Aber nur, weil
ich mich da drinnen nicht wohlgefühlt habe.«
Sie sieht mich nicht an. Ich strecke den Arm aus,
um ihren Rücken zu reiben und bin dankbar, dass sie meine Hand
nicht abschüttelt.
»Brittany, ich liebe es mit dir zusammen zu sein«,
fahre ich fort. »Verflucht, wenn ich in die Schule komme, suche ich
die Gänge nach dir ab. Sobald ich diese engelsgleichen Strähnen
voller Sonnenschein entdecke«, sage ich mit ihrem Haar spielend,
»weiß ich, dass ich den Tag durchstehen werde.«
»Ich bin kein Engel.«
»Du bist meiner. Wenn du mir vergibst, gehe ich
zurück und entschuldige mich bei diesem Künstlertypen.«
Sie schlägt die Augen auf. »Echt?«
»Ja. Ich möchte es nicht tun. Aber ich würde es …
für dich.«
Ihre Mundwinkel heben sich zu einem kleinen
Lächeln. »Mach es nicht. Ich weiß zu schätzen, dass du es für mich
tun würdest, aber du hattest recht. Seine Kunst ist Schrott.«
»Da seid ihr ja«, sagt Sierra. »Wir haben schon
überall nach euch zwei Turteltauben gesucht. Lasst uns aufbrechen
und zur Hütte fahren.«
In der Hütte angekommen, reibt Doug sich die Hände.
»Whirlpool oder DVD?«, fragt er.
Sierra geht zum Fenster hinüber, von dem man einen
schönen Blick auf den See hat. »Ich schlafe ein, wenn wir einen
Film einlegen.«
Brittany und ich sitzen auf der Couch im
Wohnzimmer. Ich kann nicht fassen, dass dieses riesige Haus Dougs
zweites Zuhause ist. Es ist größer als das Haus in dem ich lebe.
Und ein Whirlpool? Jesus, reiche Leute haben einfach alles. »Ich
habe keine Badehose mit«, erkläre ich.
»Mach dir deswegen keine Gedanken«, erwidert
Brittany. »Doug hat wahrscheinlich eine im Poolhaus, die du
anziehen kannst.
Im Poolhaus sucht Doug in einer Kommode nach
Badehosen.
»Hier sind nur zwei Stück.« Doug nimmt eine knapp
geschnittene
Hose und hält sie mir hin. »Ist die okay für dich, großer
Junge?«
»Die würde noch nicht mal mein rechtes Ei bedecken.
Warum ziehst du sie nicht an und ich nehme die hier?«, sage ich,
greife um Doug herum und schnappe mir eine Hose im Boxershortstil.
Mir fällt plötzlich auf, dass die Mädchen weg sind. »Wo sind sie
hin?«
»Sich umziehen. Und über uns tratschen, da bin ich
sicher.«
Während ich mir in dem kleinen Umkleidezimmer die
Badehose anziehe, denke ich an mein Leben zu Hause. Hier, am Lake
Geneva, fällt es leicht, den Alltag für eine Weile zu vergessen.
Hier muss ich mir keine Sorgen machen, wer mir den Rücken
freihält.
Als ich aus der Umkleide komme, sagt Doug: »Mit dir
zusammen zu sein, wird sie mit einer Menge Scheiße konfrontieren.
Die Leute beginnen schon zu reden.«
»Hör zu Douggie. Ich erinnere mich nicht, jemals im
Leben etwas oder jemanden so gern gehabt zu haben wie dieses
Mädchen. Ich werde sie bestimmt nicht aufgeben. Sorgen darum, was
andere Leute von mir denken, mache ich mir frühstens, wenn ich
sechs Fuß unter der Erde liege.«
Doug lächelt und streckt die Arme aus. »Ach,
Fuentes, ich glaube, wir haben gerade unseren Verbrüderungsmoment.
Soll ich dich mal drücken?«
»Nicht in diesem Leben, Käseschnitte.«
Doug haut mir auf den Rücken, dann machen wir uns
auf zum Whirlpool. Entgegen aller Widerstände hat sich zwischen uns
etwas entwickelt, das vielleicht keine Verbrüderung ist, aber
zumindest ein Einvernehmen. Egal, wie man es nennen will, ich werde
ihn deswegen bestimmt nicht umarmen.
»Sehr sexy, Babe«, sagt Sierra, als sie Dougs
knappes Höschen sieht.
Doug geht wie ein Pinguin. Er watschelt, während er
versucht, sich an die enge Badehose zu gewöhnen. »Ich schwöre bei
Gott, dass ich sie ausziehen werde, sobald ich im Whirlpool bin.
Sie schnürt mir die Eier ab.«
»Das will ich alles gar nicht wissen«, schaltet
sich Brittany ein und legt die Hände über die Ohren. Sie trägt
einen gelben Bikini, der sehr wenig der Fantasie überlässt. Ist ihr
bewusst, dass sie wie eine Sonnenblume aussieht, bereit dazu, alle
Menschen mit Sonnenschein zu beschenken?
Doug und Sierra klettern in die Wanne.
Ich springe hinein und setze mich neben Brittany.
Ich war noch nie in einem Whirlpool und bin nicht sicher, ob es ein
Whirlpoolprotokoll gibt. Werden wir hier drinsitzen und reden, oder
paarweise miteinander rummachen? Ich wäre für Letzteres, aber
Brittany sieht nervös aus.
Insbesondere, als Doug seine Badehose aus dem
Whirlpool schmeißt.
Ich verziehe das Gesicht. »War das nötig?«
»Was? Ich möchte eines Tages Kinder haben, Fuentes.
Das Ding hat meine Blutzirkulation abgeschnitten.«
Brittany hüpft aus dem Whirlpool und hüllt sich in
ein Handtuch. »Lass uns nach drinnen gehen, Alex.«
»Ihr könnt hierbleiben«, sagt Sierra. »Ich zwinge
ihn, das Murmelsäckchen wieder anzuzuziehen.«
»Vergiss es. Habt Spaß ihr zwei. Wir gehen rein«,
sagt Brittany.
Als ich aus dem Pool steige, reicht Brittany mir
ein Handtuch.
Ich lege ihr den Arm um die Schulter, während wir
ins Haus gehen. »Alles okay?«
»Auf jeden Fall. Ich dachte, du wärst nicht ganz
glücklich mit der Situation.«
»Mir geht’s gut. Aber …« Ich nehme eine
mundgeblasene Glasfigur in die Hand und studiere sie. »Ich sehe
dieses Haus,
dieses Leben … ich möchte mit dir hier sein, aber ich blicke mich
um und erkenne, dass ich das alles nie sein werde.«
»Du grübelst zu viel.« Sie kniet sich auf den
Teppich und klopft mit der Hand auf den Boden. »Komm her und leg
dich auf den Bauch, ich kann schwedische Massage. Das wird dich
entspannen.«
»Du bist keine Schwedin«, sage ich.
»Und du kein Schwede. Deshalb wird es dir auch
nicht auffallen, wenn ich etwas falsch mache.«
Ich lege mich neben sie. »Ich dachte, wir wollten
diese Beziehung langsam angehen.«
»Eine Rückenmassage ist harmlos.«
Mein Blick wandert über ihren heißen, nur von einem
Bikini bedeckten Körper. »Nur dass du es weißt, ich war schon mit
Mädchen intim, die eine Menge mehr anhatten.«
Sie verpasst mir einen Schlag auf den
Allerwertesten. »Benimm dich gefälligst.«
Als ihre Hände über meinen Rücken zu wandern
beginnen, stöhne ich auf. Das ist Folter, Mann. Ich versuche mich
zu benehmen, aber ihre Hände fühlen sich so verdammt gut an und
mein Körper weiß nur zu genau, was er will.
»Du bist total unentspannt«, flüstert sie in mein
Ohr.
Klar bin ich unentspannt. Ihre Hände berühren mich
überall. Meine Antwort ist ein weiteres Stöhnen.
Nach ein paar Minuten von Brittanys Verstand
raubender Massage dringt lautes Stöhnen, Ächzen und Grunzen vom
Whirlpool in den Raum. Doug und Sierra haben offensichtlich die
Rückenmassage für den heutigen Abend ausfallen lassen.
»Meinst du, sie tun es gerade?«, fragt sie.
»Entweder das oder Doug ist ein sehr religiöser
Mensch«, antworte ich und beziehe mich darauf, dass der Kerl alle
zwei Sekunden »Oh, Gott!« brüllt.
»Macht es dich an?«, summt sie leise in mein
Ohr.
»Nein, aber wenn du mich weiter so massierst,
kannst du den Quatsch, von wegen es langsam angehen lassen,
vergessen.« Ich setze mich auf und sehe sie an. »Ich bin mir immer
noch nicht sicher, ob du weißt, dass du mir die Zähne lang machst
und mich einfach nur verarschst oder ob du tatsächlich so
unschuldig bist, wie du tust.«
»Ich mache dir nicht die Zähne lang.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch und gucke vielsagend
auf meinen Oberschenkel hinunter, wo sie ihre Hand geparkt hat. Sie
zieht sie schnell weg. »Okay, ich hatte nicht vor, meine Hand da
hinzulegen. Ich meine, nicht wirklich. Sie ist einfach … wa … was
ich sagen will, ist …«
»Ich mag es, wenn du stotterst«, sage ich, ziehe
sie neben mich auf den Boden und zeige ihr meine Version einer
schwedischen Massage, bis wir von Sierra und Doug unterbrochen
werden.
Zwei Wochen später erreicht mich die Nachricht,
dass ich einen Termin für die Anhörung wegen der
Waffenbesitzgeschichte habe. Ich weihe Brittany nicht ein, weil es
sie fertigmachen würde. Sie würde mir wahrscheinlich in den Ohren
liegen, dass ein Pflichtverteidiger nicht so gut ist wie ein
eigener Anwalt. Die Sache ist, ich kann mir keinen teuren Anwalt
leisten.
Ich hänge vor der Schule rum und grüble über mein
Schicksal nach, als ich plötzlich von jemandem angerempelt werde
und fast das Gleichgewicht verliere.
»Was zum Teufel?« Ich stoße zurück.
»Sorry«, sagt der Typ nervös.
Da fällt mir auf, dass es sich bei dem Typen um
keinen anderen handelt als um das Bleichgesicht aus der
Arrestzelle.
»Komm her und kämpfe wie ein Mann«, brüllt Sam
hinter ihm her.
Ich mache einen Schritt auf ihn zu, sodass ich
zwischen den beiden stehe. »Sam, was ist dein Problem?«
»Dieser pendejo hat mir den Parkplatz
weggenommen«, sagt Sam und zeigt an mir vorbei auf
Bleichgesicht.
»Na und? Hast du einen anderen Platz
gefunden?«
Sam steht breitbeinig da, bereit, Bleichgesicht
eine Abreibung zu verpassen. So etwas erledigt Sam mit links, kein
Problem.
»Ja, hab ich.«
»Dann lass den Typen in Ruhe. Ich kenn ihn. Er ist
in Ordnung.«
Sam hebt eine Augenbraue. »Du kennst den
Kerl?«
»Pass auf«, sage ich, werfe Bleichgesicht einen
Blick zu und bin froh, dass er ein blaues Hemd trägt und nicht das
himbeerrote Poloshirt. Es sieht immer noch nach Dumpfbackenvillage
aus, aber zumindest gelingt es mir, mit unbewegter Miene zu
verkünden: »Dieser Typ war öfter im Knast als ich. Er sieht
vielleicht wie ein kompletter pendejo aus, aber unter der
Pufffrisur und dem Versager-Hemd steckt ein beinharter Kerl.«
»Du verarschst mich doch, Alex«, sagt Sam.
Ich mache ihm den Weg frei und zucke mit den
Schultern. »Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Bleichgesicht macht einen Schritt auf Sam zu und
versucht tough auszusehen. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um mir
das Lachen zu verkneifen und kreuze die Arme vor der Brust, als
wartete ich darauf, dass der Kampf beginnt. Meine LB-Kumpel warten
ebenso wie ich, sie wollen sehen, ob Sam von einem weißen
Sitzpinkler Prügel bezieht.
Sam blickt von mir zu Bleichgesicht und zurück.
»Wenn du mich verarschst, Alex …«
»Check sein Führungszeugnis. Schwerer Autodiebstahl
ist seine Spezialität.«
Sam denkt über seinen nächsten Schritt nach.
Bleichgesicht wartet nicht so lange, bis er zu einem Ergebnis
gekommen ist. Er kommt mit ausgestreckter Faust auf mich zu. »Wenn
du mal was brauchst, Alex, weißt du, auf wen du zählen
kannst.«
Meine Faust trifft auf die von Bleichgesicht. Eine
Sekunde später ist er verschwunden und ich bin froh, dass niemandem
aufgefallen ist, wie sehr seine Faust vor Angst gezittert
hat.
Ich finde ihn zwischen der ersten und zweiten
Stunde wieder. »War das ernst gemeint? Wenn ich etwas brauche,
hilfst du mir?«
»Nach heute Morgen schulde ich dir mein Leben«,
erwidert Bleichgesicht. »Ich weiß nicht, warum du zu mir gehalten
hast, aber ich hatte eine Scheißangst.«
»Das ist Regel Nummer eins. Lass sie nie sehen,
dass du eine Scheißangst hast.«
Bleichgesicht schnaubt. Ich schätze, das ist sein
Lachen. Entweder das oder er hat eine echt üble Sinusinfektion.
»Ich versuche, das nächste Mal daran zu denken, wenn ein
Gangmitglied mir nach dem Leben trachtet.« Er streckt die Hand aus,
damit ich sie schütteln kann. »Ich bin Gary Frankel.«
Ich packe seine Hand und schüttle sie. »Hör zu,
Gary«, sage ich. »Mein Gerichtstermin ist nächste Woche und ich
würde mich lieber nicht auf meinen Pflichtverteidiger verlassen.
Meinst du, deine Mom könnte da helfen?«
Gary grinst. »Ich denke schon. Sie ist echt gut.
Wenn es dein erstes Vergehen ist, kann sie wahrscheinlich eine
geringe Bewährungsstrafe aushandeln.«
»Ich kann mir …«
»Mach dir keinen Kopf wegen des Honorars, Alex.
Hier ist
ihre Karte. Ich erzähle ihr, dass du ein Freund von mir bist und
sie macht es gratis.«
Während Gary davonschleicht, denke ich darüber
nach, wie schräg es ist, dass die unwahrscheinlichste Person von
allen auf einmal dein Verbündeter wird. Und wie ein blondes Mädchen
einen dazu bringen kann, zu glauben, dass die Zukunft etwas ist,
auf das man sich freuen kann.