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Alex
Brittany ist heute hinter Eselsgesicht aus der
Schule gestürmt. Bevor ich gefahren bin, habe ich sie in ein
vertrauliches Gespräch vertieft am Spielfeldrand stehen sehen. Sie
hat sich offenbar für ihn entschieden, was mich wirklich nicht
überraschen sollte. Als sie mich in Chemie gefragt hat, was sie tun
soll, hätte ich ihr raten sollen, dem pendejo den Laufpass
zu geben. Dann wäre ich jetzt glücklich anstatt angepisst. ¡Es
un carbón de mierda!
Er hat sie nicht verdient. Schon klar, ich sie auch
nicht.
Nach der Schule habe ich im Lagerhaus rumgehangen,
um zu sehen, ob ich etwas über meinen Vater herausfinden kann. Aber
das hat nichts gebracht. Die Typen, die mi papá damals
gekannt haben, wussten nicht viel zu berichten, außer, dass er
ihnen ständig von seinen Söhnen erzählt hat. Die Unterhaltung
endete abrupt, als die Satin Hood das Lagerhaus unter Beschuss
nahmen, ein Zeichen, dass sie auf Rache aus sind und nicht eher
ruhen werden, bis sie ihnen vergönnt ist. Ich habe keine Ahnung, ob
ich dankbar oder besorgt sein sollte, dass das Lagerhaus auf einem
verlassenen Gelände hinter einem stillgelegten Bahnhof liegt.
Niemand weiß, dass wir hier sind. Auch die Bullen nicht.
Das Poff! Poff! Poff! des Gewehrfeuers macht
mir nichts aus. Im Lagerhaus, im Park … da rechne ich damit. Manche
Straßen
sind sicherer als andere, aber was das Lagerhaus angeht, wissen
unsere Gegner, dass sie sich auf unserem heiligen Boden befinden.
Und sie erwarten einen Gegenschlag. Das ist das Gesetz. Ihr
missachtet unser Gebiet, dann missachten wir eures. Dieses Mal ist
niemand verletzt worden, also wird es kein Vergeltungsschlag wegen
Mordes sein. Aber es wird Vergeltung geben. Sie erwarten, dass wir
kommen. Und wir werden sie nicht enttäuschen.
Auf meiner Seite der Stadt sind der Kreislauf des
Lebens und der Kreislauf der Gewalt untrennbar miteinander
verwoben.
Ich warte, bis die Luft rein ist, dann nehme ich
einen Umweg nach Hause und fahre an Brittanys Haus vorbei. Ich kann
nicht anders. Als ich die Bahngleise überquere, hält mich ein
Polizeiwagen an und zwei uniformierte Typen steigen aus.
Anstatt mich darüber aufzuklären, warum sie mich
angehalten haben, befiehlt mir einer der Cops, von meinem Motorrad
zu steigen und fragt mich nach meinem Führerschein.
Ich händige ihm den Lappen aus. »Warum haben Sie
mich angehalten?«
Der Typ, der meinen Führerschein hat, prüft ihn und
sagt dann: »Du kannst deine Fragen stellen, nachdem ich dir meine
gestellt habe. Hast du irgendwelche Drogen in deinem Besitz?«
»Nein, Sir.«
»Irgendwelche Waffen?«, fragt der andere
Polizist.
Ich zögere kurz, bevor ich ihm die Wahrheit sage.
»Ja.«
Ein Cop nimmt seine Pistole aus dem Halfter und
richtet sie auf meine Brust. Der andere weist mich an, die Hände
hoch zu nehmen und befiehlt mir dann, mich auf den Boden zu legen,
während er Verstärkung ruft. Verflucht. Ich stecke knöcheltief in
der Scheiße.
»Welche Art Waffe? Drück dich klarer aus.«
Ich beiße die Zähne zusammen, bevor ich sage: »Eine
Glock,
neun Millimeter.« Glücklicherweise habe ich Wil die Beretta
zurückgegeben, sonst wäre ich doppelt dran gewesen.
Meine Antwort macht den Cop etwas nervös und der
Finger am Abzug beginnt zu zittern. »Wo ist sie?«
»An meinem linken Bein.«
»Beweg dich nicht. Ich werde dich entwaffnen. Wenn
du still liegen bleibst, wird dir nichts passieren.«
Nachdem er mir die Waffe abgenommen hat, zieht der
zweite Cop Plastikhandschuhe an und sagt mit so viel Autorität in
der Stimme, dass sich sogar Mrs P. davon noch etwas abschauen
könnte: »Trägst du Nadeln bei dir?«
»Nein, Sir«, sage ich.
Er kniet sich auf meinen Rücken und legt mir
Handschellen an. »Steh auf«, befiehlt er dann, zerrt mich auf die
Füße und zwingt mich, mich über die Motorhaube zu beugen. Es ist
erniedrigend, wie der Kerl mich abtastet. Verdammt, ich wusste,
dass es mich früher oder später erwischen würde, aber das heißt
noch lange nicht, dass ich bereit für eine Verhaftung bin. Er zeigt
mir meine Waffe. »Du kannst davon ausgehen, dass wir dich deshalb
angehalten haben.«
»Alejandro Fuentes, Sie haben das Recht zu
schweigen«, rasselt einer der beiden Polizisten herunter. »Alles,
was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden
…«
Die Arrestzelle stinkt nach Pisse und
Zigarettenqualm. Oder vielleicht sind es auch die Typen, die das
Pech haben, mit mir in diesem Käfig eingesperrt zu sein, die nach
Pisse und Qualm stinken. So oder so, ich kann es kaum erwarten,
endlich hier rauszukommen.
Wen soll ich anrufen, damit er meine Kaution
bezahlt? Paco hat kein Geld. Enrique hat sein ganzes Geld in die
Werkstatt gesteckt. Meine Mutter wird mich umbringen, wenn sie
herausfindet,
dass ich verhaftet wurde. Ich lehne den Rücken gegen die
Eisenstäbe der Zelle und denke nach, auch wenn das in diesem
miefenden Loch so gut wie unmöglich ist.
Die Polizei nennt es eine Arrestzelle, aber das ist
bloß ein überkandideltes Wort für diesen Käfig. Dios sei
Dank, ist es das erste Mal, dass ich hier bin. Und verflucht noch
mal, ich bete, dass es mein letztes sein wird. ¡Lo
juro!
Der Gedanke verstört mich, denn schließlich bin ich
stets davon ausgegangen, mein Leben für meine Brüder zu opfern.
Also dürfte es auch keine Rolle spielen, ob ich es eingesperrt
verbringe oder nicht. Und plötzlich spielt es doch eine Rolle. Denn
ganz tief in mir drin will ich dieses verkorkste Leben gar nicht.
Ich träume von einer Zukunft, auf die ich stolz sein kann. Ich
möchte, dass meine Mutter stolz auf mich ist, weil aus mir etwas
anderes als ein Gangmitglied geworden ist. Und ich wünsche mir
verzweifelt, dass Brittany mich für einen von den Guten hält.
Ich schlage mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe,
aber die Gedanken lassen sich nicht vertreiben.
»Ich habe dich schon öfter gesehen. Ich gehe auch
auf die Fairfield High«, sagt ein kleiner weißer Typ in meinem
Alter. Der Fruchtzwerg trägt ein himbeerrotes Polohemd und weiße
Hosen, als käme er von einem Seniorengolfturnier.
Bleichgesicht versucht cool auszusehen, aber mit
dem Himbeershirt … Mann, cool auszusehen, als ob das jetzt noch
eine Rolle spielte.
Der Typ könnte sich genauso gut reicher Schnösel
von der Northside auf die Stirn tätowieren lassen.
»Weshalb bist du hier?«, fragt Bleichgesicht, als
wäre es eine ganz normale Frage zwischen zwei ganz normalen Leuten
an einem stinknormalen Tag.
»Tragen einer Waffe.«
»Messer oder Pistole?«
Ich werfe ihm einen wütenden Blick zu. »Spielt das
eine verfickte Rolle?«
»Ich versuche nur, Konversation zu machen«, sagt
Bleichgesicht pikiert.
Sind alle weißen Leute so und reden, nur um ihre
eigene Stimme zu hören? »Weshalb bist du hier?«, frage ich
ihn.
Bleichgesicht seufzt. »Mein Dad hat die Cops
gerufen und ihnen erzählt, dass ich sein Auto gestohlen
hätte.«
Ich rolle mit den Augen. »Dein alter Mann hat dich
in dieses Loch gesteckt? Mit Absicht?«
»Er dachte, er könne mir damit eine Lektion
erteilen.«
»Na klar«, sage ich. »Die Lektion ist, dass dein
alter Mann ein Arschloch ist.« Daddy hätte seinem Sohn mal lieber
beibringen sollen, nicht als modischer Unfall durch die Gegend zu
laufen.
»Meine Mom wird mich hier rausholen.«
»Bist du sicher?«
Bleichgesicht nimmt Haltung an. »Sie ist Anwältin
und mein Dad hat das schon mal gemacht. Ein paar Mal. Ich glaube,
um meiner Mom ans Bein zu pinkeln und ihre Aufmerksamkeit zu
bekommen. Sie sind geschieden.«
Ich schüttle den Kopf. Weiße Leute.
»Es ist wahr«, ereifert sich Bleichgesicht.
»Ich bin sicher, dass es das ist.«
»Fuentes, du kannst jetzt deinen Anruf machen«,
bellt der Cop auf der anderen Seite der Gitterstäbe.
Mierda, bei dem ganzen Geblubber von
Bleichgesicht habe ich immer noch nicht entschieden, wen ich
anrufen soll, damit er meine Kaution zahlt.
Die Erkenntnis trifft mich wie das fette rote D auf
meinem Chemietest. Es gibt nur einen Menschen, der das Geld und ein
Interesse daran hat, mich aus diesem Schlamassel zu – holen
Hector. Der Kopf der Latino Blood.
Ich habe Hector noch nie um einen Gefallen gebeten.
Denn man weiß nie, wann Hector einen bittet, diesen Gefallen zu
erwidern. Und wenn ich Hector etwas schulde, schulde ich ihm mehr
als nur Geld.
Manchmal stellt das Leben einen vor unangenehme
Entscheidungen.
Drei Stunden später, nachdem der Richter mich
endlos zugetextet und meine Kaution festgesetzt hat, holt Hector
mich vom Gerichtsgebäude ab. Er ist ein kräftiger Mann, mit
zurückgegeltem Haar, das dunkler ist als mein eigenes und einer
Haltung, die einem unmissverständlich klarmacht, dass man ihn
besser nicht hintergeht.
Ich habe eine Menge Respekt vor Hector, weil er
derjenige ist, der mich in die Bruderschaft aufgenommen hat. Er ist
in derselben Stadt aufgewachsen wie papá, hat ihn gekannt,
seit sie Kinder waren. Hector hat ein Auge auf mich und meine
Familie, seit mein Vater gestorben ist. Er hat mir Ausdrücke wie
»zweite Generation« und »Vermächtnis« beigebracht. Das werde ich
ihm nie vergessen.
Hector schlägt mir auf den Rücken, als wir zum
Parkplatz gehen. »Du bist an Richter Garrett geraten. Er ist ein
knallharter Hurensohn. Du hast Glück, dass die Kaution nicht höher
war.«
Ich nicke, das Einzige, was ich jetzt will, ist
nach Hause. Als wir das Gerichtsgebäude hinter uns lassen, sage
ich: »Ich werde dir das Geld zurückzahlen, Hector.«
»Mach dir deswegen keinen Kopf, Junge«, erwidert
Hector. »Brüder helfen einander. Um dir die Wahrheit zu sagen, ich
bin überrascht, dass es deine erste Verhaftung war. Deine Weste ist
sauberer als die von jedem anderen Latino Blood.«
Ich starre aus dem Fenster von Hectors Wagen auf
die Straße, die so dunkel und ruhig daliegt wie der
Michigansee.
»Du bist ein schlauer Bursche, schlau genug, um in
der Bruderschaft aufzusteigen«, sagt Hector.
Ich würde für einige in der Bruderschaft sterben,
aber aufsteigen? Drogen und Waffen zu verticken sind nur zwei der
illegalen Dinger, die an der Spitze gedreht werden. Mir gefällt es
da, wo ich bin, auf der gefährlichen Welle reitend ohne sich
tatsächlich kopfüber ins Wasser stürzen zu müssen.
Ich sollte glücklich sein, dass Hector mir mehr
Verantwortung in der Gang übertragen will. Brittany und alles,
wofür sie steht, ist reine Wunschvorstellung.
»Denk darüber nach«, befiehlt mir Hector, als er
vor meinem Haus hält.
»Das werde ich. Danke, dass du mich rausgeholt
hast, Mann«, sage ich.
»Hier, nimm die.« Hector zieht eine Waffe unter
seinem Autositz hervor. »El policía hat deine ja
konfisziert.«
Ich zögere, weil mir die Erinnerung daran durch den
Kopf schießt, wie die Polizei mich gefragt hat, ob ich irgendwelche
Waffen bei mir trüge. Dios mío, es war erniedrigend, den
Lauf einer Waffe am Kopf zu spüren, während sie mir meine Glock
abnahmen. Aber Hectors Waffe abzulehnen würde mir garantiert als
mangelnder Respekt ausgelegt werden und ich würde nie wagen, Hector
den Respekt zu verweigern. Ich nehme die Waffe und stecke sie in
den Hosenbund meiner Jeans.
»Ich habe gehört, du hast Fragen nach deinem
papá gestellt. Mein Rat lautet, es auf sich beruhen zu
lassen, Alex.«
»Das kann ich nicht. Das weißt du.«
»Also schön, wenn du irgendetwas rausfindest, lass
es mich wissen. Ich halte dir den Rücken frei.«
»Ich weiß. Danke, Mann.«
Es ist ruhig im Haus. Ich gehe in mein
Schlafzimmer, wo meine beiden Brüder schon schlafen. Vorsichtig
ziehe ich die oberste Schublade meiner Kommode auf und verstaue die
Waffe unter einem zusätzlich eingezogenen Boden, damit niemand sie
aus Versehen finden kann. Den Trick habe ich von Paco. Ich liege
auf dem Bett und bedecke die Augen mit meinem Unterarm, in der
Hoffnung, in dieser Nacht überhaupt schlafen zu können.
Meine Gedanken wandern zu Brittany. Vor meinem
inneren Auge sehe ich uns im Wohnzimmer sitzen. Brittany, ihre
Lippen auf meinen, ihr süßer Atem, der sich mit meinem vermischt –
das ist das Bild, das bleibt.
Als ich eindöse, ist ihr engelsgleiches Gesicht das
Einzige, das zwischen mir und dem Albtraum meiner Vergangenheit
steht.