34
Alex
Brittany ist heute hinter Eselsgesicht aus der Schule gestürmt. Bevor ich gefahren bin, habe ich sie in ein vertrauliches Gespräch vertieft am Spielfeldrand stehen sehen. Sie hat sich offenbar für ihn entschieden, was mich wirklich nicht überraschen sollte. Als sie mich in Chemie gefragt hat, was sie tun soll, hätte ich ihr raten sollen, dem pendejo den Laufpass zu geben. Dann wäre ich jetzt glücklich anstatt angepisst. ¡Es un carbón de mierda!
Er hat sie nicht verdient. Schon klar, ich sie auch nicht.
Nach der Schule habe ich im Lagerhaus rumgehangen, um zu sehen, ob ich etwas über meinen Vater herausfinden kann. Aber das hat nichts gebracht. Die Typen, die mi papá damals gekannt haben, wussten nicht viel zu berichten, außer, dass er ihnen ständig von seinen Söhnen erzählt hat. Die Unterhaltung endete abrupt, als die Satin Hood das Lagerhaus unter Beschuss nahmen, ein Zeichen, dass sie auf Rache aus sind und nicht eher ruhen werden, bis sie ihnen vergönnt ist. Ich habe keine Ahnung, ob ich dankbar oder besorgt sein sollte, dass das Lagerhaus auf einem verlassenen Gelände hinter einem stillgelegten Bahnhof liegt. Niemand weiß, dass wir hier sind. Auch die Bullen nicht.
Das Poff! Poff! Poff! des Gewehrfeuers macht mir nichts aus. Im Lagerhaus, im Park … da rechne ich damit. Manche Straßen sind sicherer als andere, aber was das Lagerhaus angeht, wissen unsere Gegner, dass sie sich auf unserem heiligen Boden befinden. Und sie erwarten einen Gegenschlag. Das ist das Gesetz. Ihr missachtet unser Gebiet, dann missachten wir eures. Dieses Mal ist niemand verletzt worden, also wird es kein Vergeltungsschlag wegen Mordes sein. Aber es wird Vergeltung geben. Sie erwarten, dass wir kommen. Und wir werden sie nicht enttäuschen.
Auf meiner Seite der Stadt sind der Kreislauf des Lebens und der Kreislauf der Gewalt untrennbar miteinander verwoben.
Ich warte, bis die Luft rein ist, dann nehme ich einen Umweg nach Hause und fahre an Brittanys Haus vorbei. Ich kann nicht anders. Als ich die Bahngleise überquere, hält mich ein Polizeiwagen an und zwei uniformierte Typen steigen aus.
Anstatt mich darüber aufzuklären, warum sie mich angehalten haben, befiehlt mir einer der Cops, von meinem Motorrad zu steigen und fragt mich nach meinem Führerschein.
Ich händige ihm den Lappen aus. »Warum haben Sie mich angehalten?«
Der Typ, der meinen Führerschein hat, prüft ihn und sagt dann: »Du kannst deine Fragen stellen, nachdem ich dir meine gestellt habe. Hast du irgendwelche Drogen in deinem Besitz?«
»Nein, Sir.«
»Irgendwelche Waffen?«, fragt der andere Polizist.
Ich zögere kurz, bevor ich ihm die Wahrheit sage. »Ja.«
Ein Cop nimmt seine Pistole aus dem Halfter und richtet sie auf meine Brust. Der andere weist mich an, die Hände hoch zu nehmen und befiehlt mir dann, mich auf den Boden zu legen, während er Verstärkung ruft. Verflucht. Ich stecke knöcheltief in der Scheiße.
»Welche Art Waffe? Drück dich klarer aus.«
Ich beiße die Zähne zusammen, bevor ich sage: »Eine Glock, neun Millimeter.« Glücklicherweise habe ich Wil die Beretta zurückgegeben, sonst wäre ich doppelt dran gewesen.
Meine Antwort macht den Cop etwas nervös und der Finger am Abzug beginnt zu zittern. »Wo ist sie?«
»An meinem linken Bein.«
»Beweg dich nicht. Ich werde dich entwaffnen. Wenn du still liegen bleibst, wird dir nichts passieren.«
Nachdem er mir die Waffe abgenommen hat, zieht der zweite Cop Plastikhandschuhe an und sagt mit so viel Autorität in der Stimme, dass sich sogar Mrs P. davon noch etwas abschauen könnte: »Trägst du Nadeln bei dir?«
»Nein, Sir«, sage ich.
Er kniet sich auf meinen Rücken und legt mir Handschellen an. »Steh auf«, befiehlt er dann, zerrt mich auf die Füße und zwingt mich, mich über die Motorhaube zu beugen. Es ist erniedrigend, wie der Kerl mich abtastet. Verdammt, ich wusste, dass es mich früher oder später erwischen würde, aber das heißt noch lange nicht, dass ich bereit für eine Verhaftung bin. Er zeigt mir meine Waffe. »Du kannst davon ausgehen, dass wir dich deshalb angehalten haben.«
»Alejandro Fuentes, Sie haben das Recht zu schweigen«, rasselt einer der beiden Polizisten herunter. »Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden …«
 
Die Arrestzelle stinkt nach Pisse und Zigarettenqualm. Oder vielleicht sind es auch die Typen, die das Pech haben, mit mir in diesem Käfig eingesperrt zu sein, die nach Pisse und Qualm stinken. So oder so, ich kann es kaum erwarten, endlich hier rauszukommen.
Wen soll ich anrufen, damit er meine Kaution bezahlt? Paco hat kein Geld. Enrique hat sein ganzes Geld in die Werkstatt gesteckt. Meine Mutter wird mich umbringen, wenn sie herausfindet, dass ich verhaftet wurde. Ich lehne den Rücken gegen die Eisenstäbe der Zelle und denke nach, auch wenn das in diesem miefenden Loch so gut wie unmöglich ist.
Die Polizei nennt es eine Arrestzelle, aber das ist bloß ein überkandideltes Wort für diesen Käfig. Dios sei Dank, ist es das erste Mal, dass ich hier bin. Und verflucht noch mal, ich bete, dass es mein letztes sein wird. ¡Lo juro!
Der Gedanke verstört mich, denn schließlich bin ich stets davon ausgegangen, mein Leben für meine Brüder zu opfern. Also dürfte es auch keine Rolle spielen, ob ich es eingesperrt verbringe oder nicht. Und plötzlich spielt es doch eine Rolle. Denn ganz tief in mir drin will ich dieses verkorkste Leben gar nicht. Ich träume von einer Zukunft, auf die ich stolz sein kann. Ich möchte, dass meine Mutter stolz auf mich ist, weil aus mir etwas anderes als ein Gangmitglied geworden ist. Und ich wünsche mir verzweifelt, dass Brittany mich für einen von den Guten hält.
Ich schlage mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe, aber die Gedanken lassen sich nicht vertreiben.
»Ich habe dich schon öfter gesehen. Ich gehe auch auf die Fairfield High«, sagt ein kleiner weißer Typ in meinem Alter. Der Fruchtzwerg trägt ein himbeerrotes Polohemd und weiße Hosen, als käme er von einem Seniorengolfturnier.
Bleichgesicht versucht cool auszusehen, aber mit dem Himbeershirt … Mann, cool auszusehen, als ob das jetzt noch eine Rolle spielte.
Der Typ könnte sich genauso gut reicher Schnösel von der Northside auf die Stirn tätowieren lassen.
»Weshalb bist du hier?«, fragt Bleichgesicht, als wäre es eine ganz normale Frage zwischen zwei ganz normalen Leuten an einem stinknormalen Tag.
»Tragen einer Waffe.«
»Messer oder Pistole?«
Ich werfe ihm einen wütenden Blick zu. »Spielt das eine verfickte Rolle?«
»Ich versuche nur, Konversation zu machen«, sagt Bleichgesicht pikiert.
Sind alle weißen Leute so und reden, nur um ihre eigene Stimme zu hören? »Weshalb bist du hier?«, frage ich ihn.
Bleichgesicht seufzt. »Mein Dad hat die Cops gerufen und ihnen erzählt, dass ich sein Auto gestohlen hätte.«
Ich rolle mit den Augen. »Dein alter Mann hat dich in dieses Loch gesteckt? Mit Absicht?«
»Er dachte, er könne mir damit eine Lektion erteilen.«
»Na klar«, sage ich. »Die Lektion ist, dass dein alter Mann ein Arschloch ist.« Daddy hätte seinem Sohn mal lieber beibringen sollen, nicht als modischer Unfall durch die Gegend zu laufen.
»Meine Mom wird mich hier rausholen.«
»Bist du sicher?«
Bleichgesicht nimmt Haltung an. »Sie ist Anwältin und mein Dad hat das schon mal gemacht. Ein paar Mal. Ich glaube, um meiner Mom ans Bein zu pinkeln und ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie sind geschieden.«
Ich schüttle den Kopf. Weiße Leute.
»Es ist wahr«, ereifert sich Bleichgesicht.
»Ich bin sicher, dass es das ist.«
»Fuentes, du kannst jetzt deinen Anruf machen«, bellt der Cop auf der anderen Seite der Gitterstäbe.
Mierda, bei dem ganzen Geblubber von Bleichgesicht habe ich immer noch nicht entschieden, wen ich anrufen soll, damit er meine Kaution zahlt.
Die Erkenntnis trifft mich wie das fette rote D auf meinem Chemietest. Es gibt nur einen Menschen, der das Geld und ein Interesse daran hat, mich aus diesem Schlamassel zu – holen Hector. Der Kopf der Latino Blood.
Ich habe Hector noch nie um einen Gefallen gebeten. Denn man weiß nie, wann Hector einen bittet, diesen Gefallen zu erwidern. Und wenn ich Hector etwas schulde, schulde ich ihm mehr als nur Geld.
Manchmal stellt das Leben einen vor unangenehme Entscheidungen.
Drei Stunden später, nachdem der Richter mich endlos zugetextet und meine Kaution festgesetzt hat, holt Hector mich vom Gerichtsgebäude ab. Er ist ein kräftiger Mann, mit zurückgegeltem Haar, das dunkler ist als mein eigenes und einer Haltung, die einem unmissverständlich klarmacht, dass man ihn besser nicht hintergeht.
Ich habe eine Menge Respekt vor Hector, weil er derjenige ist, der mich in die Bruderschaft aufgenommen hat. Er ist in derselben Stadt aufgewachsen wie papá, hat ihn gekannt, seit sie Kinder waren. Hector hat ein Auge auf mich und meine Familie, seit mein Vater gestorben ist. Er hat mir Ausdrücke wie »zweite Generation« und »Vermächtnis« beigebracht. Das werde ich ihm nie vergessen.
Hector schlägt mir auf den Rücken, als wir zum Parkplatz gehen. »Du bist an Richter Garrett geraten. Er ist ein knallharter Hurensohn. Du hast Glück, dass die Kaution nicht höher war.«
Ich nicke, das Einzige, was ich jetzt will, ist nach Hause. Als wir das Gerichtsgebäude hinter uns lassen, sage ich: »Ich werde dir das Geld zurückzahlen, Hector.«
»Mach dir deswegen keinen Kopf, Junge«, erwidert Hector. »Brüder helfen einander. Um dir die Wahrheit zu sagen, ich bin überrascht, dass es deine erste Verhaftung war. Deine Weste ist sauberer als die von jedem anderen Latino Blood.«
Ich starre aus dem Fenster von Hectors Wagen auf die Straße, die so dunkel und ruhig daliegt wie der Michigansee.
»Du bist ein schlauer Bursche, schlau genug, um in der Bruderschaft aufzusteigen«, sagt Hector.
Ich würde für einige in der Bruderschaft sterben, aber aufsteigen? Drogen und Waffen zu verticken sind nur zwei der illegalen Dinger, die an der Spitze gedreht werden. Mir gefällt es da, wo ich bin, auf der gefährlichen Welle reitend ohne sich tatsächlich kopfüber ins Wasser stürzen zu müssen.
Ich sollte glücklich sein, dass Hector mir mehr Verantwortung in der Gang übertragen will. Brittany und alles, wofür sie steht, ist reine Wunschvorstellung.
»Denk darüber nach«, befiehlt mir Hector, als er vor meinem Haus hält.
»Das werde ich. Danke, dass du mich rausgeholt hast, Mann«, sage ich.
»Hier, nimm die.« Hector zieht eine Waffe unter seinem Autositz hervor. »El policía hat deine ja konfisziert.«
Ich zögere, weil mir die Erinnerung daran durch den Kopf schießt, wie die Polizei mich gefragt hat, ob ich irgendwelche Waffen bei mir trüge. Dios mío, es war erniedrigend, den Lauf einer Waffe am Kopf zu spüren, während sie mir meine Glock abnahmen. Aber Hectors Waffe abzulehnen würde mir garantiert als mangelnder Respekt ausgelegt werden und ich würde nie wagen, Hector den Respekt zu verweigern. Ich nehme die Waffe und stecke sie in den Hosenbund meiner Jeans.
»Ich habe gehört, du hast Fragen nach deinem papá gestellt. Mein Rat lautet, es auf sich beruhen zu lassen, Alex.«
»Das kann ich nicht. Das weißt du.«
»Also schön, wenn du irgendetwas rausfindest, lass es mich wissen. Ich halte dir den Rücken frei.«
»Ich weiß. Danke, Mann.«
Es ist ruhig im Haus. Ich gehe in mein Schlafzimmer, wo meine beiden Brüder schon schlafen. Vorsichtig ziehe ich die oberste Schublade meiner Kommode auf und verstaue die Waffe unter einem zusätzlich eingezogenen Boden, damit niemand sie aus Versehen finden kann. Den Trick habe ich von Paco. Ich liege auf dem Bett und bedecke die Augen mit meinem Unterarm, in der Hoffnung, in dieser Nacht überhaupt schlafen zu können.
Meine Gedanken wandern zu Brittany. Vor meinem inneren Auge sehe ich uns im Wohnzimmer sitzen. Brittany, ihre Lippen auf meinen, ihr süßer Atem, der sich mit meinem vermischt – das ist das Bild, das bleibt.
Als ich eindöse, ist ihr engelsgleiches Gesicht das Einzige, das zwischen mir und dem Albtraum meiner Vergangenheit steht.
Du oder das ganze Leben
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